„Armut ist die schlimmste Form von Gewalt.“ (Mahatma Gandhi)
Armut nimmt auch in Deutschland stetig zu. Der Rettungsdienst im Gesundheitswesen
wird immer häufiger zu Menschen gerufen, die sich in einer sozialen Notlage befinden
und häufig infolgedessen auch körperlich und seelisch erkrankt sind bzw. höhere Prävalenzen
für Erkrankungen haben. Das überfordert den Rettungsdienst oft in seiner Kompetenz;
nicht immer kann er all die Hilfe leisten, die notwendig wäre. Denn im Mittelpunkt
der Notwendigkeit steht nicht immer die gesundheitliche Intervention, sondern v. a.
ein Bedürfnis nach psychosozialer Unterstützung. Demzufolge wird ein solcher Hilfseinsatz
(zu) oft (zu) schnell als Fehleinsatz deklariert.
Auch wenn der Rettungsdienst fehlende psychosoziale Versorgungsstrukturen aufdeckt
und mehr oder weniger gut versucht zu kompensieren, kann er in der Begegnung mit den
von Armut und Ausgrenzung betroffenen Menschen viel richtig und viel falsch machen.
Wer ist arm?
Es existiert keine eindeutige Armutsdefinition. Generell wird zwischen absoluter Armut
(die physische Existenz bedrohend) und relativer Armut unterschieden. Definitionsversuche
relativer Armut in Deutschland orientieren sich schwerpunktmäßig an der finanziellen
Ausstattung. Daher wird von Einkommensarmut gesprochen.
Laut europäischer Definition sind Menschen von strenger Armut betroffen, wenn sie
40 % oder weniger des durchschnittlichen monatlichen Haushaltseinkommens besitzen.
Dazu gehört jeder Bezieher von sozialen Transferleistungen, also von Arbeitslosengeld
II oder Sozialgeld. Davon betroffen sind in Deutschland insbesondere Kinder und Jugendliche,
Alleinerziehende (i. d. R. Mütter), Familien mit mehr als 3 Kindern, arbeitslose Menschen
sowie ausländische Mitbürger.
Armut und Krankheit
Konkrete Zusammenhänge zwischen dem sozialen Status und Krankheit konnten u. a. für
das Auftreten von koronaren Herzkrankheiten (Herzinfarkt: 2- bis 3-fach erhöhtes Risiko),
Schlaganfall (ebenfalls 2- bis 3-fach erhöhtes Risiko), Krebserkrankungen und Lebererkrankungen
festgestellt werden. Erkrankungen der Verdauungsorgane (Magengeschwüre) und der Atmungsorgane
(Lungenentzündungen, chronische Bronchitis) findet man ebenfalls häufiger als im Bevölkerungsdurchschnitt.
Des Weiteren ist die Infektanfälligkeit erhöht. Zusätzlich treten psychiatrische Erkrankungen
in den Vordergrund, darunter besonders Depressionen bis zum Suizid [1]
[2]
[3]
[4]
[5]
[6]
[7].
Neben der Morbidität ist auch die Mortalität von Armut betroffener Menschen in unserer
Gesellschaft erhöht. So besteht ein Lebenserwartungsunterschied von 11 Jahren bei
den Männern und 8 Jahren bei den Frauen zwischen dem reichsten und dem ärmsten Viertel
der deutschen Bevölkerung (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung; Erhebung im
5-Jahreszeitraum; siehe auch [4]
[8]). Erschwerend kommt hinzu, dass es immer noch eine Unkultur der Diffamierung und
Schuldzuweisung gegenüber sozial Benachteiligten gibt, die häufig dazu führt, dass
die Betroffenen ihren Selbstwert infrage stellen.
Inanspruchnahme des Notarztdienstes
Inanspruchnahme des Notarztdienstes
Eine der ersten Studien zum Inanspruchnahmeprofil des Notarztes mit einem besonderen
Augenmerk auf die soziale Schichtzugehörigkeit wurde 2002 von Luiz et al. [9] in Kaiserslautern durchgeführt. Die einzelnen Stadtbezirke wurden nach der sozioökonomischen
Bewohnerstruktur differenziert. In den als schlecht situierte Wohnbezirke charakterisierten
Regionen kam es zu einer signifikanten Häufung von psychosozialen und auch psychiatrischen
Einsätzen. Außerdem unterschied sich das Altersprofil: Während im Gesamtdurchschnitt
v. a. Personen höheren Alters den Notarzt rufen, waren es bei den Einsätzen mit einer
psychosozialen Indikation Personen mittleren Erwachsenenalters. Jeder 8. Notarzteinsatz
war der Beschreibung „psychosozialer Notfall“ zuzuordnen.
Eine Datenanalyse aus Berlin [10] bestätigt, dass in Stadtteilen mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Menschen,
die z. B. von ökonomischer Armut und Arbeitslosigkeit betroffen sind, Notfalleinsätze
signifikant häufiger stattfinden. Luiz beschreibt diese Realität im Rettungswesen
wie folgt: „… als niederschwellig erreichbare, unmittelbar und flächendeckend verfügbare
ärztliche Institution primär mit nichtlebensbedrohlichen Notfällen und Krisensituationen
der unterschiedlichen Art konfrontiert. (…) So wird der Einsatzalltag vielerorts immer
häufiger von den psychischen und somatischen Konsequenzen eines Versagens sozialer
Ressourcen geprägt“ [9]. Er stellt dabei aber auch fest: „Der Vorwurf, mit dem Einsatz des Notarztes bei
psychosozialen Notfällen eine ‚hochwertige Ressource‘ zu vergeuden, ist (…) solange
ungerechtfertigt, wie die Notfallmedizin das Fehlen komplementärer sozialer und medizinischer
Einrichtungen ausgleichen muss“ [9].
Menschliche Zuwendung
Zur Beziehung zwischen der Inanspruchnahme von Notfallambulanzen und sozialen Notsituationen
hat eine kanadische Studie interessante Erkenntnisse beschrieben. Hintergrund der
epidemiologischen Untersuchung war die Annahme vieler Ärzte in der Notfallaufnahme,
durch zu große Freundlichkeit obdachlosen Menschen gegenüber könnten sie ein häufigeres
Aufsuchen der Notfallambulanz ohne ernsthafte Beschwerden mitverursachen. Daraufhin
wurde untersucht, wie sich eine einfühlsame, betroffenenzentrierte Behandlung wohnungsloser
Menschen, die aufgrund akuter Beschwerden die Notfallambulanz eines Krankenhauses
in Toronto aufsuchten, auf die Häufigkeit weiterer Konsultationen auswirkt.
133 wohnungslose Männer wurden in 2 Gruppen aufgeteilt: Die eine Gruppe wurde vom
Krankenhauspersonal in der üblichen Weise betreut. Die andere Gruppe wurde zusätzlich
geschulten Freiwilligen zugeteilt, die sich während der Wartezeit mit ihnen über ihre
Beschwerden unterhielten, Anteil nahmen und Empathie zeigten und die wohnungslosen
Patienten zu einem Getränk und einer kleinen Mahlzeit einluden. Das für viele erstaunliche
Ergebnis: Einfühlsam betreute wohnungslose Männer suchten in der Folgezeit die Notfallambulanz
signifikant seltener auf als die Patienten der Kontrollgruppe, die in der üblichen
Weise behandelt worden waren.
Eine der Erklärungen der Forschungsgruppe: Patienten und speziell von Armut betroffene
Patienten gehen häufiger zum Arzt, wenn sie mit dem Ergebnis des Arztkontakts nicht
zufrieden waren. Empathische Anteilnahme ist gerade für sozial benachteiligte Patienten
eine Reaktionsweise, die sie sich von Medizinern erhoffen. Die gewünschte Erfahrung
führt dann zu einer selteneren Kontaktsuche [11].
Einfühlsame Behandlung sozial benachteiligter Menschen in der Notfallambulanz und
im Rettungsdienst ist demnach nicht nur menschlich, sondern auch ökonomisch sinnvoll.
Arm sein ist ein Trauma
Die tertiäre Traumatisierung oder auch das Modell der sequenziellen Traumatisierung
nach Hans Keilson [12] bezieht sich auf den Umgang mit Traumatisierten und von Armut Betroffenen. Sie sind
in einer der reichsten Gesellschaften oft traumatisiert. Die Art der Begegnung zwischen
Helfer und Traumatisiertem kann dabei für die Verarbeitung eines Traumas ausschlaggebender
sein als das traumatische Ereignis selbst: Die eventuell stattfindende sog. tertiäre
Traumatisierung ist entscheidend für die Ausbildung einer Traumatisierungsreaktion
bzw. Chronifizierung psychischer und physischer Beeinträchtigungen.
Entscheidend in dieser „dritten Phase“ der Trauma-Arbeit ist, dass soziale Sicherheit
und Stabilität erfahren wird. Das umfasst ein empathisches, authentisches, von Ernsthaftigkeit
geprägtes Beziehungskonzept. Dies wiederum ist eine interdisziplinäre Aufgabe, in
der auch der Rettungsdienst eine wichtige Rolle spielen kann. Der Patient muss sich
wertgeschätzt und ernst genommen fühlen. Somit ist der Rettungsdienst eine erste wichtige
Kontaktstelle, die eine weitere Traumatisierung bahnen oder verhindern kann.
Akutmedizin – ganz praktisch
Akutmedizin – ganz praktisch
Als Notarzt und Sozialarbeiter möchte ich im folgenden Abschnitt einige konkrete praktische
Hinweise für den akutmedizinischen Umgang mit sozial benachteiligten Patienten bzw.
Menschen in sozialen Notlagen auflisten:
-
Die Lebenslage der Patienten mitberücksichtigen (Ganzheitsmedizin)!
-
Kann der Patient schriftliche Anweisungen/Informationen lesen? (Zunehmende Zahl von
Analphabeten bzw. funktionellen Analphabeten. Funktionelle Analphabeten können lesen
und schreiben, verstehen aber sehr häufig die inhaltliche Aussage des Gelesenen nicht.)
-
Genaue nachfragende Anamnese, leicht verständliche und nachvollziehbare Sprache. (Konzept
der „leichten Sprache“)
-
Gesundheitsrisikoverhalten und die damit einhergehenden Gefahren berücksichtigen:
Zigaretten- und Alkoholkonsum. An äthyltoxische Polyneuropathien und Vitamin-B12-
sowie Folsäure-Mangel denken.
-
Ernährungsgewohnheiten erfragen.
-
Impfstatus oft lückenhaft! Nachfragen und Impflücken schließen. (Im Rettungsdienst
ist die Tetanusimpfung von besonderer Bedeutung.)
-
Aufgrund einer oft unzureichenden Nahrungszufuhr und Alkoholproblematik besteht eine
erhöhte Hypoglykämie-Gefahr! Deshalb immer Blutzucker- und Blutdruckmessung.
-
Auf der Straße bzw. in Armut zu leben bedeutet Stress. Deshalb an typische Stresserkrankungen
denken: z. B. Hypertonie, Koronarsyndrom, Ulcera pepticum (Magengeschwüre). (Die Frage
nach vorhandenem Teerstuhl als diagnostischem Hinweis auf eine obere gastrointestinale
Blutung ist fast obligatorisch.)
-
Multiple Gefahrenquelle Alkohol: Z. B. wird Alkohol im Winter als Wärmespender genutzt,
des Weiteren als Nahrungsersatz und zur Schmerzunterdrückung.
-
Gefahr der Fehlinterpretation von Beschwerden aufgrund der Tendenz, bei Menschen in
sozialen Notlagen Symptome als Ausdruck einer Alkoholkrankheit zu interpretieren und
damit Akuterkrankungen zu übersehen (z. B. Sturz mit zerebraler Blutung).
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Patienten immer in entkleidetem Zustand untersuchen, auch wenn dies manchmal mit unangenehmen
Gerüchen verbunden sein kann (u. a. hohe Prävalenz dermatologischer Erkrankungen,
parasitäre Erkrankungen, Autoaggressivität usw.).
-
Parasitäre Erkrankungen: Neben der Behandlung des Patienten auch das Umfeld, Freunde,
Bekannte, Familienmitglieder, Betreuungspersonal (z. B. Sozialarbeiter) behandeln
bzw. zumindest informieren. Kleider unter Umständen entsorgen. An Skabies und Pediculus
(Kopfläuse) denken!
-
An psychiatrische Erkrankungen und Auffälligkeiten denken! Psychotische paranoide
Erkrankungsbilder, Depressionen mit einer erhöhten Suizidgefahr, autoaggressives Verhalten
(Selbstverletzung, Borderline-Patienten).
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An Selbstgefährdung (s. o.) und Fremdgefährdung denken (u. a. Gewaltbereitschaft nach
erhöhtem Konsum legaler sowie illegaler Drogen).
-
Jeder Akutpatient, der sich in einer sozialen Notlage befindet, gehört im Krankenhaus
intensiv klinisch und labordiagnostisch, ggf. auch funktionsdiagnostisch untersucht!
-
Zahnerkrankungen sind sehr häufig: Deshalb den Zahnstatus überprüfen und eine entsprechende
Sanierung ansprechen und initiieren. Pathologische Zahnbefunde als chronische bakterielle
Streuherde berücksichtigen.
Medikamente mit suchterzeugenden Stoffen, Hustensäfte mit Alkoholanteilen! Etwaige
Wechselwirkungen zwischen Alkohol und Medikamenten beachten (u. a. Neuroleptika, Antiepileptika,
Antihistaminika, Sedativa usw.).
Weiterbetreuung und Versorgung
Weiterbetreuung und Versorgung
Die Vernetzung mit alternativen medizinischen sowie psychosozialen Institutionen bzw.
Versorgungsstrukturen ist für den Rettungsdienst eine wichtige Aufgabe. Sie kann einerseits
Entlastung schaffen, andererseits eine adäquatere und somit kompetentere Versorgung
bedeuten. Problematisch ist, dass solche gesundheitlichen bzw. psychosozialen Versorgungsangebote
oft vor Ort nicht sofort hinzugezogen werden können. Dann müssen ganz neue Kooperations-
und Umsetzungsmöglichkeiten und Wege entwickelt werden.
Listen von psychosozialen und karitativen Einrichtungen anlegen und im Rettungsdienst
nutzen!
Gesundheitsversorgung, auch die notfallmäßige Versorgung, ist ein Menschenrecht, gerade
auch für sozial benachteiligte Menschen! Dabei kann man (auch im Rettungsdienst) viel
falsch, aber auch sehr viel richtig machen. Eine unvoreingenommene Haltung und praktisches
Wissen helfen dabei, sozial benachteiligte Menschen gut und effektiv zu versorgen.