Einleitung
Am 31.12.2018 wurde die neue Leitlinie zur medizinischen Kompressionstherapie verabschiedet
und unter der AWMF-Registernummer 037/005 online publiziert. Die Leitlinie ist für
jeden auf der Homepage der AWMF https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/037-005.html
zugänglich. Die Erstellung dieser Leitlinie erfolgte unter Federführung der Deutschen
Gesellschaft für Phlebologie, Koordinator der Leitlinie war Prof. Dr. Eberhard Rabe.
An der Leitlinie waren zahlreiche Fachgesellschaften (DGP, DDG, DGA, DGG, GDL, DGL,
der Berufsverband der Phlebologen) und mehrere andere Professionen z. B. Vertreter
der Pflege beteiligt. Im Folgenden werden die wichtigsten Aspekte der Leitlinie herausgegriffen
(jeweils kursiv gedruckt) und die Relevanz im Vergleich zu den bisherigen Leitlinien
im deutschsprachigen Raum kurz kommentiert.
Die vorliegende Leitlinie fasst die relevanten Aspekte zur Anwendung der Kompressionstherapie
mit Medizinischen Kompressionsstrümpfen (MKS), Phlebologischen Kompressionsverbänden
(PKV) und Medizinischen adaptiven Kompressionssystemen (MAK) […] mit dem Stand bis
Dezember 2018 zusammen.
Kommentar Erstmalig werden in einer deutschen Leitlinie MKS und PKV gemeinsam behandelt, so
dass die unterschiedlichen Indikationsgebiete deutlicher herausgestellt werden können.
Neu aufgenommen sind die MAK, die eine wichtige Innovation der letzten Jahre im Bereich
der Kompression darstellen.
Während PKV (mit Binden, Bindensystemen) oder MAK üblicherweise in der Entstauungsphase
zum Einsatz kommen, werden MKS oder Ulcus-Strumpfsysteme in der längerfristigen Therapie-
und Erhaltungsphase und MKS in der Prävention genutzt […].
Empfehlung 24 In der Entstauungsphase können sowohl mehrlagig angelegte Kompressionsbinden als auch
Mehrkomponentensysteme verwendet werden, die sich insbesondere bei Ulcus cruris venosum
Patienten bewährt haben […].
Empfehlung 26 Nach initialer Entstauungsphase sollte die Therapie bei Ulcus cruris venosum Patienten
in geeigneten Fällen vom PKV auf zweilagige Ulkus Kompressionsstrumpfsysteme zur längerfristigen
Therapie umgestellt werden.
Kommentar Erstmalig wird in einer Leitlinie zur Kompressionstherapie auch für phlebologische
Indikationen die Entstauungsphase von der Erhaltungsphase unterschieden, wie wir es
schon bei der Therapie von Lymphödemen kennen. Bedeutung der gegebenen Empfehlungen:
„kann“ bedeutet eine relativ schwache Empfehlung, „sollte“ eine stärkere Empfehlung
und die Formulierung „soll“ eine sehr starke Empfehlung. Gerade für Ulcus cruris venosum
Patienten legt die Leitlinie in der Entstauungsphase einen Schwerpunkt auf Mehrkomponentensystemen.
Wichtig für die Praxis ist die relativ starke Empfehlung, nach der initialen Entstauungsphase
bei Ulcus cruris venosum Patienten in geeigneten Fällen von PKV auf zweilagige Ulkus
Kompressionsstrümpfe umzustellen. Dies bedeutet in der täglichen Praxis, dass nach
einer Zeit von wenigen Wochen entweder die Therapie umgestellt oder aber in den Patientenunterlagen
nachvollziehbar dokumentiert werden sollte, warum die Umstellung von PKV auf zweilagige
Ulkus Strumpfsysteme nicht durchführbar war. Eine kommentarlose langfristige Kompressionstherapie
mit Bandagen beim Ulcus cruris venosum kann es aufgrund dieser Leitlinienempfehlung
nicht mehr geben.
Empfehlung 4 Bei relativ großen Umfangsänderungen an einer Extremität bzw. konisch geformten Extremitäten
sowie bei vertieften Gewebefalten soll in der Regel eine flachgestrickte Qualität
verordnet werden, da bei bestimmten anatomischen Verhältnissen rundgestricktes Material
nicht zur Versorgung geeignet ist. So können zum Beispiel bei schwerer chronischer
venöser Insuffizienz, bei ausgeprägten Lymph- und Lipödemen sowie bei adipösen Patienten
sehr große Umfangsänderungen bzw. vertiefte Gewebefalten entlang des Beins oder Arms
vorliegen.
Empfehlung 5 Aufgrund der Strickart weisen flachgestrickte MKS in der Regel eine höhere Stiffness
aber auch eine höhere Biegesteifigkeit auf. Diese Eigenschaften sollten bei der Versorgung
von Patienten mit Lymph- oder Lipödemen, bei schwerer chronischer venöser Insuffizienz
(CVI), Adipositas aber auch bei Neuropathien und arterieller Verschlusskrankheit zur
Vermeidung von Druckspitzen durch Einschnürungen genutzt werden.
Kommentar Mit starkem Empfehlungsgrad wird bei der Verordnung von Flachstrickware als Alternative
zur Rundstrickware nicht auf eine bestimmte Diagnose, sondern auf bestimmte Befunde
des Patienten abgehoben, die bei unterschiedlichen Diagnosen wie CVI, Lymph- und Lipödem
und Adipositas auftreten können. Der entscheidende Unterschied von Flachstrickware
im Vergleich zur Rundstrickware liegt in folgenden 3 Punkten:
-
höhere Stiffness (höheres Verhältnis von Arbeitsdruck zu Ruhedruck, besonders bei
therapieresistenten Ödemen wichtig)
-
höhere Biegesteifigkeit (erschwertes Reinrutschen der Flachstrickware in Falten, hierdurch
seltener Schnürfurchen)
-
Maschen bei Flachstrickware individuell auf- oder abzunehmen (daher Anpassung an außergewöhnliche
Bein-, Arm- oder Leibesumfänge möglich)
Empfehlung 9 Bei Patienten mit Ulcus cruris venosum soll nach der Entstauung die MKS Behandlung
als Alternative zum PKV geprüft werden.
Kommentar Diese starke Empfehlung hat für die Praxis die Konsequenz, dass sorgfältig dokumentiert
werden muss, wenn nach einigen Wochen Entstauungsphase keine Umstellung vom PKV zum
MKS erfolgt. Damit muss eine mehrmonatige oder mehrjährige PKV Versorgung bei Patienten
mit Ulcus cruris venosum begründet werden.
Empfehlung 10 Wenn eine Kompressionstherapie bei Ulcus cruris venosum- Patienten mit MKS durchgeführt
wird, sollten zweilagige Ulkus cruris-MKS verwendet werden.
Kommentar Begründet wird diese Empfehlung mit der besseren Praktikabilität der zweilagigen
Systeme, aber auch der höheren Stiffness. Die höhere Stiffness führt zu einer rascheren
und besseren Abheilung des Ulcus cruris venosum.
Empfehlung 13 Die Strumpfart und die Stärke des erforderlichen Andrucks, d. h. die KKL, sind abhängig
von der Diagnose, der Lokalisation der Abflussstörung, dem klinischen Befund und der
Schwere der Beschwerden und Veränderungen (z. B. Schwere des Ödems). Eine starre Zuordnung
einer KKL zu einer Diagnose ist nicht sinnvoll. Ziel der Kompressionstherapie ist
die Besserung des klinischen Befundes.
Kommentar Die Leitlinie hebt hier sehr hervor, dass die Kompressionstherapie orientiert an
dem klinischen Befund und der Schwere der Beschwerden und Veränderungen gewählt werden
soll. Für den Patienten ist von großer Bedeutung, dass sich seine Beschwerden tatsächlich
verbessern. Eine quasi dogmatische Zuteilung der Kompressionstherapie bei bestimmten
Diagnosen unabhängig von den eigentlichen am individuellen Patienten konkret nachweisbaren
Beschwerden ist damit nicht sinnvoll! Ziel der Kompressionstherapie ist immer auch
die Verbesserung der Lebensqualität. Die Kompressionstherapie ist so zu wählen, dass
es dem Patienten mit Kompressionstherapie besser geht als ohne.
Empfehlung 14 Es soll immer die niedrigste wirksame KKL bevorzugt werden. Dies unterstützt die Adhärenz
mit der Kompressionstherapie.
Kommentar Auswertungen der Verordnungspraxis haben gezeigt, dass die am häufigsten verordnete
Kompressionsklasse die KKL II ist. Dies ist rational nicht nachweisbar, da KKL I häufig
völlig ausreichend ist, um die Beschwerden zu lindern, aber doch von den Patienten
etwas leichter angezogen werden kann, als z. B. ein KKL II Produkt. Auch diese Empfehlung
weist auf das Prinzip hin, dass die individuellen Gegebenheiten bei einem konkreten
Patienten sehr erheblich in die Auswahl des Kompressionsmittels einbezogen werden
müssen.
Das An- und Ausziehen der MKS durch ambulante Pflegedienste ist in allen KKL bei Bedarf
verordnungs- und erstattungsfähig.
Kommentar Seit Anfang 2018 kann damit auch KKL I von Pflegediensten an- und ausgezogen werden,
so dass auch diese früher relevante Begründung, KKL I nicht zu verordnen, jetzt entfallen
ist.
Verordnungsrelevante Indikationen für An-/Ausziehhilfen sind unter anderem:
-
Lähmungen
-
altersbedingte Kraftminderung
-
Arthrose/Rheuma
-
Adipositas per magna
-
weitgehende Wirbelsäulen-/Hüft-/Knieversteifungen
-
degenerative Erkrankungen der Hände/im Handbereich
-
Folgen von Verletzungen/Amputationen
Empfehlung 18 Bei eingeschränkter Beweglichkeit und Problemen beim An- und Ausziehen des MKS sollten
geeignete An- und Ausziehhilfen verordnet werden.
Kommentar An- und Ausziehhilfen werden bereits jetzt relativ häufig verordnet, um die Adhärenz
zur Kompressionstherapie zu steigern. Die o. a. Aufstellung enthält den bei unseren
alten Patienten sehr häufig besonders relevanten Punkt „altersbedingte Kraftminderung“.
Nicht selten haben tatsächlich weder unsere alten Patienten selber noch ihre Angehörigen
die Kraft, einen Kompressionsstrumpf anzuziehen. Daher ist es besonders wichtig, dass
die Leitlinie gerade auch diesen Punkt als verordnungsrelevante Indikation für An-/Ausziehhilfen
nennt. Zwar ist das Anziehen häufiger ein Problem als das Ausziehen. Trotzdem sollte
auch an Ausziehhilfen für MKS gedacht werden.
Phlebologischer Kompressionsverband (PKV) Die außerordentliche Komplexität des phlebologischen Kompressionsverbands wird in
folgender Klassifikation deutlich:
P-LA-C-E: Das Akronym P-LA-C-E benennt ein gebräuchliches Konzept zur Beurteilung
von Kompressionsverbänden. Hierbei werden die Verbände bewertet, nach:
-
P (pressure): Druck, den der Kompressionsverband auf die Extremität ausübt,
-
LA (layers): Überlappung, der Materialien, sowohl einzelner Komponenten als auch mehrerer,
übereinander,
-
C (components): Art der Materialien, aus denen sich die einzelnen Bestandteile zusammensetzen,
und
-
E (elasticity): Elastizität, die das Material befähigt, einen hohen Druck bei unbewegter
Extremität zu erzeugen.
Kommentar Die 4 unterschiedlichen Parameter zeigen deutlich, wie schwer phlebologische Kompressionsverbände
zu standardisieren sind. Letztlich ist dies auch der Grund dafür, dass die Leitlinie
zur Kompressionstherapie der Extremitäten so großen Wert auf die Umstellung der Kompressionstherapie
von Kompressionsbandagen auf Kompressionsstrümpfe nach Abschluss der Entstauungsphase
legt.
Materialverträglichkeit Der PKV ist in der Regel gut verträglich. Eine Allergie als Urtikaria (Soforttypallergie)
oder als Kontaktekzem (Spättypallergie) auf Polyamid, Elastan, Baumwolle oder Viskose
ist extrem selten. Latex oder Gummiinhaltsstoffe finden sich selten in Kompressionsbinden.
Kommentar Häufiger als allergische Reaktionen gibt es mechanisch bedingte Unverträglichkeiten
gegenüber Kompressionsmaterialien. Der von den Patienten immer noch gebräuchliche
„Gummistrumpf“ oder auch die Sorge, das Material könne Latex enthalten, ist in der
Regel unbegründet.
Es ist nicht erwiesen, dass eine bestimmte Bandagierungstechnik, z. B. nach Pütter,
Sigg, Fischer, einer anderen überlegen ist. […]
Empfehlung 23 Die folgenden Aspekte sollten bei der Kompressionsbandagierung beachtet werden:
-
Ein Schlauchverband aus Baumwolle, der bis unterhalb des Knies angezogen wird, dient
als Hautschutz.
-
Die Unterpolsterung kann dazu beitragen, Druckulzerationen zu vermeiden.
-
Druckpolster und Pelotten können die Effektivität zusätzlich verstärken.
-
Häufig beiliegende Fixierklammern (sog. „Schwiegermütter“) bergen ein Verletzungsrisiko
und dienen nur dem Fixieren der Binde außerhalb der Verpackung, nicht am Patienten
(siehe Herstellerinformation). Zum Befestigen des Bindenabschlusses sind Pflasterfixierstreifen
geeignet.
-
Die Bindenbreite orientiert sich an Form und Durchmesser des jeweiligen Körperteils.
-
Für eine sachgerechte Kompressionsversorgung sind in der Regel mindestens zwei Binden
erforderlich.
-
Der Fuß steht immer in Funktionsstellung (Dorsalextension).
-
Bereits zu Beginn ist auf guten Anlagedruck zu achten. Zu lockere Touren, z. B. am
Vorfuß, können zu Ödemausbildungen führen.
-
Die Bindenrolle wird unter permanentem Zug unmittelbar auf der Haut abgerollt, so
dass sich die Binde gleichmäßig an das Bein anmodelliert.
-
Ein zu straffes Anziehen einzelner Bindentouren stört das Druckgefälle. So kann es
bei Einschnürungen zu einer venösen Stauung (bis hin zur Erhöhung des Thromboserisikos),
nervalen Druckschäden oder Nekrosen kommen.
-
Bei ausgeprägten Vorfußödemen oder Lymphödemen, sind auch die Zehen mit zu komprimieren,
um einen Ödemeinfluss zu vermeiden.
Kommentar Erstmalig wird in der Leitlinie versucht, möglichst präzise die Grundlagen der Kompressionsbandagierung
wiederzugeben. Doch auch diese detaillierten Hinweise können eine fundierte praktische
Anleitung zur Kompressionstherapie nicht ersetzen.
Empfehlung 27 In der initialen Entstauungsphase beim Lymphödem und beim ausgeprägten venösen Ödem
sowie beim Ulcus cruris venosum können MAK als Alternative zur Bandagierung mit Binden
eingesetzt werden.
Kommentar Seit wenigen Jahren stehen neuartige Kompressionssysteme zur Verfügung die die Probleme
beim Anlegen der bisher zur Verfügung stehenden Kompressionsmittel für den Patienten,
bzw. auch für Therapeuten oder Pflegekräfte individuell minimieren sollen. Diese Kompressionssysteme
finden in der Entstauungsphase Anwendung. Aufgrund der deutlich einfacheren Anwendung
sind solche Systeme weniger zeitintensiv und weniger fehleranfällig in der Anlage
im Vergleich zu aufwändigen Kompressionsbandagierungen. Patienten, die noch ausreichend
beweglich sind oder deren Angehörige, können die MAK oft nach kurzer Einführung selbst
Anlegen. Dies erhöht die Adhärenz.
Indikation für medizinische Kompressionstherapie
Empfehlung 28 Die folgenden Indikationen für die medizinische Kompressionstherapie sollen berücksichtigt
werden: […]
Kommentar Auch in der Empfehlung zu den Indikationen, von denen hier nur ein kleiner Ausschnitt
abgedruckt ist, legt die Leitlinie großen Wert darauf, dass die Lebensqualität bei
den Patienten, welche mit Kompression versorgt werden, verbessert wird. Hieraus entsteht
eine große Verantwortung beim Arzt, aber auch beim Fachhandel, da sorgfältig die optimalen
Kompressionsmittel ausgewählt werden müssen. Nur ein gut ausgewähltes und gut passendes
Kompressionsmittel kann auch die volle Wirkung entfalten und dem Patienten den positiven
Verlauf/Unterschied zwischen ohne/mit Kompressionstherapie erlebbar machen. Dem Patienten
soll es mit Kompression besser gehen als ohne.
Empfehlung 29 Bei Diagnosestellung einer tiefen Beinvenenthrombose soll sofort mit einer Kompressionstherapie
begonnen werden.
Kommentar Völlig selbstverständlich ist es, sofort bei der Diagnose einer tiefen Beinvenenthrombose
mit der medikamentösen Thrombosetherapie zu beginnen. Meist erfolgt die erste Medikamentengabe
schon unmittelbar nach der Diagnose, ohne den Patienten erst aus der Praxis oder aus
der Klinik zur Apotheke zu schicken. Mit hohem Empfehlungsgrad („soll“) fordert die
Leitlinie aufgrund der aktuellen Studienlage, dass nicht nur die medikamentöse Therapie,
sondern auch die Kompressionstherapie sofort mit Beginn einer tiefen Beinvenenthrombose
begonnen werden sollte. Aufgrund der häufigen Schwellungen zum Zeitpunkt der Diagnosestellung
müssen die Patienten initial mit Kompressionsverbänden, unmittelbar nach Entstauung
mit einem Kompressionsstrumpf versorgt werden.
Insgesamt zeigt die Leitlinie eine Fülle von Anwendungsgebieten der Kompressionstherapie
auf, für die es eine sehr gute Evidenz gibt.