Pneumologie 2019; 73(09): 533-537
DOI: 10.1055/a-0977-5276
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Dysphagie bei tracheotomierten Patienten nach Langzeitbeatmung

Dysphagia in Tracheostomized Patients after Long-Term Mechanical Ventilation – Become Sensitive to Reduced Pharyngo-Laryngeal Sensitivity
M.-D. Heidler
Neurologisches Rehabilitationszentrum (N1), Brandenburg Klinik, Bernau
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Korrespondenzadresse

Dr. phil. Maria-Dorothea Heidler
Neurologisches Rehabilitationszentrum (N1)
Brandenburg Klinik
Johann-Strauß-Straße 4
16321 Bernau

Publication History

Publication Date:
18 September 2019 (online)

 

Zusammenfassung

Unabhängig von der Art der kritischen Erkrankung haben tracheotomierte Patienten ein hohes Risiko für die Entwicklung einer Schluckstörung. Diese ist potenziell lebensbedrohlich, da sie zu Aspiration und Pneumonie führen kann. Vor einer oralen Nahrungsgabe sollte daher unbedingt eine Schluckdiagnostik mittels Bolusfärbetest und/oder FEES durchgeführt werden. Da ein physiologischer Luftstrom durch den Larynx und ein adäquater subglottischer Druck Schlüsselkomponenten eines effektiven Schluckaktes sind, sollte eine Oralisierung bei geblockter Trachealkanüle möglichst vermieden werden.


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Abstract

Independent of the type of critical illness, tracheostomized patients have a high risk of developing a dysphagia. This is potentially life-threatening as it can lead to aspiration and pneumonia. It is therefore essential to perform swallowing diagnostics by means of a bolus dyeing test and / or FEES before oral feeding. Since a physiological airflow through the larynx and adequate subglottic pressure are key components of an effective swallowing act, oralisation should be avoided as far as possible with a blocked tracheal cannula.


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Dysphagien sind eine häufige und potenziell lebensbedrohliche Komplikation bei langzeitbeatmeten tracheotomierten Patienten. Denn sie können zu Aspiration (Eindringen von Speichel und Nahrung in die Luftwege) und einer sich daraus entwickelnden Pneumonie führen [1]. Bevor diese Patienten auf orale Ernährung umgestellt und mit einem Sprechventil versehen werden, muss daher unbedingt die Schluckfähigkeit geprüft werden.

Was führt zur Schluckstörung bei Intubation und geblockter Trachealkanüle?

Bereits eine prolongierte endotracheale Intubation ≥ 48 h ist – unabhängig von der zugrunde liegenden kritischen Erkrankung – ein eigenständiger Prädiktor für eine Dysphagie [2] [3]. Die Ursachen sind vielfältig und reichen von Stimmlippenulzerationen und laryngealen Ödemen bis hin zu Muskelatrophie und einer reduzierten Propriozeption [4], welche die Schluckreflexauslösung verzögern und die laryngeale Elevation beeinträchtigen können.

Eine geblockte Trachealkanüle bietet Vorteile gegenüber einem Tubus: So beugt sie u. a. Larynxschäden vor, ermöglicht durch transstomatale Absaugung eine effektivere Tracheo-Bronchial-Toilette, erfordert keine Sedierung und bietet (vor allem unter Entblockung mit Sprechventilaufsatz) eine gute visuelle Kontrolle über Menge und Zeitpunkt von Aspiration [5]. Ihre Nachteile sind jedoch vor allem im Hinblick auf Schluckfunktionen zahlreich (vgl. [Abb. 1]):

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Abb. 1 Mechanismen bei der Entwicklung einer Dysphagie bei Patienten mit geblockter Trachealkanüle (TK): Ein fehlender physiologischer Luftstrom durch Pharynx und Larynx führt zur Desensitivierung und Deprivation von Schluck- und Hustenreflex. Dadurch erhöht sich das Risiko für (vor allem stille) Aspiration. Aspirat wiederum kann nicht effektiv abgehustet werden und verbleibt in der stark keimbelasteten „Jammerecke“ oberhalb des Cuffs. Der geblockte Cuff wirkt als „Anker“ und kann die natürliche Kehlkopfhebung derart einschränken, dass der obere Ösophagussphinkter (oÖS) nicht mehr suffizient öffnet, Speichel und Nahrung sich aufstauen und durch die ubiquitär reduzierte Sensibilität vermehrt aspiriert werden.
  • Eine länger liegende geblockte Trachealkanüle vermehrt die Schleimproduktion und vermindert die natürliche Larynxhebung während des Schluckens. So können Speichel und Nahrung leichter aspiriert werden. Die Larynxelevation kann unter Umständen so stark eingeschränkt sein, dass der obere Ösophagussphinkter nicht mehr suffizient öffnet [1].

  • Ein physiologischer Luftstrom durch Larynx, Pharynx, Nase und Mundraum ist ein wichtiger Anreiz, um das Spontanschlucken auszulösen. Fehlt dieser Reiz, sinkt die Schluckfrequenz rapide ab [6]. Zudem führt der fehlende Luftstrom zu ausgeprägten Sensibilitätsbeeinträchtigungen aufgrund mangelnder Stimulation von Chemo- und Druckrezeptoren in der Larynxschleimhaut, sodass Schluck- und Hustenreflex deprivieren können [7]. Durch eine fehlende laryngeale Sprengung und einen unzureichenden intrathorakalen Druckaufbau kann aspiriertes Material zudem nicht effektiv abgehustet werden.

Merke

Das bedeutet, dass alle via Trachealkanüle invasiv langzeitbeatmeten Patienten unabhängig von der Art ihrer kritischen Erkrankung ein hohes Risiko für die Entwicklung einer Schluckstörung haben [8], die wiederum mit einem schlechten Outcome und einer erhöhten Letalität assoziiert ist [9].

Insbesondere ältere langzeitbeatmete Patienten haben ein erhöhtes Aspirationsrisiko aufgrund ihrer reduzierten kardiopulmonalen, neuromuskulären und metabolischen Reservekapazitäten [10] sowie oft zahlreicher Komorbiditäten [11]. Zudem leiden 50 % der Patienten, die zum Zeitpunkt ihres Erwachens > 7 Tage beatmet wurden, unter einer „ICU-acquired weakness“ (ICUAW) [12], die meist auch die Atemmuskulatur betrifft, sowie an einer Atrophie des Zwerchfells (ventilator induced diaphragmatic dysfunction, VIDD) infolge von Inaktivierung [13]. Eine verminderte muskuläre Kraft verzögert wiederum das Weaning und potenziert die Dysphagie, da aspiriertes Material und Sekret hierdurch nicht effektiv abgehustet werden können.

Dennoch werden viele Patienten mit geblockter Trachealkanüle auf der Intensivstation oralisiert oder mit einem Sprechventil versehen, ohne dass zuvor ihre Schluckfähigkeit ausreichend untersucht wurde. In einer Studie von auf der Intensivstation oralisierten Patienten (n = 43) zeigten am Aufnahmetag in die neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation 65 % eine schwere Dysphagie mit Aspiration; 71 % dieser Patienten aspirierten sogar still, d. h. ohne klinische Anzeichen, aufgrund der pharyngolaryngealen Sensibilitätsminderung und des deprivierten Hustenreflexes [14].


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Eine Schluckuntersuchung ist vor oraler Nahrungsgabe dringend indiziert!

Merke

Vor dem Wechsel auf eine (ungeblockte) Sprechkanüle, dem Aufsatz eines Sprechventils und einer oralen Ernährung sollte bei allen tracheotomierten Patienten unbedingt die Schluckfähigkeit geprüft werden. Dies ist auch bei beatmeten Patienten möglich.

Entsprechend der S1-Leitlinie „Neurogene Dysphagien“ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) [15] und der aktuellen S2k-Leitlinie „Prolongiertes Weaning in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation“ der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation (DGNR) [16] bieten sich hierfür prinzipiell 2 diagnostische Verfahren an.

Apparative Schluckdiagnostik

Die apparative Schluckdiagnostik kann mittels FEES (= Flexible Endoscopic Evaluation of Swallowing, [Abb. 2]) transnasal sowie zusätzlich transstomatal erfolgen [17]. Zur Schweregradeinteilung von Penetration und Aspiration hat sich die Penetrations-Aspirations-Skala (PAS) von Rosenbek et al. etabliert [18] ([Tab. 1]).

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Abb. 2 FEES-Befunde (FFES = Flexible Endoscopic Evaluation of Swallowing) nach Gabe eines angefärbten Bolus. a Phyiologischer Befund: postdeglutitiv keine Bolusresiduen. b Pathologischer Befund: ubiquitär Bolusresiduen, die nachfolgend aspiriert werden können.
Tab. 1

Penetrations-Aspirations-Skala (PAS) [17].

Grad

1

Material penetriert nicht

2

Material penetriert, liegt oberhalb der Glottis, wird aus dem Aditus laryngis entfernt (Räuspern/Husten)

3

Material penetriert, liegt oberhalb der Glottis, wird nicht aus dem Aditus laryngis entfernt

4

Material penetriert, liegt auf den Stimmlippen, wird aus dem Aditus laryngis entfernt

5

Material penetriert, liegt auf den Stimmlippen, wird nicht aus dem Aditus laryngis entfernt

6

Material wird aspiriert, wird in den Aditus laryngis oder weiter nach oben befördert

7

Material wird aspiriert, kann trotz Anstrengung nicht aus der Trachea herausbefördert werden

8

Material wird aspiriert, kein Versuch, es aus der Trachea herauszubefördern

  • Bei PAS Grad 1 – 2 ist eine komplikationslose orale Ernährung und Entblockung der Trachealkanüle möglich.

  • Zeigt sich in der FEES eine Penetration oder Aspiration mit noch vorhandenen Schutzreflexen (PAS Grad 3 – 6), sollten vorerst eine enterale Ernährung sowie eine logopädische Schlucktherapie erfolgen. Die Trachealkanüle kann zur Verbesserung der Sensibilität mittels physiologischer Luftstromlenkung in der Therapie minuten- oder stundenweise entblockt werden. Jedoch ist die Qualität des Speichelabschluckens bei fluktuierendem Allgemeinzustand regelmäßig zu evaluieren.

  • Fehlen Schutzreflexe oder sind diese insuffizient (PAS Grad 7 – 8 mit stiller Aspiration), muss neben enteraler Ernährung die Trachealkanüle zum Schutz der Atemwege geblockt werden.


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Klinische Schluckdiagnostik

Als nicht apparative und einfach zu applizierende Alternative zur Beurteilung von Aspiration bietet sich ein Speichel- oder Bolusfärbetest an, der eine hohe Sensitivität und Spezifität hat. Bei diesem werden einige Tropfen eines grünen oder blauen Lebensmittelfarbstoffs auf dem hinteren Teil der Zunge platziert [19] [20]. Der Cuff sollte hierfür möglichst entblockt und ein Sprechventil aufgesetzt werden, damit zudem Stimmqualität („wet dysphonia“ bei Penetration) und die Effektivität des Hustenstoßes beurteilt werden können. Da aber auch ein geblockter Cuff nie zu 100 % dicht ist und bereits nach 15 min für aspiriertes Material durchlässig wird [21], ist die Aspiration des Farbstoffs häufig auch bei geblocktem Cuff sichtbar ([Abb. 3]).

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Abb. 3 Positiver Speichelfärbetest bei einem Patienten mit ausgeprägter stiller Aspiration (PAS Grad 8). Trotz optimaler Blockung nach 30 min deutlich sichtbare Aspiration des Anfärbemittels. Dauerblockung der Trachealkanüle, enterale Ernährung sowie logopädische Therapie erforderlich.

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Voraussetzungen für eine orale Ernährung

Generell sollte mit einer Oralisierung erst dann begonnen werden, wenn ein Patient

  • ausreichend wach und kognitiv wenig beeinträchtigt ist,

  • reflektorisch und/oder willkürlich abhusten kann,

  • keine akuten pulmonalen Komplikationen/Infekte bestehen und

  • die Trachealkanüle entblockt und mit einem Sprechventil versehen werden kann.

Auf eine Nahrungsgabe bei geblockter Trachealkanüle sollte möglichst verzichtet werden, da unter Blockung Aspiration von Nahrung unter Umständen nicht bemerkt wird (z. B. wenn ein fester Bolus auf dem Cuff liegen bleibt) und der Patient aspiriertes Material nicht physiologisch abhusten kann, auch wenn die Sensibilität hierfür ausreichend sein mag. Zudem sind vor allem

  • ein physiologischer Luftstrom und

  • ein ausreichend hoher subglottischer Druck

die Schlüsselkomponenten eines effektiven Schluckaktes [6].

Merke

Ist eine Entblockung nicht möglich (z. B. bei beatmeten Patienten), sollte eine orale Nahrungsgabe nur nach apparativer (FEES) oder klinischer Schluckuntersuchung (Speichelfärbetest) erfolgen.

Eine dauergeblockte Trachealkanüle ist daher prinzipiell keine absolute Kontraindikation gegen eine orale Ernährung: Falls es nicht möglich ist, einen Patienten aufgrund respiratorischer Probleme nicht vom Beatmungsgerät zu diskonnektieren oder die Trachealkanüle zu entblocken, er jedoch wach sowie kognitiv unbeeinträchtigt ist und nicht aspiriert, kann er selbstverständlich oralisiert werden.


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Schlussfolgerungen

Schluckstörungen mit Aspiration von Speichel und Nahrung sind eine häufige Komplikation bei tracheotomierten Patienten nach Langzeitbeatmung, unabhängig von der zugrunde liegenden kritischen Erkrankung [8]. Ursächlich sind u. a. ubiquitäre Sensibilitätsbeeinträchtigungen sowie eine Deprivation von Schluck- und Hustenreflex durch den fehlenden pharyngolaryngealen Luftstrom infolge einer über längere Zeit geblockten Trachealkanüle. Eine orale Nahrungsgabe ohne vorherige Abklärung von Schluckvermögen und Aspirationsausmaß ist deshalb grob fahrlässig.

Selbstverständlich ist eine orale Ernährung im Hinblick auf Lebensqualität, Selbstständigkeit und soziale Teilhabe anzustreben – jedoch nicht um den Preis von Aspiration und damit einhergehenden respiratorischen und infektiologischen Komplikationen. Im Rahmen eines logopädischen Trachealkanülen-Managements kann die Sensibilität durch schrittweises Entblocken der Trachealkanüle und physiologische Luftstromlenkung meist sukzessiv wiederhergestellt werden [1] [16].

Kernaussagen
  • Alle tracheotomierten langzeitbeatmeten Patienten haben aufgrund des fehlenden pharyngo-laryngealen Luftstromstimulus ein hohes Risiko, eine Dysphagie zu entwickeln.

  • Häufig kommt es hierbei zu stiller Aspiration, die potenziell lebensbedrohlich ist.

  • Vor einer oralen Nahrungsgabe ist daher unbedingt eine Schluckuntersuchung durchzuführen – entweder apparativ mittels FEES oder klinisch mittels Speichelfärbetest (am effektivsten unter Entblockung mit Sprechventilaufsatz).


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Interessenkonflikt

Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. phil. Maria-Dorothea Heidler
Neurologisches Rehabilitationszentrum (N1)
Brandenburg Klinik
Johann-Strauß-Straße 4
16321 Bernau


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Abb. 1 Mechanismen bei der Entwicklung einer Dysphagie bei Patienten mit geblockter Trachealkanüle (TK): Ein fehlender physiologischer Luftstrom durch Pharynx und Larynx führt zur Desensitivierung und Deprivation von Schluck- und Hustenreflex. Dadurch erhöht sich das Risiko für (vor allem stille) Aspiration. Aspirat wiederum kann nicht effektiv abgehustet werden und verbleibt in der stark keimbelasteten „Jammerecke“ oberhalb des Cuffs. Der geblockte Cuff wirkt als „Anker“ und kann die natürliche Kehlkopfhebung derart einschränken, dass der obere Ösophagussphinkter (oÖS) nicht mehr suffizient öffnet, Speichel und Nahrung sich aufstauen und durch die ubiquitär reduzierte Sensibilität vermehrt aspiriert werden.
Zoom Image
Abb. 2 FEES-Befunde (FFES = Flexible Endoscopic Evaluation of Swallowing) nach Gabe eines angefärbten Bolus. a Phyiologischer Befund: postdeglutitiv keine Bolusresiduen. b Pathologischer Befund: ubiquitär Bolusresiduen, die nachfolgend aspiriert werden können.
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Abb. 3 Positiver Speichelfärbetest bei einem Patienten mit ausgeprägter stiller Aspiration (PAS Grad 8). Trotz optimaler Blockung nach 30 min deutlich sichtbare Aspiration des Anfärbemittels. Dauerblockung der Trachealkanüle, enterale Ernährung sowie logopädische Therapie erforderlich.