Balint Journal 2019; 20(03): 89-90
DOI: 10.1055/a-0985-2413
Leserbrief
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Leserbrief

Heide Otten
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Publication Date:
20 September 2019 (online)

Leserbrief zum Beitrag W. Schüffel et al. Szenen eines deutsch-deutschen Trialoges – Wie politisch ist das Ringen um Salutogenese? Balint 2019; 20: 4–15

Günther Bergmann schlägt vor, den angebotenen Trialog als „Balintfall“ zu betrachten und den Inhalt wie ein Großgruppenmitglied im Außenkreis wahrzunehmen und sich auf diese Weise als Leserin einbeziehen zu lassen. Eine interessante Aufforderung, die nicht ganz leicht fällt.

Eine Balintgruppe beschäftigt sich mit einer Arzt-Patient-Beziehung, die geklärt werden will. Es geht also um Verständnis für die Position des Patienten und die des Arztes, um Missverständnisse, um Schwierigkeiten der Annäherung, der Zusammenarbeit auszuräumen, Empathie zu entwickeln.

Wir finden in dem Artikel – wenn wir dem Gedanken folgen – eine Kleingruppe von 3 alten Herren. Der Referent stellt die Psychosomatik/Psychotherapeutische Medizin in ihrer Entwicklung in Ost- und Westdeutschland vor. Der Patient ist also das Fach Psychosomatik/Psychotherapeutische Medizin. Die Gruppenmitglieder kennen diesen Patienten alle, sie bringen unterschiedliche Erfahrungen mit, stehen ihm nahe, haben ihn erlebt in unterschiedlichen Begegnungen.

Das scheint eine Besonderheit für diese Balintgruppe, dass alle Mitglieder den Patienten kennen. Andererseits assoziieren Gruppenmitglieder einer Balintgruppe immer auch eigene Patienten mit dem Vorgestellten. So könnten wir uns dem Inhalt der Gruppendiskussion nähern.

Was nehmen wir in der Außengruppe vom Geschehen in der Kleingruppe wahr?

Da fällt gleich zu Beginn eine krasse Behauptung und erweckt mein Interesse in der Außengruppe: „Er kann das als Westdeutscher nicht (verstehen) … „

Ende der Diskussion? Hier wird Empathie, sich einfühlen können, einen Perspektivwechsel vornehmen können grundsätzlich in Frage gestellt, als unmöglich beschrieben.

Dabei ist genau das die Grundvoraussetzung für die Balintarbeit. Die Gruppe spiegelt die Emotionen, die in der vorgestellten Beziehung vorhanden sind. In der Gruppenarbeit nähern wir uns den Positionen der beiden – Arzt und Patient – an. Gehen wir davon aus, dass sowieso niemand den Patienten verstehen kann, so müssen wir die Arbeit als gescheitert betrachten.

„Beziehungsmedizin soll zumindest eine Gesprächsbereitschaft ermöglichen“ höre ich weiter aus der Gruppe. Gut, also doch ein Versuch der Verständigung, die Bereitschaft, einander zuzuhören und um Verstehen zu ringen.

Es folgt eine Erklärung zur Entwicklung aus „westlicher Sicht“ mit dem Versuch der Würdigung der Entwicklung der Psychosomatik in Ost und West.

Dann hören wir einen Dialog – hier in Form eines Briefwechsels. Nähert sich die Balint-Kleingruppe damit dem Verständnis für die unterschiedlichen Seiten und Entwicklungsschritte unseres Patienten und unseres Referenten an? Wir lernen die beiden Seiten Ost und West kennen und damit die Einflüsse auf das Heranwachsen der Psychosomatik/Psychotherapeutischen Medizin wie sie heute in Gesamtdeutschland erscheint.

„Wir wissen sehr gut, dass die Erinnerung meist dazu dient, die gegenwärtige Situation und Meinung des Schreibers zu bestätigen“. Ok, so werden wir den Bericht des Patienten über seine Situation in unserer Alltagspraxis zu würdigen wissen. So weit so gut. Die Balintgruppe allerdings spürt mit ihren Fantasien weitere Möglichkeiten des Verständnisses der Vergangenheit auf.

Hiernach suche ich in der weiteren Kleingruppenarbeit. Ich bekomme mehr den Eindruck, dass die Gruppenmitglieder einander von der eigenen Position und Denkweise überzeugen möchten, anstatt neugierig auf die Sichtweise des anderen zu sein. Fantasien über die anderen Aspekte finde ich zunächst nicht. Balint nannte das die „apostolische Mission“.

Das geht so weit, dass ein Gruppenmitglied dem anderen erklärt, was er eigentlich mit seinen Ausführungen sagen wollte. „Es ging und geht um Freiheit“.

W. Stucke als Gruppenleiter hätte an dieser Stelle in der Balintgruppe vermutlich kommentiert: „Hören Sie sich das ruhig an, es ist das Erleben des Kollegen W.S., das muss nicht auf Sie zutreffen“.

Ohne Gruppenleiter bleibt die Interpretation des Gruppenmitglieds W.S. als Wahrheit im Raum.

Ohne Leiter muss das Gruppenmitglied M.G. sich erklären. Dabei versucht er den Gedanken von W.S. zu verstehen. Ging es ihm um die Frage nach der Verpflichtung des Psychotherapeuten zu konkretem politischem Handeln?

Nun wird es interessant für den Zuhörer im Außenkreis. Nun geht es darum, den Patienten „Psychosomatik/Psychosomatische Medizin“ in allen Facetten zu verstehen: der Arzt in seiner Funktion als Therapeut in der Beziehung zum Patienten, der Arzt als politischer Mensch mit seinen Möglichkeiten, die begrenzt und auch unterschiedlich sein können, die Gratwanderung, die der verantwortliche homo politicus gehen muss. M.G. lässt uns teilhaben an seinem Weg. Das öffnet die Möglichkeit, dass wir auch von W.S. über seine Sozialisation etwas erfahren. Es klingt für mich als Zuhörer immer wieder eine Wertung, eine Überheblichkeit durch.

Ich höre den Satz: „Was haben wir hiervon verinnerlicht und wie werden wir hierauf hin beurteilt von denjenigen, die aus einer gemeinsamen langen deutschen Geschichte heraus fünfzig Jahre von uns im Westen getrennt waren?“ mit gemischten Gefühlen.

Haben die „Wartburggespräche“ zu einem besseren Verständnis und zu „einer sich neuartig entwickelnden Psychosomatik“ beigetragen? Das bleibt offen. Hier fehlt mir eine Gegenrede. Der Dialogteil – der Briefwechsel, die Stimmen aus beiden Richtungen Ost und West - enden zu früh.

Es folgt ein Monolog, der die „Stimmige Verbundenheit“ bemüht. Balints Warnung vor dem „Zuckerguss" als Prozess in der Gruppendynamik kommt mir in den Sinn.

Natürlich hat auch in der Balintgruppe der Referent, der seinen Patienten vorgestellt hat, die Möglichkeit des abschließenden Kommentars, immer in der Hoffnung, dass der Gruppenprozess weiter wirkt, dass neue Erkenntnisse sowohl für den Referenten bei nächsten Begegnungen mit dem Patienten als auch für die Gruppenmitglieder – auch die Teilnehmer im Außenkreis einer Großgruppe – durch weitere Reflexion entstehen.

Und so klingt in mir als Teilnehmer im Außenkreis nach „Er kann das als Westdeutscher nicht verstehen …“ Ich werde das Buch, um das es hier geht und das Michael Geyer herausgegeben hat, „Psychotherapie in Ostdeutschland“, nun mit besonderer Neugier und großem Interesse lesen und werde mir herausnehmen, es ebenso zu verstehen, wie es mir mit meinen Möglichkeiten und Erfahrungen gelingt. Auf alle Fälle wird es – wie jedes Narrativ – eine spannende Diskussionsgrundlage sein.