Entspannung mit dem Smartphone bei Migräne?
*** Minen MT, Adhikari S, Seng EK, Berk T, Jinich S, Powers SW, Lipton RB. Smartphone-based
migraine behavioral therapy: a single-arm study with assessment of mental health predictors.
Digital Medicine 2019; 2: 46
Da nicht alle Migränepatienten einen guten Zugang zu Fachtherapeuten haben, könnten
geeignete Smartphone-Applikationen eine Übergangslösung darstellen.
Hierzu wurden 51 Patienten (48 weiblich) einer neurologischen Universitätspraxis rekrutiert,
welche die ICHD-Diagnose Migräne hatten, keine Verhaltenstherapie innerhalb des letzten
Jahres erhielten und über ein Smartphone verfügten (willkürliche Stichprobe). Die
durchschnittliche Kopfschmerzhäufigkeit betrug 13 Tage pro Monat, 63 % hatten eine
schwere Beeinträchtigung (MIDAS-Score). Die Patienten erhielten die Aufgabe, über
90 Tage täglich ein Kopfschmerztagebuch auszufüllen und eine 20-minütige PMR durchzuführen.
An durchschnittlich ca. 22 Tagen wurde die PMR durchgeführt (Durchschnitt ca. 11 Minuten
pro Anwendung). Knapp die Hälfte benutzte die PMR mindestens 1-mal pro Woche, knapp
ein Drittel mindestens 2-mal pro Woche. Interessanterweise zeigten Patienten mit mehr
als 2 PMR-Durchführungen pro Woche im ersten Monat eine Reduktion um durchschnittlich
vier Kopfschmerztage im darauffolgenden Monat, die mit weniger als 2 PMR-Durchführungen
nur eine Reduktion um durchschnittlich 2 Kopfschmerztage. Dieses Ergebnis ist allerdings
angesichts der im Verlauf stark nachlassenden Dokumentation der Kopfschmerzen im Tagebuch
mit Vorsicht zu interpretieren. Zu Beginn der Studie erfasste Depressionswerte waren
mit einer geringeren Nutzung der App verbunden, Angstwerte mit einer erhöhten. Hier
dürften Aspekte von Motivation, Symptomschwere und Erwartungen eine Rolle spielen.
Es zeigte sich im Verlauf der Wochen eine Abnahme der Verwendung des Kopfschmerztagebuchs
(von 100 % auf 49 % mindestens 1-mal pro Woche) als auch der PMR-Anwendung (von 84
% auf 29 % mindestens 1-mal pro Woche).
Kommentar
Smartphone-Anwendungen im therapeutischen Setting erfreuen sich großer Beliebtheit.
Knapp 90 % der Menschen besitzt ein Smartphone und verfügt so über einen potenziellen
und preiswerten Zugang zu solchen Behandlungsmethoden. Die umfassende wissenschaftliche
Untersuchung der Effekte hingegen liegt allerdings noch deutlich zurück.
Die Autoren stellen die Grenzen ihrer Studie ausführlich dar, beispielsweise die geringe
Stichprobengröße, keine randomisierte Auswahl und dass es für zukünftige Studien nicht
nur einen Behandlungsarm geben sollte. Viele weitere beeinflussenden Faktoren wurden
nicht bzw. konnten nicht kontrolliert werden, beispielsweise was Patienten nebenher
am Smartphone taten oder ob sie die Dosierung ihrer Medikamente veränderten. Auch
ist die PMR in der realen Verhaltenstherapie nur ein Baustein. Die reduzierte Adhärenz
im Verlauf der Zeit lässt sich allerdings auch bei Behandlungen ohne Smartphone beobachten.
Ein Pluspunkt der Studie ist, dass auch schwer beeinträchtige Patienten eingeschlossen
wurden, was viele Studien im Rekrutierungsprozess nicht machen, sondern vielmehr nach
motivierten Patienten suchen.
Es bleibt zu testen, inwiefern reale Verhaltenstherapien durch Smartphone-Anwendungen
ergänzt werden können. So könnten sowohl Patienten, als auch Therapeuten in ihrer
Arbeit unterstützt und entlastet werden. Insbesondere motivationale Aspekte bzw. begleitende
Komorbidität könnten dann von dem Therapeuten mehr berücksichtigt werden und so die
Adhärenz erhöhen. Zumindest als Übergangslösung bei langen Wartezeiten auf Therapieplätze
könnten Smartphone-Anwendungen zukünftig eine größere Rolle spielen. Allerdings bedarf
es dazu viel mehr Forschung. Es müssen Qualitätsstandards geschaffen werden, die analog
zu Therapieleitlinien angewendet werden, um Patienten und Therapeuten wirksame Smartphone-Anwendungen
empfehlen zu können. Medizinische Smartphone-Anwendungen müssen etabliert werden,
die für ihre Zulassung entsprechende Kriterien erfüllen.
Die Forschung in diesem Bereich ist wichtig, um therapeutisch wirksame und sichere
Smartphone-Anwendungen zu ermöglichen. Es werden noch zu viele Apps angeboten, die
nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren. Kunden (respektive Patienten
und Therapeuten) müssen wissen, dass die Verfügbarkeit einer App per se weder Effektivität,
Sicherheit, noch die Einhaltung bestimmter Qualitätsstandards durch die Entwickler
garantiert.
Thomas Dresler, Tübingen
Calcitonin gene-related peptide (CGRP) als Marker für die Krankheitsaktivität bei
Clusterkopfschmerz?
**(*) Snoer A, Vollesen ALH, Beske RP, Guo S, Hoffmann J, Fahrenkrug J, Jorgensen
NR, Martinussen T, Jensen RH, Ashina M. Calcitonin-gene related peptide and disease
activity in cluster headache. Cephalalgia 2019: 39(5) 575–584
Trotz recht hoher Patientenzahl und aufwendigem, placebokontrolliertem Studiendesign
bleiben die Daten inkonklusiv.
Hintergrund
CGRP spielt eine wichtige Rolle bei Clusterkopfschmerz-Attacken [[1]], was insbesondere aufgrund von Hinweisen für die Wirksamkeit von CGRP-Antikörpern
in der Therapie vom episodischen Clusterkopfschmerz interessant ist. Aber auch andere
Neuropeptide könnten in der Pathophysiologie des Clusterkopfschmerz eine Rolle spielen.
Zusammenfassung
In der vorliegenden, randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten Cross-over
Studie wurden die Neuropeptide CGRP, Pituitary adenylatecyclase activating polypeptide
(PACAP) und vasoaktives intestinales Peptid (VIP) in episodischen (eCKS) und chronischen
(cCKS) Clusterkopfschmerz-Patienten vor und während experimentellen Clusterkopfschmerz-Attacken
(induziert durch intravenöse CGRP-Gabe) untersucht.
Es nahmen 31 Patienten teil (9 eCKS in aktiver Phase, 9 eCKS in Remission und 13 cCKS).
Vor (Baseline) und nach Infusion von 30 µg CGRP bzw. Placebo an 2 Untersuchungstagen
erfolgten cubitale Blutentnahmen zu mehreren Zeitpunkten. Sofern eine Clusterkopfschmerz-Attacke
auftrat, erfolgten weitere Blutentnahmen zu definierten Zeitpunkten. Die Bestimmung
der Neuropeptide erfolgte mittels Radioimmunoassays.
In 16 aus 31 Patienten konnte eine Clusterkopfschmerz-Attacke induziert werden (keine
davon in eCKS-Patienten in Remission) und in 11 aus 16 Attacken konnte eine Blutentnahme
stattfinden. In den restlichen 5 Attacken sei die Blutentnahme aufgrund der schnellen
Verbesserung der Symptomatik nicht durchführbar gewesen.
In der vorliegenden Arbeit werden Gruppenunterschiede zum Baseline-Zeitpunkt sowie
nach CGRP-Infusion abhängig oder unabhängig vom Auftreten einer Clusterkopfschmerz-Attacke
berichtet. Der Verlauf über die induzierten Clusterkopfschmerzattacken wird nicht
berichtet. Es fanden sich signifikant höhere CGRP-Plasmalevel in eCKS-Patienten in
Remission verglichen mit cCKS-Patienten (100,6 ± 36,3 pmol/l vs. 65,9 ± 30,5 pmol/l,
p = 0,011), aber kein signifikanter Unterschied zu eCKS-Patienten in aktiver Phase
(89,7 ± 26.9 pmol/l). Nach CGRP-Infusion (aber nicht nach Placebo) kam es zu einem
signifikanten Anstieg der CGRP-Spiegel im Vergleich zu den Baseline-Werten (574,3
± 296,4 pmol/l vs. 81,7 ± 33,4 pmol/l; p < 0,0001), ohne Unterschied zwischen Patienten
mit und ohne Attacken.
PACAP38-Serumspiegel waren signifikant höher bei eCKS-Patienten in aktiver Phase im
Vergleich zu cCKS-Patienten (4,0 ± 0,8 pmol/l vs. 3,3 ± 0,7 pmol/l; p = 0,033). Die
CGRP-Infusion führte zu keiner Veränderung in den PACAP38-Werten (p = 0,66), unabhängig
von der Induktion einer Attacke. VIP-Serumspiegel waren zu Baseline nicht signifikant
unterschiedlich zwischen den Gruppen, allerdings zeigte sich nach CGRP-Infusion eine
signifikante Erhöhung der VIP-Werte im Vergleich zu den Baseline-Werten (p < 0,001),
nicht jedoch nach Placebo-Gabe. Bei induzierten Attacken kam es dagegen zu einer Reduktion
von VIP.
Die Autoren interpretieren die niedrigeren Baseline-CGRP-Spiegel bei cCKS im Vergleich
zu eCKS (in Remission) als Hinweis auf eine Depletion von CGRP bei häufigen Clusterkopfschmerz-Attacken.
Sie spekulieren auch über einen Zusammenhang mit der (bisher nur aus Pressemitteilungen
bekannten) fehlenden Wirkung von CGRP-Antikörpern bei cCKS im Vergleich zu eCKS.
Kommentar
Der Nachweis relevanter Peptide, insbesondere von CGRP, in primären Kopfschmerzpatienten
im peripheren Blut wird aufgrund widersprüchlicher Studienergebnisse kontrovers diskutiert.
In dieser Hinsicht ist das vorliegende Studiendesign mit Nachweis von CGRP, PACAP38
und VIP im Verlauf einer experimentell induzierten Clusterkopfschmerz-Attacke sehr
interessant. Es ergeben sich allerdings einige grundsätzliche Einschränkungen: Zwar
scheint die Patientenzahl mit 31 Clusterkopfschmerz-Patienten zunächst hoch, es sollte
aber bedacht werden, dass nur 11 Clusterkopfschmerz-Attacken ausgewertet werden konnten,
die für die Interpretation der Daten in Untergruppen eingeteilt wurden. Zum anderen
stellt sich die Frage, wie v. a. der Nachweis von CGRP nach Induktion einer Attacke
mittels CGRP interpretiert werden kann. Leider werden die Neuropeptid-Verlaufswerte
über die Attacke hinweg im Paper selbst nicht veröffentlicht (können aber nachgefragt
werden). Dies wäre gerade für den Verlauf von CGRP nach der Infusion interessant und
aufschlussreich gewesen.
In der vorliegenden Studie wurden aktive eCKS-Patienten und cCKS-Patienten eingeschlossen,
sofern in den letzten 3 bzw. 8 h keine Clusterkopfschmerz-Attacke aufgetreten war.
Allerdings wurde die letzte Einnahme von Triptanen nicht dokumentiert, obwohl aus
zahlreichen früheren Studien bekannt ist, dass die erfolgreiche Behandlung einer Kopfschmerzattacke
zu einer signifikanten Reduktion der Blutspiegel auf Baseline-Niveau führt, sodass
dies bspw. eine alternative Erklärung für die niedrigen CGRP-Baseline-Spiegel in cCKS
(und aktiven eCKS)-Patienten sein könnte [[1]]. Weiterhin sollte auch die Einnahme einer Prophylaxe als konkurrierende Ursache
in Betracht gezogen werden, da aus einer anderen Studie bekannt ist, dass auch die
Einnahme einer Prophylaxe zu einer Reduktion der CGRP-Spiegel führen kann [[2]]. In der vorliegenden Studie nahm ein Teil der Patienten in allen drei Gruppen eine
Prophylaxe ein. PACAP wurde bereits in einer kleinen explorativen Studie in Clusterkopfschmerz-Patienten
während spontaner Kopfschmerz-Attacken und in Remission untersucht, hier zeigten sich
iktal erhöhte PACAP38-Spiegel [[3]].
Zusammenfassend liefert die Studie interessante Ergebnisse, die aufgrund der Einschränkungen
allerdings mit Vorsicht interpretiert werden sollten und die die Fallstricke der klinischen
Forschung in Bezug auf Neuropeptide deutlich werden lässt. Die erneute Durchführung
in einer größeren Studienpopulation mit entsprechenden Untergruppen (z. B. Einnahme
einer Akutmedikation, Einnahme einer Prophylaxe) wäre sicherlich ein Gewinn.
Katharina Kamm, München
INFORMATION
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Exzellente Arbeit, die bahnbrechende Neuerungen beinhaltet oder eine ausgezeichnete
Übersicht bietet
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Gute experimentelle oder klinische Studie
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Gute Studie mit allerdings etwas geringerem Innovationscharakter
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Studie von geringerem klinischen oder experimentellen Interesse und leichteren methodischen
Mängeln
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Studie oder Übersicht mit deutlichen methodischen oder inhaltlichen Mängeln
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Die Kopfschmerz-News werden betreut von: Priv.-Doz. Dr. Ruth Ruscheweyh, Klinik und
Poliklinik für Neurologie, Klinikum der Universität München, Marchioninistr. 15, 81377
München, Tel. 089/440073907, ruth.ruscheweyh@med.uni-muenchen.de
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