retten! 2020; 9(04): 233-236
DOI: 10.1055/a-0976-2325
Kommunikation & Management

Strukturierte Patientenübergabe/-übernahme in der Notfallmedizin

Chris Triphaus
 

„Kommuniziere sicher und effektiv – sag, was Dich bewegt“ ist ein Leitsatz des Crew Resource Management (CRM) [1]. Im medizinischen Alltag ist bei der Übergabe patientenbezogener Informationen eine effektive Kommunikation von zentraler Bedeutung. Jede Schnittstelle ist fehleranfällig, und es kann mitunter zu fatalen Nachteilen für den Patienten kommen. Gute Rahmenbedingungen und ein standardisierter Ablauf helfen, einem fehlerhaften Informationsfluss vorzubeugen.


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In einer Studie von 2016 wurde der medical error als die dritthäufigste Todesursache in den USA ermittelt [2]. Die Kommunikation stellt mit mehr als zwei Dritteln eine vergleichsweise häufige Fehlerquelle dar. Dies gilt insbesondere für die Patientenübergabe in Notfallsituationen. Dabei findet Kommunikation unter Zeitdruck, ungünstigen Bedingungen und in komplexer Teamzusammensetzung statt [3].

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in ihrer Initiative Action on Patient Safety: High 5 s die Kommunikation während der Patientenübergabe als eine von fünf evidenzbasierten Lösungen für eine bessere Patientensicherheit beschrieben [4]. Unter anderem fordert die WHO die Implementierung eines standardisierten Ablaufs in einem ausreichenden zeitlichen Rahmen mit Beschränkung auf die wichtigsten Informationen [5].

Dieser Artikel thematisiert die Hintergründe und Rahmenbedingungen einer effektiven Kommunikation und stellt dabei das (I)SBAR- und das (AT)MIST-Schema als Konzepte zur standardisierten Übergabe vor.

Kommunikation während der Übergabe

Die Kommunikation ist ein wichtiges Instrument für die Weitergabe relevanter Informationen. Es lassen sich drei Problemfelder identifizieren [6]:

  1. Probleme des Senders: Sagt der Sender das, was er meint?

  2. Probleme des Empfängers: Ist der Empfänger aufmerksam?

  3. Probleme des Übertragungswegs: Ist der richtige Gesprächspartner gewählt?

Im klinischen Alltag werden ungefähr 50 % aller Übergaben gestört [7]. Um dies zu vermeiden, müssen sich Sender und Empfänger in einem geschützten Raum („steriles Cockpit“) befinden und gedanklich auf den Informationsaustausch eingestellt sein [8]. Bereits vor der Patientenübergabe sollten das Monitoring und das Equipment vorbereitet und alle Beteiligten anwesend sein. Es sollten keine privaten Gespräche oder Ablenkungen stattfinden. Sprechen sollte nur derjenige, der die Übergabe vornimmt. Anschließend ist Zeit zum Nachfragen. Ablenkungen, Zeitdruck und ein hoher Geräuschpegel wirken sich negativ auf die bewusste Wahrnehmung von Informationen aus und sollten vermieden werden (vgl. Infobox) [6].

Beeinflussbare Faktoren, die sich negativ auf die Patientenübergabe auswirken [6]
  • Komplexe Hierarchien

  • Angst, etwas Falsches zu sagen

  • Mangelnder Blickkontakt

  • Zeitdruck

  • Geräuschpegel

  • Ablenkung

  • Sprachliche Barrieren

  • Fehlende Standardisierung

  • Unzureichende Einarbeitung

  • Fehlendes Verständnis für Fachtermini

Merke

Wenn es nicht unbedingt erforderlich ist, sollten während der Übergabe keine Maßnahmen am Patienten erfolgen („No-touch-Technik“) [9].

Die Cognitive Load Theory (CLT) nach Sweller beschäftigt sich mit der Übertragung von Informationen aus dem Kurz- in das Langzeitgedächtnis [10]. Das Kurzgedächtnis ist begrenzt. Es können etwa vier bis sieben Informationseinheiten zeitgleich behalten werden. Der Übergang in das Langzeitgedächtnis wird nach der CLT von drei Arten der kognitiven Belastung gehemmt ([Tab. 1]).

Tab. 1

Arten der kognitiven Belastung beim Lernen nach Sweller (Cognitive Load Theory, CLT) [10].

Arten der kognitiven Belastung

Bedeutung

Reduktion der kognitiven Belastung durch …

intrinsische Belastung

inhaltliche Komplexität

nicht zu viele Informationen

extrinsische Belastung

Rahmenbedingungen

standardisierte Übergabe

lernbezogene Belastung

Verarbeitungsstrategie

Nachfrage

Eine Reduktion dieser kognitiven Belastungen führt zu einem besseren Informationsfluss (Info-Box): Man sollte sich auf die wichtigsten Inhalte und maximal vier bis sieben Informationseinheiten begrenzen (Reduktion der intrinsischen Belastung). Zudem sollte eine standardisierte Übergabe in einem geschützten Raum („steriles Cockpit“, s. o.) stattfinden (Reduktion der extrinsischen Belastung). Das Wiederholen der Informationen und aktives Nachfragen fördern den Übergang in das Langzeitgedächtnis (Reduktion der lernbezogenen Belastung).

Grundlagen für eine gute Kommunikation [8]
  • Klarheit, Eindeutigkeit und Sachlichkeit

  • auf die wichtigsten Informationen beschränken

  • Bereitschaft aller Beteiligten

  • keine interpersonellen Konflikte

  • standardisierte Übergabeschemata

  • standardisierte Kommunikationswege


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Standardisierte Übergabeschemata

Zur strukturierten Übergabe eignen sich standardisierte Übergabeschemata, die so eingeübt werden sollten, dass sie auch in Stresssituation abrufbar sind. Die Unterteilung in maximal sieben Informationseinheiten fokussiert auf die wichtigsten Inhalte und reduziert damit die inhaltliche Komplexität.

Leider werden Übergabeschemata häufig nur unvollständig angewandt [11]. Ein Grund dafür ist Zeitdruck. Die regelmäßige und konsequente Anwendung einer strukturierten Übergabe kann aber helfen, auch in Stresssituationen keine relevanten Informationen zu vergessen.

(I)SBAR-Schema

Das (I)SBAR-Schema ([Tab. 2]) wird von der WHO und der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin (DGAI) empfohlen [5] [6]. Der Vorteil dieses Konzepts ist die flexible Anwendbarkeit. Innerhalb der Punkte können für jede Situation standardisierte Unterpunkte festgelegt werden.

Tab. 2

(I)SBAR-Schema [6].

I dentifikation

Name, Alter, Geschlecht

S ituation

Hauptsymptom, Zustand

B ackground

Auffindesituation, Vorerkrankungen, Medikation, Allergie (SAMPLER-Schema)

A ssessment

Vitalwerte, bereits erfolgte Maßnahmen, Verlauf (ABCDE-Schema)

R ecommendation

Ergänzungen, Empfehlungen, Zeit für Nachfragen

Falleispiel: (I)SBAR-Schema

„(I) Wir bringen euch den 34-jährigen Herrn Meier (S) mit Zustand nach Krampfanfall bei bekannter Epilepsie und Valproat-Therapie mit Erstdiagnose 06/2012.

(B) Vor etwa 45 Minuten wurde der Patient von seiner Ehefrau mit generalisiertem tonisch-klonischem Krampfanfall vorgefunden. Bei Eintreffen der Rettungskräfte laufender Krampfanfall. Vorerkrankungen: Epilepsie, Asthma bronchiale. Vormedikation: Valproat, Salbutamol bei Bedarf.

(A) Nach Gabe von 10 mg Midazolam i. v. konnte der Krampf erfolgreich durchbrochen werden. Zurzeit Atemwege frei mit Wendl-Tubus. SpO2 98 % unter O2 6 l/min via O2-Maske, sonst kein B-Problem. Tachykard mit 110/min, Blutdruck bei 150/90 mmHg, sonst kein C-Problem. Patient somnolent mit GCS 12/15, unscharf orientiert, BZ 95 mg/dL, Pupillen isocor, prompt konsensuell lichtreagibel, orientierende neurologische Untersuchung unauffällig. Temperatur 36,5 °C, Prellmarke am Hinterkopf.

(R) Die Ehefrau ist bei uns mitgefahren, sitzt im Warteraum und wartet auf eine Rückmeldung. Gibt es Fragen?“


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(AT)MIST-Schema

Ein weiteres Übergabekonzept ist das (AT)MIST-Schema, das sich insbesondere zur Schockraumübergabe bei Traumapatienten bewährt hat ([Tab. 3]). Damit werden die wichtigsten Informationen kurz und prägnant übermittelt [12].

Tab. 3

(AT)MIST-Schema [12].

A ge

Patientenalter + Name

T ime

Unfallzeitpunkt

M echanism

Schockraumindikation + Unfallmechanismus

I njury

Verletzungsmuster in der initialen Untersuchung („von oben nach unten“)

S ymptoms/Signs

aktuelle Symptome, Vitalparameter nach ABCDE

T reatment

erfolgte Maßnahmen, ggf. relevante Informationen (Allergie, Angehörige, Nüchternheit, Medikation)

Fallbeispiel: (AT)MIST

„(A) Wir bringen euch den 34-jährigen Herrn Meier, (T) der vor 45 Minuten, also um etwa 10.30 Uhr, (M) aus zirka 3 Metern Höhe von einer Leiter auf Pflastersteinboden gestürzt ist. Er ist dabei mit der rechten Körperhälfte aufgeschlagen.

(I) Initial zeigten sich in der Trauma-Untersuchung eine Kopfplatzwunde rechts parietal, Druckschmerz über der HWS, über dem rechten Thorax und dem Becken, Schürfwunden am rechten Ellenbogen.

(S) Keine kritische Blutung. Druckschmerz über HWS, sonst kein A-Problem. Potenzielles B-Problem bei abgeschwächtem Atemgeräusch rechtsseitig, respiratorisch stabil. Potenzielles C-Problem bei Druckschmerz über dem rechten Becken, hämodynamisch stabil mit systolisch 150 mmHg, zwei Zugänge 18G linker Handrücken und linke Ellenbeuge. GCS 15/15, Kopfplatzwunde, aber seit Eintreffen der Ersthelfer jederzeit wach, ansprechbar und allseits orientiert. Keine retro- oder anterograde Amnesie. Pupillen isokor und prompt konsensuell lichtreagibel, keine sensomotorischen Defizite. Temperatur 36,4 °C, Wärmeerhalt mit Wärmedecke. Keine Antikoagulanzien in der Dauermedikation.

(T) Der Patient hat bisher 1,5 Liter Vollelektrolytlösung erhalten, Analgesie mit Ketamin und Dormicum, Anlage einer Beckenschlinge, Vollimmobilisation mit Vakuummatratze. Keine Allergien, keine Dauermedikation, letzte Mahlzeit um etwa 9 Uhr, die Ehefrau begibt sich selbstständig in die Klinik. Gibt es Fragen?“


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Andere Übergabeschemata

Das (I)SBAR- und das (AT)MIST-Schema sind nur Beispiele, es gibt noch diverse andere Übergabeschemata. Aus einem Artikel von Rossi wird die Vielfalt der etablierten Schemata ersichtlich [13]. Das iSOBAR-Schema ist beispielsweise ein weiteres praxistaugliches Übergabeschema. Das Akronym steht für Identifikation, Situation, Observation, Background, Aufgaben, Rückfragen.

Bei der Auswahl eines strukturierten Schemas sollte man sich an persönlichen Erfahrungen und regionalen Gegebenheiten orientieren.


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Außerdem zu beachten

Merke

Bei der Übernahme eines Patienten sollte man sich stets ein eignes Bild über die Situation machen und niemals eine vorgegebene Arbeitsdiagnose ohne kritisches Hinterfragen übernehmen [7].

Neben relevanten Informationen sollten vorhandene Dokumente (DIVI-Protokoll, Medikamentenplan, Arztbriefe, Patientenverfügung), Medikamente, KV-Karte, Daten einer Kontaktperson und Wertgegenstände weitergegeben werden [9].

Kernaussagen
  • „Kommuniziere sicher und effektiv – sag was dich bewegt.“ [1]

  • Während der Übergabe müssen alle Beteiligten anwesend und gedanklich auf den Informationsaustausch eingestellt sein.

  • Die Patientenübergabe sollte in einem geschützten Raum stattfinden.

  • Zur strukturierten Übergabe sollten standardisierte Schemata genutzt werden.

  • Das (I)SBAR-Schema wird von der WHO und der DGAI empfohlen.

  • Das (AT)MIST-Schema eignet sich zur Übergabe von Traumapatienten.


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Chris Triphaus

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Arzt in Weiterbildung, Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin am Mathias-Spital Rheine. TRMBasic-Provider, PHTLS-Provider, TECC-Provider

Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Chris Triphaus
Mathias-Spital Rheine
Frankenburgstr. 31
48431 Rheine

Publication History

Article published online:
21 September 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York


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