Eine strukturierte physiotherapeutische Diagnostik ist wegweisend für eine multimodale
Therapie, und man sollte sich an den dafür geltenden Gütekriterien orientieren. Diese
stehen für eine qualitative Auswahl der bestmöglichen Untersuchungstools und erleichtern
es, die Symptomatik im Kontext zu klinischem und theoretischem Hintergrundwissen individuell
zu beurteilen.
Beginnend mit der Anamnese, in der auch eine Abklärung von Kontraindikationen, einzuhaltender
Vorsichtsmaßnahmen und einer bestehenden Flaggenproblematik (z. B. psychosoziale Beurteilung)
erfolgen muss, ist eine körperliche Untersuchung bei Patienten mit kraniomandibulärer
Dysfunktion (CMD) standardisiert aufgebaut. Hierin erhebt man alle therapierelevanten
Daten, die nötig sind, um die Interventionen planen und durchführen zu können. Nur
so kann die multimodale Physiotherapie mit effektiven Maßnahmen, Eigenaktivität und
Training des Patienten und einer eventuell erforderlichen Patientenedukation diesem
gerecht werden.
Bei einer CMD ist im klinischen Alltag mit vielfältigen Symptomen zu rechnen, die
sich nicht alle auf nur eine Körperregion beziehen müssen. Es kommen Symptome im Gesichts-
oder Hirnschädel, den Zähnen, des kranialen Nervensystems, der Augen oder Ohren sowie
im Mund-, Rachen- und Halsbereich vor. Umso wichtiger erscheint eine strukturierte
Diagnostik. Je einheitlicher diese geplant und durchgeführt wird, desto durchgängiger,
zielgerichteter und individueller lässt sich die Behandlung und das erforderliche
Gesamtmanagement des Patienten gestalten.
Subjektive und objektive Untersuchung
Die physiotherapeutische Diagnostik bei CMD kann in eine subjektive und eine objektive
Untersuchung unterteilt werden ([ABB].). Beide Bestandteile liefern wichtige Daten, um den Therapieplan zu gestalten.
ABB. Physiotherapeutische DiagnostikkaskadeAbb.: Thieme Gruppe
Eine nach der Anamnese evaluierte Hypothese bezüglich der Problematik des Patienten,
inklusive möglicher Ursachen und beitragender Faktoren, ist die Grundlage der Therapie.
In der körperlichen Untersuchung werden Belege für die Hypothesen gesucht. Findet
man diese, erfolgt die Behandlung. Muss die Hypothese aus Mangel an Beweisen verworfen
werden, geht es zurück zur Diagnostik.
Inspektion
Bei Patienten mit CMD ist es wichtig, Symmetrie und Proportionen zu beurteilen. Die
Inspektion beinhaltet die intraoralen Befunde (z. B. Abrasionen, Rezessionen oder
Impressionen an Zunge oder Wange, Zahnstellungen, Aufbisssituation) und den extraoralen
Sichtbefund. Mit ihm checkt man die Symmetrie der Schädelknochen (z. B. Konvergenz-
oder Divergenzstellung) und die Gesichtsproportionen über die Drittel-Einteilung (horizontal
und vertikal) der Gesichtsfelder.
Aktive Bewegungsprüfung
In der aktiven Bewegungsprüfung zeigt der Patient, wie weit er bereit ist, die betroffene
Körperregion zu bewegen und zu belasten. Dies misst der Therapeut und vergleicht es
mit Normwerten.
Neurologische Untersuchung
Eine neurologische Untersuchung ist stets eine „Wenn-nötig-Untersuchung“. Sie wird
dann gebraucht, wenn Patienten neurologische Symptome aufweisen. Dann unterscheidet
man die Konduktionstests (Mandibularreflex, Lidschlussreflex, Sensibilität des N.
trigeminus und die Kraftentwicklung der Kaumuskulatur) von einer Untersuchung der
neurodynamischen Mobilitätsanpassung des N. trigeminus und der Mechanosensitivität
der mechanischen Kontaktstellen (mechanical interfaces) der Nerven mit dem umliegenden
Gewebe.
Passive Bewegungsprüfung
Die passive Bewegungsprüfung beurteilt vor allem die elastische Reserve im endgradigen
Bewegungsbereich und die Bewegungsanpassung der elastischen Strukturen (Führungsbänder,
Faszien, Gelenkkapsel) im Kontext zu den Symptomen. Sie kann auf neurofasziale und
muskuläre Strukturen ausgeweitet werden.
Palpation
Der Tastbefund sollte intra- und extraorale Strukturen ([TAB].) umfassen. Dabei lassen sich lokale Veränderungen an der Muskulatur, den kranialen
neuralen Strukturen, den kranialen Nervenaustrittstellen und den bindegewebigen/ligamentären
Strukturen lokalisieren und beurteilen. Häufig sind lokale Druckdolenzen, Schwellungsneigungen
oder Restriktionen/Limitationen in der Verschieblichkeit von bindegewebigen Hüllstrukturen
(faszial und neural) zu finden.
TAB. Zu palpierende Strukturen bei Patienten mit CM
intraorale Strukturen
|
extraorale Strukturen
|
-
Kiefergelenk
-
Gelenkkapsel
-
Mundschleimhaut
-
Kaumuskulatur
-
suprahyoidale Muskulatur
-
Mandibula
-
Maxilla
-
Gaumen
-
Zähne
|
-
Kiefergelenk (inkl. Kapselanteile)
-
Kau-, mimische Muskulatur
-
Mundboden
-
kraniale Nerven
-
neurale Austrittspunkte am Gesichtsschädel
-
Schädelknochen
-
infrahyoidale-, Subokzipitalmuskulatur
-
neurale Austrittspunkte der okzipitalen Region
-
HWS, BWS, Schultergürtel
|
Muskelfunktionstest
Der Muskelfunktionstest beurteilt die Funktionsbereiche der Muskulatur, den bestehenden
Synergismus der einzelnen Muskeln und hilft dabei, funktionsmotorische Defizite zu
lokalisieren. Man testet die Kommunikation zwischen Nerv und Muskel, Kontraktion,
Ermüdungswiderstandsfähigkeit und kontrollierte Relaxation.
Diagnostikkaskade im Auge behalten
Solange Patienten mit derselben Diagnose unterschiedliche Symptome zeigen, sind differenzierte
Untersuchungstechniken unerlässlich, um den individuellen Beschwerden gerecht zu werden.
Auch in der Behandlung sind folglich differenzierte Maßnahmen erforderlich. Mit dem
im Webinar (OPTICA-WEBINAR) vorgestellten Grundschema einer physiotherapeutischen
Diagnostik können CMD-assoziierte Beschwerden einfach analysiert, bewertet und beurteilt
werden. Halten Therapeuten die Untersuchungskaskade in Bezug auf Befund und Wiederbefund
konsequent ein, können sie im gesamten Verlauf der Therapie stets klinisch fundierte
Aussagen über die Effektivität der jeweiligen Behandlungstechnik und der Eigenübungen
machen.
Kay Bartrow
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Inhalte:
-
Inspektionskriterien, aktive und passive Bewegungsprüfung
-
Messung der Unterkiefermobilität, Muskelfunktionstest
-
Palpation der klinisch wichtigen Strukturen (extra- und intraoral)
www.optica.de/kiefer-untersuchen
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Seit 2017 gilt für Vertragszahnärzte eine neue Heilmittelrichtlinie. Was Sie als Therapeut
beachten sollten, hat Optica in einer kostenlosen Checkliste zusammengefasst. Download
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> „Ausgabe 10/19“.
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physiopraxis.
Eine Sonderpublikation von Optica Abrechnungszentrum Dr. Güldener GmbH, Marienstr.
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