Einleitung
Die Gründe für die Zunahme der Krisen- und Notfallsituationen sind vielfältig (z. B.
NSSV, s. Infobox). Sie führten in vielen Kliniken zu Anpassungen der Strukturen: Spezialisierte,
sektorenübergreifende Behandlungseinheiten mit einem multiprofessionellen Team wurden
geschaffen. Diese Einheiten bilden oft die „Eintrittspforte“ für kinder- und jugendpsychiatrische
und -psychotherapeutische Behandlung.
Strukturelle Veränderungen der Praxen und Kliniken genügen jedoch nicht, konzeptionell-inhaltliche
Antworten sind dringend nötig.
Nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV) [2], [3], [4]
NSSV wird als direkte, repetitive, sozial nicht akzeptierte Schädigung von Körpergewebe
ohne suizidale Absicht definiert. Es wird zumeist als dysfunktionale Coping-Strategie
zur Emotionsregulation angewandt. Zu den wesentlichen Risikofaktoren für NSSV zählen
u. a. Mobbingsituationen, begleitende psychiatrische Erkrankungen sowie Missbrauch
und Vernachlässigung in der Kindheit. Deutschland gehört mit 25–35 % Lebenszeitprävalenz
von zumindest einmaligem nicht suizidalen selbstverletzenden Verhalten unter Jugendlichen
innerhalb Europas zu den Ländern mit den höchsten Prävalenzraten.
Allgemeine Prinzipien von Kriseninterventionen
Allgemeine Prinzipien von Kriseninterventionen
Kinder und Jugendliche kommen in Notsituationen meist vor dem Hintergrund komplizierter
Biografien, mit schwierigen Beziehungserfahrungen und Problemen in mehreren Lebensbereichen
und somit komplexen, meist chronifizierten Fragestellungen.
Idealerweise intervenieren professionell Helfende in Krisensituationen so früh wie
möglich, konzentrieren sich mit zeitlicher Begrenzung auf die aktuelle Problemlage
und nehmen eine aktive therapeutische Haltung ein. Sie agieren interdisziplinär und
beziehen das soziale Umfeld, insbesondere die Familie und Schule, mit ein. Je nach
Risikolevel kann die therapeutische Begleitung ambulant, tagesklinisch, stationär
oder gar aufsuchend im Lebensraum erfolgen.
Konkrete Schritte bei Notfallvorstellungen
Konkrete Schritte bei Notfallvorstellungen
Nach ausführlicher kinder- und jugendpsychiatrischer Anamnese erfolgt die Risikoeinschätzung
anhand von standardisierten Algorithmen, mit Hilfe von Checklisten und/oder Fragebögen.
Beispielhaft sei hier die Columbia-Suicide Severity Rating Scale (C-SSRS) genannt
[5], die für Jugendliche auch prädiktive Aussagekraft für weitere Suizidversuche hat.
Ergänzend ist das gestufte Vorgehen des US-amerikanischen Gesundheitsdienstes „SAFE-T“
[6] hilfreich, das
-
Risikofaktoren und
-
protektive Faktoren identifiziert,
-
die Suizidalität (Gedanken, Pläne, Verhalten, Absicht) exploriert,
-
das Risikolevel festlegt, eine Auswahl an angemessenen Interventionen trifft und
-
das Vorgehen einschließlich Follow-up dokumentiert.
Mit diesem Vorgehen wird eingeschätzt, welche Risikofaktoren sich verringern und positiv
beeinflussen lassen und welche protektiven Faktoren gestärkt und eingesetzt werden
können, um die Krisensituation in einem möglichst kurzen Zeitraum zu beenden [7], [8].
Strategien und Prinzipien der DBT-A
Strategien und Prinzipien der DBT-A
Marsha Linehan entwickelte in den 1980er Jahren die dialektisch-behaviorale Therapie
(DBT) für und mit Frauen in häufigen Krisen, die sich selbst verletzten und/oder chronisch
suizidal waren [9]. Die dialektisch-behaviorale Therapie für Adoleszente (DBT-A) stellt mit ihren zusätzlichen
familiären und systemischen Interventionen eine ideale Basis für Kriseninterventionseinheiten
dar [10], [11].
Die DBT-A bietet ein breites Spektrum an Fertigkeiten (Skills) für Kinder und Jugendliche
in Krisen und für ihre Bezugspersonen („family skills“) [12], aber auch für TherapeutInnen und HelferInnen sowie für ein multiprofessionelles
Behandlungsteam.
Grundhaltung, akzeptanz- und veränderungsorientierte Strategien der DBT-A fördern
die einzelnen Bausteine bei Kriseninterventionen. Sie unterstützen [13]:
-
raschen Aufbau einer tragfähigen und vertrauensvollen Beziehung
-
Motivation der Jugendlichen und Kinder zur Mitarbeit
-
Intensivierung sozialer Unterstützung im Lebensraum
-
emotionale Stabilisierung
-
Selbstkontrolle
-
Bearbeitung aktueller Probleme und Veränderungen im Lebensumfeld
DBT-A vermittelt dem Team eine gemeinsame Grundhaltung und Sprache, deeskalierende
Techniken für Notfallsituationen und Wege zur eigenen Psychohygiene und Selbstfürsorge.
Dies ist besonders wichtig, da TherapeutInnen, die Kinder und Jugendliche in und durch
Krisen begleiten, zeitlich und emotional stark belastet sind und sehr flexibel sein
müssen. Erlernte Selbstvalidierung führt bei den Behandlern zu einer Selbstberuhigung, zu mehr Selbstreflexion, Selbstfürsorge
und Achtsamkeit gegenüber eigenen körperlichen und emotionalen Reaktionen. Geschulte
Fachkräfte agieren weniger bewertend und somit gelassener und stresstoleranter in
herausfordernden und unklaren Krisensituationen.
Die Grundannahmen der DBT-A (s. Infobox) unterstützen eine optimistische, respektvolle,
aktive und ressourcenorientierte Beziehung „auf Augenhöhe“. TherapeutInnen verstehen
sich als Coaches, fördern Zugehörigkeit und Zusammenarbeit und ein „gemeinsam gegen
die Krise“. Sie sind ein authentisches Gegenüber, beobachten und kommunizieren eigene
Emotionen und Grenzen. Sie balancieren zwischen Akzeptanz und Drängen auf Veränderung,
zwischen stützender und fordernder Haltung [14]. Sie erarbeiten und fördern Ambivalenzen: „Der/die TherapeutIn hat die schwierige
Aufgabe, den Hoffnungsschimmer am Horizont zu erkennen, ohne zu leugnen, dass am Himmel
schwarze Wolken zu sehen sind“ [9].
Grundannahmen nach DBT-A [10]
-
Alle TeilnehmerInnen geben sich wirklich Mühe.
-
Die TeilnehmerInnen wollen sich verändern.
-
Die TeilnehmerInnen müssen stärker motiviert sein und sich mehr anstrengen, um sich
zu verändern.
-
Die TeilnehmerInnen haben ihre Schwierigkeiten nicht alle selbst verursacht, müssen
sie aber selbst lösen.
-
Das Leben der TeilnehmerInnen ist in dieser Form belastend und schwer auszuhalten.
-
Die TeilnehmerInnen müssen in allen wichtigen Lebensbereichen neue Verhaltensweisen
lernen.
-
Die TeilnehmerInnen können in der Therapie nicht „versagen“.
-
Es gibt keine absolute Wahrheit, Wahrheit ist „Ansichtssache“.
Eine achtsame, ungeteilt aufmerksame, interessierte („du bist die wichtigste Person in diesem Moment“)
Haltung ermöglicht es dem Kind oder Jugendlichen, sich zu öffnen und über schwierige Themen,
Misserfolge und Gedanken zu berichten. Kinder und Jugendliche wissen intuitiv, dass
suizidale Gedanken, Pläne oder gar Handlungen einem Tabu unterliegen. Sie befürchten
emotionale Reaktionen Erwachsener („Wie kannst du uns das antun“) und Unverständnis
(„Du hast dein Leben doch noch vor dir“). Erst auf konkrete Fragen berichten sie offen
darüber, fühlen sich mit ihren Nöten angenommen und erleben Entlastung und Distanzierung.
Eine dialektische Haltung ermöglicht es dem/der TherapeutIn, die Kinder und Jugendlichen in ihrem aktuellen
Leiden zu sehen und diesem standzuhalten. Sie begleiten sie und vermitteln ihnen gleichzeitig,
dass sie die Ressourcen haben, um die Krise mit Unterstützung zu meistern („Cheerleading
in die Zukunft“).
DBT-A-TherapeutInnen sind ganz auf den Moment fokussiert, gleichzeitig erwägen sie
sinnvolle Interventionen. Sie sind ganz beim Kind oder Jugendlichen und beobachten
aufmerksam ihre eigenen Grenzen und Möglichkeiten („Das ist zeitlich nicht zu schaffen
und daher muss am nächsten Tag weitergearbeitet werden“). Sie wechseln zwischen einer
warmherzigen, empathischen, zugewandten und einer herausfordernden, humorvollen Sprache,
um das Kind oder den Jugendlichen zu einem aktiven Coping zu führen.
Im stationären Rahmen muss der Behandlungsraum zum einen entlasten, schützen, beruhigen,
zum anderen aktivieren, fordern und bestärken. Prognostisch bedeutsam ist es, auch
nach Bewältigung der akuten Krise durch Telefonate, nachstationäre und ambulante Kontakte
die Beziehung aufrechtzuerhalten.
Motivation zur Mitarbeit
Die Validierungsstrategien der DBT-A zielen darauf ab, den Kindern/Jugendlichen und ihren Familien in der Krisensituation
zu vermitteln, dass ihre subjektive Sicht und die dazugehörigen Gedanken und Gefühle
stimmig und nachvollziehbar sind („Ich kann verstehen, wenn du enttäuscht und sauer
auf deine Eltern bist, weil sie dir nicht gesagt haben, dass sie dich heute in der
Klinik vorstellen“). Gelungene Validierungen verbessern die therapeutische Beziehung
und führen dazu, dass sich die körperliche Anspannung und die Stärke der Gefühle reduzieren
und alle Beteiligten besser über sich und die aktuellen Probleme nachdenken können.
Kinder und Jugendliche sind dann oftmals selbst in der Lage und motiviert, eine Lösung
zu finden oder aktiv an einer Lösung mitzuwirken.
Commitment-Strategien sind:
-
Abwägen kurz- und langfristiger Vor- und Nachteile
-
Advocatus Diaboli
-
Fuß-in-der-Tür/Tür-im-Gesicht
-
Erinnern an frühere Zustimmungen
-
Betonen der freien Wahlmöglichkeit
-
Cheerleading
Validierungs- und Commitment-Strategien motivieren nicht nur dazu, neue Krisenbewältigungsfertigkeiten
zu erlernen, sondern schaffen Akzeptanz für notwendige diagnostische Maßnahmen und
therapeutische Schritte. Werden diese angewandt, fühlen sich Kinder und Jugendliche
in Entscheidungsprozessen beteiligt. Sie lernen längerfristige Auswirkungen in ihr
Handeln einzubeziehen und erleben sich in ihrer Autonomie respektiert.
Intensivierung sozialer Unterstützung im Lebensraum
Intensivierung sozialer Unterstützung im Lebensraum
Häufig löst im Jugendalter das Erleben von Ausgrenzung, das Gefühl von Anderssein
oder Nichtdazugehören in einer konkreten Situation mit Peers die Krise aus. Jugendliche
leiden oftmals unter abwertenden, grenzverletzenden oder dependenten Beziehungsstrukturen,
die schwere Kränkungen und Selbstwertkrisen zur Folge haben. Daher ist die Analyse
der Kontakte und Beziehungen sowie das Bearbeiten von akuten Konflikten ein zentraler
Baustein der Krisenintervention („soziales Netz“ und SOZIAL-Skill“ [10]).
Bezugspersonen sind zentrale Ansprechpartner für Kinder und Jugendliche. Sie können
nur unterstützen, wenn diese Beziehung tragfähig und nicht durch Auseinandersetzungen
belastet ist.
Emotionale Stabilisierung
Emotionale Stabilisierung
Zu Krisen gehören heftige, unangenehme Gefühle. Erste basale Skills können während
der Krisenintervention erlernt und eingeübt werden. Kinder und Jugendliche reduzieren
ihre Anfälligkeit für unangenehme Emotionen, indem sie täglich Aktivitäten planen
und durchführen, die angenehme Gefühle hervorrufen: Sie können auf eine regelmäßige,
ausgewogene Ernährung und Trinkmenge achten, sich jeden Tag ausreichend bewegen, Medikamente
nach ärztlicher Anordnung einnehmen, körperliche Erkrankungen behandeln lassen und
Alkohol und Drogen vermeiden (ABC GESUND: Schone deine Seele, indem du deinen Körper
schonst! [10]).
Ein besonderes Augenmerk ist auf Ein- und Durchschlafprobleme oder Albträume zu richten,
da Auffälligkeiten in diesem Bereich das Suizidrisiko erhöhen. Eine vorübergehende
Medikation, Regeln zur Schlafhygiene, ein Ritual vor dem Zubettgehen, Entspannung
oder Achtsamkeit sowie erste Strategien zum Umgang mit Grübeln und Sorgen sind rasch
wirksam. Psychoedukation zu Gefühlen und der Skill, entgegengesetzt zum Gefühl handeln,
um zentrales Vermeidungsverhalten abzubauen, werden kurzfristig als hilfreich erlebt.
Viele Jugendliche sprechen auch auf Metaphern und Geschichten an [15].
Selbstkontrolle und Sicherheitsplan
Selbstkontrolle und Sicherheitsplan
Während einer Krisenintervention werden mit Hilfe von Verhaltens- oder Kettenanalysen
individuelle Auslöser und Konsequenzen erkennbar, die das Problem- und Risikoverhalten
verstärken und aufrechterhalten. Lösungen und mögliche Strategien werden identifiziert.
Das Kind oder der Jugendliche lernt neue Strategien und Skills kennen, Krisensituationen
mit hoher Anspannung besser zu tolerieren, mehr Kontrolle zu erleben und funktionaler
zu handeln. Mit Hilfe von Commitment-Strategien oder dem Angebot, Skills im Sinne
eines Experiments auszuprobieren, können viele Jugendlichen von einer Skills-Anwendung
überzeugt werden. Eine gute Aufklärung darüber, dass diese neuen Fertigkeiten (Reize
wie Chilischoten, Kälte oder Bewegung) keine Wundermittel sind, häufig nicht so schnell
helfen wie z. B. sich selbst zu verletzen und daher mehrere Skills hintereinander
eingesetzt werden müssen, ist jedoch sehr wichtig.
Im Sicherheits- oder Notfallplan werden die als wirksam erlebten Skills schriftlich
fixiert. Ein Coaching – auch telefonisch – erhöht die Wahrscheinlichkeit des erfolgreichen
Einsatzes. Ein zusätzlicher Non-Suizid-Vertrag kann die innere Verpflichtung eines
Jugendlichen erhöhen: „Ehrlichkeit ist für mich ein sehr hoher Wert. Ich habe diesen
Vertrag unterschrieben, Sie können sich auf mich verlassen, ich werde mich daran halten
und mir nichts antun.“ In gemeinsamen Gesprächen mit den Sorgeberechtigten wird um
deren Unterstützung geworben und der Sicherheitsplan vorgestellt. Sie haben eine besondere
Verantwortung gegenüber den Kindern und Jugendlichen, den Zugang zu gefährlichen und
letalen Mitteln zu erschweren (Medikamente oder Waffen unerreichbar aufbewahren!).
Bearbeitung aktueller Probleme und Veränderungen im Lebensumfeld
Bearbeitung aktueller Probleme und Veränderungen im Lebensumfeld
Hinter suizidalen Verhaltensweisen stehen nicht nur Defizite der Emotionsregulation,
sondern auch fehlende Problem- oder Konfliktlösekompetenzen. Nach Identifikation und
Verständigung über anstehende Probleme werden mit den Kindern, Jugendlichen und ihren
Bezugspersonen Maßnahmen zur Lösung (Info- und Arbeitsblatt STOPP-DENK [10]) und mögliche Entlastungen diskutiert, z. B.:
-
Eltern vermitteln ihrem Sohn/ihrer Tochter in einem Gespräch, wie sehr er/sie geliebt
wird und wie wichtig er/sie ist.
-
Ein Konflikt mit MitschülerInnen wird nach Vorbereitung mit Rollenspielen und Coaching
selbst oder mit Hilfe des Klassenlehrers und/oder dem schulpsychologischen Dienst
gelöst.
-
Ein Klassen- oder Schulwechsel findet statt, wenn eine Klärung nicht möglich ist.
-
Eine Jugendliche wendet sich zusammen mit MitarbeiterInnen des Sozialdienstes an das
Jugendamt und informiert sich über Möglichkeiten der Unterstützung.
-
Die Entlassung aus der stationären Krisenintervention erfolgt vorübergehend oder längerfristig
in eine Einrichtung, wenn die familiären belastenden Bedingungen nicht oder nicht
zeitnah zu verbessern sind.
-
Ein Gespräch für mehr Verständnis für die Probleme der oder des Jugendlichen findet
mit dem Ausbildungsleiter statt.
Krisenintervention
Notfallmäßige Vorstellung von A. mit Mutter wegen stark drängender Suizidgedanken
mit konkreten Plänen. Seit ca. 5 Monaten gedrückte Stimmung, reduzierter Antrieb und
sozialer Rückzug. In Anspannungssituationen Selbstverletzungen. Ein- und Durchschlafstörungen,
Konzentrationsstörungen und Appetitverlust.
Belastungsfaktoren: Trennung vom Freund 2 Wochen zuvor. Enormer schulischer Leistungsdruck,
hohe Ansprüche an sich selbst, Notenverschlechterung. Leistungssportlerin, sie trainiere
jeden Tag.
Stationäre Krisenintervention: Entlastung durch Aufnahme. Beziehungsaufbau durch aktivierende
Angebote und positive Aktivitäten, gleichzeitig Ablenken von negativen Gedankenschleifen.
Skillscoaching in Anspannungssituationen. Achtsamkeitsübungen zur Wahrnehmung selbstabwertender
Kognitionen.
Einzeltherapie: Verhaltensanalyse zur Situation vor Aufnahme. Auslöser: Streit mit
ihrer besten Freundin, Kognitionen: „Dich mag keiner“, „Dir gelingt eh nichts“, „Dich
würde keiner vermissen“. Emotionen: Verzweiflung, Ohnmacht. Körperreaktionen: hohe
innere Anspannung mit suizidalen Impulsen auf der Handlungsebene. Anfälligkeit: unregelmäßiger
Tag-Nacht-Rhythmus sowie Essverhalten.
Definition der wichtigsten Problembereiche („Problemkuchen“), Ziele und Lösungen:
strukturierter Tagesplan, regelmäßige Mahlzeiten, feste Lernzeiten, Zeit für Freizeitaktivitäten.
Reduktion des Trainings. Klärendes Telefonat mit Freundin.
Vor Beendigung der Krisenintervention Anpassung der persönlichen Skills-Kette und
Sicherheitsplan mit Frühwarnsymptomen.
Follow-up: Terminierte ambulante Gespräche zur Auswertung der formulierten Maßnahmen.
Telefoncoaching in Krisensituationen. Beginn einer ambulanten Psychotherapie. Medikation
zunächst zurückgestellt, da Stimmung verbessert.
Kindeswohlgefährdung
Neben der direkten Intervention gegenüber Kindern und Jugendlichen haben TherapeutInnen
auch die Aufgabe, auf junge Menschen zu achten, die in prekären und gefährdenden Umständen
leben, ohne dass eine Eskalation als Hilfeschrei oder Notfallsituation unmittelbar
erkennbar ist.
Für die Aspekte des Kindeswohls (gemeint sind hier alle jungen Menschen vor der Volljährigkeit)
ist das jeweilige kommunale Jugendamt zuständig. Eine Kindeswohlgefährdung ist Anlass,
mit den Sorgeberechtigten die Notfallsituation zu erörtern und zu klären. Minderjährige
sollen dabei je nach Alter und Reife einbezogen werden („Partizipation“). Alle Personen,
die beruflich mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, haben einen gesetzlich verbrieften
Anspruch auf Fachberatung (s. Infobox). Qualifizierte BeraterInnen beim zuständigen
Jugendamt gehen – auch anonym – die komplexen Aspekte der Lebenssituation des Kindes
mit dem/der TherapeutIn durch. Hierbei nehmen Fachkräfte des Jugendamtes und TherapeutInnen
oftmals verschiedene Perspektiven ein.
Gesetzlich verbriefter Beratungsanspruch für TherapeutInnen
§ 8b SGB VIII Fachliche Beratung und Begleitung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen
(1) Personen, die beruflich in Kontakt mit Kindern oder Jugendlichen stehen, haben
bei der Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung im Einzelfall gegenüber dem örtlichen
Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft.
(2) Träger von Einrichtungen, in denen sich Kinder oder Jugendliche ganztägig oder
für einen Teil des Tages aufhalten oder in denen sie Unterkunft erhalten, und die
zuständigen Leistungsträger, haben gegenüber dem überörtlichen Träger der Jugendhilfe
Anspruch auf Beratung bei der Entwicklung und Anwendung fachlicher Handlungsleitlinien
(…) zur Sicherung des Kindeswohls und zum Schutz vor Gewalt (…).
Die Schwellen des Eingreifens gegen den Willen der Sorgeberechtigten sind dabei hoch.
Im Vordergrund des Handelns stehen nicht Sanktionen, sondern die Abschätzung, ob diese
willens und in der Lage sind, angebotene Unterstützung anzunehmen. Unter Federführung
des Jugendamtes wird es zunächst zu einer Erörterung der aufgeworfenen Fragen kommen.
Allerdings ist auch eine „Inobhutnahme“ durch das Jugendamt möglich, bei dem der dortige
Allgemeine Sozialdienst (ASD) Kinder und Jugendliche auch aus der Familie herausnehmen
kann. Dabei wird versucht, hierzu die Zustimmung der Sorgeberechtigten zu erhalten.
In kontroversen Situationen wird das Familiengericht nach Anhörung aller Beteiligten
und Anhörung des betroffenen jungen Menschen entscheiden.
Die Kinderschutzleitlinie [16] zeigt umfassend die Wege einer multiprofessionellen Vorgehensweise auf, die sich
strikt am Kindeswohl orientiert. Etabliert wurde auch die bundesweit verfügbare Kinderschutz-Hotline
(www.kinderschutzhotline.de), die unter der Telefonnummer 0800 19 210 00 für alle offen ist, die beruflich mit
Kindern und Jugendlichen in Kontakt stehen. Für den Kinderschutz in pädagogischen
und klinischen Organisationen sind wegweisende Materialien erschienen [17], [18].
Therapeutische Schweigepflicht versus Kinderschutz bei häuslicher Gewalt
Frau M., 33 Jahre, Mutter einer Tochter von 5 Jahren aus einer früheren Verbindung
und eines 9 Monate alten Jungen aus ihrer aktuellen, sehr instabilen Beziehung mit
einem neuen Lebenspartner. In der Psychotherapie berichtet die Klientin von jähzornigem
und impulsivem Verhalten ihres Partners, 24 Jahre, gegenüber der Tochter. Besonders
das nächtliche Schreien des Säuglings mache ihren Partner aggressiv. Auf Nachfragen
wird deutlich, dass Frau M. befürchtet, ihren Partner zu verlieren oder selbst zum
Opfer seiner Aggressionen zu werden, wenn sie ihm entschieden entgegentritt. Es ist
schwer abzuschätzen, welche Gefährdung für die Kinder besteht. Mit dem Jugendamt hat
Frau M. bereits Erfahrungen, sie ist derzeit nicht bereit, von dort Hilfe anzunehmen.
Der Therapeut hat die Möglichkeit, sich anonym von einer Fachkraft des Jugendamtes
beraten zu lassen. Diese prüft den Fall und berät kriteriengeleitet. Die Empfehlung
der Fachkraft ist für den Therapeuten nicht bindend. Eine Option ist die Anzeige einer
vermuteten Kindeswohlgefährdung gemäß § 8a SGB VIII beim zuständigen Jugendamt. Das
Jugendamt wird mit Hilfsangeboten reagieren, hierbei steht das Kindeswohl im Vordergrund.
Eine dialektische und annehmende Haltung sowie die vielfältigen Strategien, wie sie
die für junge Menschen adaptierte Form der dialektisch-behavioralen Therapie (DBT-A)
vermittelt, unterstützen erfolgreich im Rahmen von Kriseninterventionen nicht nur
Kinder und Jugendliche und ihre Familien, sondern auch das gesamte Helfersystem. Bei
Krisen und Notfällen im Kindes- und Jugendalter geht es jedoch nicht nur um suizidale
Krisen und selbstschädigendes Verhalten. Vielmehr müssen TherapeutInnen die Signale
von Kindern und Jugendlichen, die auf eine mögliche Gefährdung des Kindeswohls hindeuten
können, erkennen und auf eine multiprofessionelle Einschätzung und Abklärung gemäß
Leitlinien hinwirken.