Grundlagen
Der gutartige paroxysmale Lagerungsschwindel (BPPV) ist die häufigste Schwindelerkrankung
überhaupt (Lebenszeitprävalenz ca. 3 %) [1], wird aber trotzdem oft nicht richtig diagnostiziert. Entsprechend macht der BPPV
in Spezialambulanzen bis zu 25 % aller Diagnosen aus [2].
Ursächlich ist eine rein mechanische Irritation des betroffenen Bogengangs, welche
alle klinischen Merkmale des BPPV erklärt: Frei bewegliche Otokonien-Partikel, die
fälschlicherweise in den Endolymphschlauch des betroffenen Bogengangs geraten sind,
führen dort bei Lagewechsel zu einer unphysiologischen, die Kopfbewegung überdauernden
Endolymphströmung und Reizung des vestibulären Sinnesepithels. Dadurch werden Drehsensationen
und ein Nystagmus in der Ebene des betroffenen Bogengangs erzeugt (Kanalolithiasishypothese)
[3]. Unterschieden werden eine idiopathische/degenerative (> 95 % der Fälle, Maximum
in der 6.–7. Lebensdekade) und eine symptomatische Form z. B. nach Schädelhirntrauma
oder akuter unilateraler Vestibulopathie. Ein BPPV kann einseitig, aber auch beidseitig
vorliegen (5 – 10 %) [4].
Der hintere (vertikale) Bogengang ist mit Abstand am häufigsten betroffen (mind. 85 %),
davon der rechte etwa doppelt so häufig wie der linke, vermutlich weil Menschen bevorzugt
auf der rechten Seite schlafen. Die diagnostischen Provokations- und therapeutischen
Befreiungsmanöver für den Lagerungsschwindel des rechten hinteren Bogengangs werden
hier Schritt für Schritt dargestellt. Für einen BPPV des linken hinteren Bogengangs
sind die Manöver einfach spiegelbildlich nach links beginnend durchzuführen. Bereits
wenige Manöver führen in der Regel zu Attackenfreiheit [4].
Schritt 1 Anamnese
Die Anamnese zielt darauf ab, die Leitsymptome des gutartigen Lagerungsschwindels
herauszuarbeiten: Rezidivierende, durch Kopflagerungsänderungen gegenüber der Schwerkraft
ausgelöste, nur Sekunden dauernde Drehschwindelattacken, mit oder ohne Übelkeit und
Oszillopsien (Scheinbewegungen der Umwelt). Typische Auslöser sind: Hinlegen, Aufrichten
oder Umdrehen im Bett und Kopfreklination beim Hochschauen oder Arbeiten über Kopf.
Die Beschwerden sind häufig so typisch, dass die Diagnose und oft sogar die betroffene
Seite bereits allein aufgrund der Anamnese vermutet werden können.
Schritt 2 Diagnosestellung durch Provokationsmanöver
Abb. 1 Provokationsmanöver bei BPPV des rechten hinteren Bogengangs. Patient sitzt aufrecht
in der Mitte einer Untersuchungsliege. a Kopf um 45° nach links zur nicht-betroffenen Seite drehen (Kinn zeigt zur linken
Schulter) b Körper zur rechten Seite ablegen, das Kinn zeigt weiterhin zur linken Schulter (Nase
nach oben). Auf typischen Nystagmus vorzugsweise unter einer Frenzelbrille (unterdrückt
Fixation) achten.
Die Diagnose eines BPPV des hinteren Bogengangs kann zuverlässig durch Auslösung des
typischen Lagerungsnystagmus im modifizierten Provokationsmanöver nach Dix und Hallpike
[5] gestellt werden:
-
Torsional-vertikale Schlagrichtung: Der Nystagmus schlägt auf der betroffenen Seite
kombiniert linear (zur Stirn und zum untenliegenden Ohr) und rotatorisch entsprechend
der Arbeitsebene des hinteren vertikalen Bogengangs.
-
Latenz: Schwindel und Nystagmus setzen mit einer Latenz von einigen Sekunden nach
Einnahme der provozierenden Kopfposition ein.
-
Crescendo-Decrescendo Verlauf: Die Nystagmusintensität nimmt rasch zu und dann langsam
wieder ab.
-
Dauer: Der Nystagmus dauert üblicherweise wenige Sekunden (< 2 Minuten).
-
Nystagmusumkehr: Nachdem sich der Patient wieder aufgerichtet hat, kann ein schwächerer
transienter Nystagmus in die entgegengesetzte Richtung auftreten.
-
Ermüdbarkeit: Die Intensität des Nystagmus nimmt mit wiederholter Lagerung ab. Nach
einer längeren Ruhepause ist er erneut auslösbar.
Zur sicheren Identifikation des betroffenen Ohres sollte das Manöver immer für beide
Seiten durchgeführt werden.
Ist kein typischer Lagerungsnystagmus nachweisbar, muss differentialdiagnostisch bevorzugt
an den selteneren BPPV des horizontalen Bogengangs (10 %, linear horizontaler Nystagmus)
oder zentrale Nystagmusformen gedacht werden.
Schritt 3 Repositionsmanöver = Befreiungsmanöver
Durch rasche Kopflagerungen können die Konglomerate aus dem Bogengang mechanisch herausgespült
werden. Vorgestellt werden das modifizierte Befreiungsmanöver nach Sémont ([Video 1] und [Video 2]) [6] und das von Epley entwickelte Repositionsmanöver [7], welche in Metaanalysen eine etwa gleich hohe Erfolgsrate von deutlich > 90 % aufweisen.
Bereits ein einmaliges Befreiungsmanöver ist in 40 – 60 % der Fälle erfolgreich [4]. Die Patienten sollten die Manöver mehrmals täglich, jeweils 3mal hintereinander
durchführen, insbesondere morgens direkt nach dem Aufwachen.
Abb. 2 Sémont Manöver bei BPPV des rechten hinteren Bogengangs. Patient sitzt aufrecht in
der Mitte einer Untersuchungsliege. Tritt während des Manövers Schwindel auf, sollte
diese Position eingehalten werden, bis der Schwindel abgeklungen ist (ca. 2 min).
a Kopf um 45° nach links zur nicht-betroffenen Seite drehen (Kinn zeigt zur linken
Schulter). b Körper zur rechten Seite legen, das Kinn zeigt weiterhin zur linken Schulter (Nase
nach oben). c Körper in einem Schwung zur linken Seite bewegen („großer Wurf um 180°) ohne dabei
in der Mitte zu stoppen. Das Kinn zeigt ununterbrochen zur linken Schulter (Nase zur
Liege nach unten). d Langsam wieder in die Sitzposition aufrichten und 3 Minuten sitzen bleiben.
Video 1 Sémont-Manöver bei BBPV des linken hinteren Bogengangs
Video 2 Sémont-Manöver bei BBPV des rechten hinteren Bogengangs
Ein Lagerungsnystagmus zum oben liegenden Ohr nach dem großen Wurf (Position c in [Abb. 2]) zeigt an, dass das Konglomerat den Bogengang verlässt, d. h. die Therapie erfolgreich
war. Ein Nystagmus zum unten liegenden Ohr zeigt an, dass es nicht erfolgreich war
und wiederholt werden muss.
Die häufigste Ursache für die ausbleibende Wirkung der Befreiungsmanöver ist deren
inkorrekte Durchführung (z. B. falsche Kopfposition). Sie sollten sich in diesem Fall
die Übungen unbedingt vom Patienten demonstrieren lassen.
Sollte das Sémont-Manöver trotz korrekter Durchführung nicht effektiv sein, kann alternativ
das Epley-Manöver durchgeführt werden. Dieses eignet sich auch für immobilere oder
adipöse Patienten, die das Sémont Manöver nicht adäquat (z. B. nur langsam) durchführen
können.
Abb. 3 Epley-Manöver bei BPPV des rechten hinteren Bogengangs. Patient sitzt im Langsitz
auf einer Untersuchungsliege. a Den Kopf um 45° zum betroffenen rechten Ohr drehen. b Kopf und Oberkörper rückwärts in leichte Kopfhängeposition kippen, ca. 1 Minute in
dieser Position bleiben. c Kopf nun um 90° zum nicht betroffenen Ohr, d. h. nach links drehen. d Kopf und Oberkörper in gleicher Richtung weitere 90° nach links drehen, erneut 1
Minute in dieser Position bleiben. e Langsam wieder in die Sitzposition aufrichten.
Ein Lagerungsnystagmus zum betroffenen, oben liegenden Ohr während der Schritte c und d ([Abb. 3]) zeigt an, dass die Therapie erfolgreich war.
Sollten starke vegetative Begleitsymptome zu erwarten sein, kann eine Prämedikation
mit Antivertiginosa z. B. Dimenhydrinat ca. 30 Minuten vor Beginn der Übungen erfolgen.
Die Übungen können ärztlich bzw. physiotherapeutisch angeleitet oder auch in Selbstbehandlung
durchgeführt werden. Wenn sich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen kein Schwindel mehr
auslösen lässt, können sie beendet werden (präventives Üben ist nicht sinnvoll!).
Bei erfolgreich behandelten Patienten kann für wenige Tage ein Schwank- oder Benommenheitsschwindel
mit Gangunsicherheit auftreten, der auf die partielle Reposition der Otokonien zum
Utrikulus zurückzuführen ist. Hierüber ist der Patient am besten im Vorfeld aufzuklären.
Rezidive sind insbesondere im ersten Jahr häufig, im Mittel über 10 Jahre liegt die
Rezidivrate bei ca. 50 % [8], aber auch diese sind durch erneute Lagerungsmanöver wieder erfolgreich zu behandeln.