Schlüsselwörter
Reizdarmsyndrom - funktionelle Dyspepsie - Pathophysiologie - Diagnostik - medikamentöse
Therapie - Psychotherapie
keyword
Irritable Bowel Syndrome - functional dyspepsia - pathophysiology - diagnostics -
drug therapy - psychotherapy
Die 33-jährige Patientin lebt mit ihrem Mann (seit 12 Jahren verheiratet) und den
beiden Kindern (Sohn 10 J., Tochter 4 J.) zusammen. Sie kümmert sich um den Haushalt,
ihr Mann arbeitet im Außendienst bei einer Technikfirma. Sie hat früher bei einer
Behörde im Büro gearbeitet; seit der Geburt der Kinder arbeitet sie nicht mehr. Sie
würde gern wieder arbeiten, traut sich dies aufgrund der Beschwerden jedoch aktuell
nicht zu und beschreibt eine deutliche Einschränkung ihres Alltags durch die Beschwerden.
Ihr Vater hat vor 3 Jahren die Diagnose Magenkarzinom bekommen, vor wenigen Wochen
ist er verstorben. Das war für alle eine schwierige Zeit.
Die Patientin hat seit etwa 10 Jahren Beschwerden im Magen-Darm-Bereich. Begonnen
hat alles mit einem Darminfekt und der folgenden Antibiotikatherapie. Die Beschwerden
sind in den letzten 2 Jahren deutlich progredient, besonders im Sommer dieses Jahres
ist es sehr schlimm gewesen. Sie bemerkt störende Darmgeräusche, Meteorismus, rezidivierende
Übelkeit ohne Erbrechen, breiige Stühle (2–8/d) und abdominelle Schmerzen; die Beschwerden
bestehen nur tagsüber.
Einleitung
Somatoforme Störungen sind Krankheitsbilder, welche mit einer hohen Prävalenz von
bis zu 15 % einhergehen [2] und somit eine sozioökonomische Relevanz haben. Patienten mit einer somatoformen
Störung haben bis zu 9-fach höhere Behandlungskosten als die durchschnittliche Bevölkerung
[3]. Ungefähr 62 % der Betroffenen suchen einen Arzt auf und beinahe 41 % aller Patienten
einer gastroenterologischen Praxis haben eine funktionelle gastrointestinale Störung
[4]. Für den Einzelnen bedeutet eine solche Störung oftmals einen hohen Leidensdruck,
verbunden mit einer deutlichen Einschränkung der Lebensqualität [5]. Die International Classification of Diseases (ICD-10) definiert somatoforme Störungen
als Krankheitsbilder mit rezidivierend dargebotenen körperlichen Symptomen. Die betroffenen
Patienten suchen wiederholt meist unterschiedliche Ärzte auf und fordern hartnäckig
medizinische Untersuchungen und Diagnostik ein. Dieses Verhalten bleibt meist auch
nach negativen Vorbefunden und der wiederholten ärztlichen Versicherung, dass diese
Beschwerden nicht durch die körperlichen Befunde erklärbar seien, bestehen. Eventuell
vorhandene körperliche Befunde können meist das Ausmaß der Beschwerden nicht erklären.
Patienten mit einer somatoformen Störung weisen einen enormen Leidensdruck durch ihre
Erkrankung und Symptome auf und sind meist stark im Alltag eingeschränkt.
Oftmals gibt es eine zeitliche Korrelation zu Schweregrad und Auftreten der Beschwerden
und belastenden Lebensereignissen.
Patienten mit somatoformen autonomen Störungen fordern oftmals hartnäckig diagnostische
Maßnahmen ein und äußern einen deutlichen Leidensdruck. Eventuell vorhandene körperliche
Befunde erklären das Ausmaß der Beschwerden nicht.
Somatoforme Störungen können eingeteilt werden in:
-
Somatisierungsstörung (F45.0)
-
Undifferenzierte Somatisierungsstörung (F45.1)
-
Hypochondrische Störung (F45.2)
-
Somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3)
-
Anhaltende Schmerzstörung (F45.4)
-
Sonstige somatoforme Störungen (F45.8)
-
Somatoforme Störung, nicht näher bezeichnet (F45.9)
Bezogen auf den Gastrointestinaltrakt spielt vor allem die somatoforme autonome Funktionsstörung
eine wichtige Rolle. Die somatoformen autonomen Funktionsstörungen manifestieren sich
symptomatisch v. a. in einem vegetativ innervierten Organ. Typische Symptome im Gastrointestinaltrakt
sind:
-
Stuhldrang
-
Diarrhö
-
Verstopfung
-
Blähungen
-
Flatulenzen
-
Schmerzen
Im ICD-10 sind das Reizdarmsyndrom und die funktionelle Dyspepsie über die Funktionsstörung
definiert und organbezogen zu finden („Sonstige Erkrankungen des Darms“ und „Krankheiten
des Ösophagus, des Magens und des Duodenums“). Sollten bei diesen funktionellen Erkrankungen
die o. g. Merkmale hinzukommen, kann von einer somatoformen autonomen Funktionsstörung
(in diesem Falle des oberen oder unteren Verdauungssystems) gesprochen werden.
Generell wird in der Gastroenterologie häufiger von der funktionellen Dyspepsie und
dem Reizdarmsyndrom gesprochen, in der Psychosomatik häufiger – wenn die Diagnosekriterien
erfüllt sind – auf die somatoforme autonome Funktionsstörung Bezug genommen. Auch
wenn beide Bezeichnungen nicht synonym verwendet werden sollten, so ist doch eine
große Überlappung gegeben.
Definitionen und Symptome
Definitionen und Symptome
Funktionelle Dyspepsie (FD)
Bei der funktionellen Dyspepsie handelt es sich um eine funktionelle Störung des oberen
Verdauungstraktes. Anhand der Rom-IV-Kriterien von 2016 (und in Ermangelung einer
deutschen Leitlinie) lassen sich 3 Subtypen unterscheiden:
-
das epigastrische Schmerz-Syndrom (epigastric pain syndrome, EPS),
-
das postprandiale Distress-Syndrom (postprandial distress syndrome, PDS) und ein
-
Mischtyp von EPS und PDS.
Die funktionelle Dyspepsie lässt sich aufgrund der unterschiedlichen Hauptbeschwerden
in die 3 Subtypen unterscheiden: epigastrisches Schmerz-Syndrom, postprandiales Distress-Syndrom
und Mischtyp.
Es gibt verschiedene Symptome, die für die Diagnosestellung der funktionellen Dyspepsie
entscheidend sind: postprandiales Völlegefühl, frühe Sättigung, epigastrische Schmerzen
und epigastrisches Brennen.
Die Diagnose funktionelle Dyspepsie erfolgt, wenn mindestens eines der oben genannten
Symptome für 3 Monate anhält und der Beginn der Symptome mindestens 6 Monate vor Diagnosestellung
liegt. Beim PDS dominieren Beschwerden wie postprandiale Sättigung und / oder frühe
Sättigung, welche die Alltagsaktivitäten oder auch das vollständige Beenden einer
Mahlzeit mehr als 3-mal pro Woche einschränken. Im Gegensatz dazu sind die Hauptbeschwerden
beim EPS epigastrischer Schmerz und / oder epigastrisches Brennen. Diese Symptome
müssen zur Diagnosestellung die Alltagsaktivitäten einschränken und mindestens einmal
pro Woche auftreten [6].
Zur Diagnosestellung der funktionellen Dyspepsie gehört:
-
Eines der 3 Kardinalsymptome hält für 3 Monate an.
-
Beginn der Symptome mindestens 6 Monate vor Diagnosestellung.
-
Einschränkung der Alltagsaktivitäten.
Reizdarmsyndrom (RDS)
Das Reizdarmsyndrom als funktionelle Störung des unteren Verdauungssystems kann mit
unterschiedlichen Symptomen einhergehen. Charakteristisch sind vor allem abdominelle
Schmerzen, die häufig rezidivierend und chronisch sind, sowie veränderte Stuhlganggewohnheiten,
wobei sowohl Obstipation als auch Diarrhö vorkommen. Ebenfalls klagen Patienten über
Blähungen und abdominelle Distension. Die Symptome sind oftmals verbunden mit einer
enormen Einschränkung der Lebensqualität und einem hohen Leidensdruck, ähnlich wie
bei chronischen somatischen Erkrankungen wie dem Diabetes mellitus, der koronaren
Herzkrankheit oder einer chronischen Niereninsuffizienz. In Deutschland gilt noch
die S3-Leitlinie von 2011 [7]; sie ist derzeit in Überarbeitung. Ein Reizdarmsyndrom liegt demnach dann vor, wenn
folgende 3 Kriterien erfüllt sind:
-
Es bestehen chronische, länger als 3 Monate anhaltende, auf den Darm bezogene Beschwerden
(z. B. Bauchschmerzen, Blähungen), die für gewöhnlich mit Stuhlgangveränderungen einhergehen
(aber nicht müssen).
-
Es liegt eine durch die Beschwerden begründete relevante Beeinträchtigung der Lebensqualität
vor.
-
Es liegen keine für andere Krankheitsbilder charakteristische Veränderungen vor, die
wahrscheinlich für die Symptome verantwortlich sind.
In den USA gelten seit 2016 für die Diagnosestellung eines Reizdarmsyndroms die Rom-IV-Kriterien.
Diese setzen eine Symptomdauer von mindestens 6 Monaten vor der Diagnosestellung voraus.
Leitsymptom sind hierbei die rezidivierenden abdominellen Schmerzen. Diese müssen
in den letzten 3 Monaten mindestens einmal pro Woche aufgetreten sein. Zusätzlich
müssen diese Schmerzen mit mindestens 2 der 3 folgenden Kriterien zusammen aufgetreten
sein:
-
assoziiert mit der Defäkation,
-
assoziiert mit der Veränderung der Stuhlfrequenz und / oder
-
assoziiert mit einer Veränderung der Stuhlkonsistenz.
Wie bei den vorherigen ROM-III-Kriterien gibt es auch bei den Rom IV-Kriterien die
Unterteilung in verschiedene Untertypen des Reizdarmsyndroms. Diese werden anhand
der Stuhlgewohnheiten definiert:
-
RDS-D (diarrhea): > 25 % der Stühle sind flüssig, ohne feste Bestandteile, < 25 %
sind einzelne harte Klumpen.
-
RDS-C (constipation): >25 % der Stühle sind einzelne harte Klumpen, <25 % flüssig,
ohne feste Bestandteile.
-
RDS-M (mixed): >25 % der Stühle sind flüssig, ohne feste Bestandteile und > 25 % sind
einzelne harte Klumpen.
-
RDS-U (unclassified): nicht eindeutig zuzuordnen.
Die Unterteilung des Reizdarmsyndroms mittels der Rom-IV-Kriterien in 4 verschiedene
Subtypen erfolgt anhand der Stuhlgewohnheiten.
Insgesamt beziehen sich die Rom-IV-Kriterien vorrangig auf ein abnormes Stuhlverhalten.
Für die Klassifikation dieses Stuhlverhaltens wird die Bristol-Stuhlformen-Skala verwendet.
Die Patienten sollten dies über mindestens 2 Wochen in einem Tagebuch dokumentieren.
Weitere Begleitsymptome sind häufig, z. B. Stuhldrang, Gefühl der unvollständigen
Darmentleerung, Stuhlgang mit Schleimbeimischung oder Druck- und Völlegefühl nach
den Mahlzeiten. Da diese Symptome jedoch unspezifisch sind und auch bei anderen Krankheiten
häufiger vorkommen, werden sie nicht alleinig zur Diagnosestellung herangezogen.
Dennoch sind dies die Symptome, mit denen sich die Patienten beim Arzt vorstellen
und die letztlich – vor allem in Abwesenheit von bisher verfügbaren Bio- / Psycho-Markern – zur
Diagnosestellung führen. Für die Diagnose des Reizdarmsyndroms spricht auch das Fehlen
von Warnhinweisen oder Risikofaktoren, wie z. B. eine positive Familienanamnese für
ein Kolonkarzinom, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, Zöliakie, Alter > 50,
Fieber, nächtliche Diarrhö, Anämie, Hämatochezie und ein ungewollter Gewichtsverlust
von > 10 % in den letzten 3 Monaten. Sind diese Warnhinweise nicht vorhanden, wird
die Diagnose eines Reizdarmsyndroms wahrscheinlicher [7].
Prävalenz
Die Prävalenz der funktionellen Dyspepsie beträgt in westlichen Ländern 10–40 %, während
in asiatischen Ländern eine Prävalenz von 5–30 % beschrieben wurde [6]. Die Prävalenz des Reizdarmsyndroms liegt weltweit bei ca. 1–45 % (gepoolt bei ca.
11,2 %) [8], in Deutschland bei etwa 15–22 % [9].
In Deutschland leiden etwa 10–40 % der Bevölkerung an einer funktionellen Dyspepsie
und 15–22 % an einem Reizdarmsyndrom.
Es ist weiterhin bekannt, dass es eine Assoziation zwischen der funktionellen Dyspepsie
und dem Reizdarmsyndrom gibt. So bekommen Patienten mit einer funktionellen Dyspepsie
im Verlauf von Jahren häufig Reizdarmsymptome, auch umgekehrt ist ein solcher Symptomshift / eine
Symptomerweiterung beschrieben.
Komorbiditäten
Frau T. hat zudem eine rezidivierende Stimmungsveränderung bemerkt (erstmals vor ca.
9 Jahren), dies ist von Phasen mit normaler Stimmung unterbrochen. Aktuell ist die
Stimmung deutlich gedrückt, sie fühlt sich freudlos und antriebsarm. Sie muss rasch
weinen.
Psychopathologischer Befund
Psychischer Befund: Bewusstsein / Vigilanz: keine quantitativen oder qualitativen
Bewusstseinsänderungen; Aufmerksamkeit / Gedächtnis: vermindert, keine amnestischen
Defizite; Orientierung: zeitlich, örtlich, situativ und personell orientiert; Wahrnehmung:
keine qualitativen und quantitativen Wahrnehmungsänderungen; Denken: Grübeln, Gedankenkreisen,
negative Zukunftsgedanken, gesundheitsbezogene Sorgen; Affektivität: vermindert schwingungsfähig,
Stimmung deutlich gedrückt, freudlos; Antrieb / Psychomotorik: Antrieb und Leistungsfähigkeit
vermindert, innere Unruhe, Durchschlafstörungen, Appetit vermindert; Ich-Erleben:
keine Störungen des Einheitserlebens des Ichs, keine Veränderungen der Ich-Umwelt-Grenze;
Intelligenz: kein Hinweis auf angeborene oder erworbene Intelligenzminderung; akute
Suizidalität: rezidivierende Todesphantasien, aktuell distanziert.
In der Zusammenschau liegt somit eine komorbide rezidivierende depressive Störung
mit aktuell schwergradiger Symptomatik vor.
Patienten mit somatoformen autonomen Funktionsstörungen haben in 50–70 % der Fälle
zusätzliche Beschwerden, wobei Komorbiditäten sowohl somatoform, somatisch oder psychisch
sein können. Die Überlappung von unterschiedlichen somatoformen Störungen ist relativ
häufig und macht die Behandlung anspruchsvoller [10]. Die aktuell in Vorbereitung begriffene ICD-11 greift die Häufigkeit der (v. a.
somatoformen) Komorbiditäten auf und fasst diese Erkrankungen als „bodily distress
disorders“ zusammen. Psychische Komorbiditäten sind bei Patienten mit Reizdarmsyndrom
in 50–94 % der Fälle berichtet worden, wobei sich die Spannbreite am ehesten mit den
unterschiedlichen Erfassungszentren erklären lässt (primär vs. tertiär, wobei die
letztgenannten Patienten oftmals durch einen schwereren und prolongierten Krankheitsverlauf
gekennzeichnet sind). Hierbei sind vor allem Angststörungen (30–50 %), Depressionen
(70 %) aber auch Essstörungen zu nennen. Es konnte gezeigt werden, dass diese Komorbiditäten
einen maßgeblichen Einfluss auf den Therapieverlauf haben [11]. Auch weitere Krankheitsbilder mit somatoformer Komponente sind komorbid bei ca.
50 % der Patienten anzutreffen, wie das Fibromyalgiesyndrom, die chronische Fatigue,
die überaktive Blase, das chronische Beckenschmerzsyndrom und Spannungskopfschmerzen.
An somatischen Erkrankungen, welche mit dem Reizdarmsyndrom assoziiert sind, ist z. B.
die gastroösophageale Refluxkrankheit nennen.
Das Vorhandensein einer oder mehrerer Komorbiditäten schränkt die Lebensqualität der
Betroffenen zusätzlich deutlich ein.
Bereits frühzeitig konnte gezeigt werden, dass Distress zu einer Verschlimmerung der
gastrointestinalen Symptome führt. Dabei handelt es sich oftmals um einen Teufelskreis,
da durch die gastrointestinalen Beschwerden noch mehr Disstress entsteht und die Symptome
daraufhin oftmals perpetuieren und persistieren können.
Auch bei Patienten mit funktioneller Dyspepsie finden sich häufig Komorbiditäten.
Angststörungen und Depressionen kommen in ähnlicher Häufigkeit vor, komorbide Essstörungen
sind jedoch deutlich häufiger anzutreffen als beim Reizdarmsyndrom. Inwiefern die
psychische Komorbidität an der Entstehung der funktionellen Dyspepsie (mit)beteiligt
ist, ist noch nicht abschließend geklärt, da sowohl die psychische Erkrankung die
Entstehung einer funktionellen Dyspepsie begünstigen kann, jedoch auch die funktionelle
Dyspepsie ein prädisponierender Faktor für die Entstehung einer weiteren Erkrankung
sein kann [6].
Patienten mit somatoformen autonomen Funktionsstörungen des Gastrointestinaltraktes
haben häufig Komorbiditäten. Diese können psychischer, somatischer oder somatoformer
Natur sein.
Pathophysiologie
Die Pathogenese der somatoformen autonomen Funktionsstörungen des Verdauungssystems
ist am besten über das biopsychosoziale Modell zu erklären [Abb. 1]. Dabei spielen biologische, psychische und soziale Faktoren in unterschiedlicher
Konstellation eine Rolle. Hierbei können sowohl genetische Faktoren wie auch die Umwelt
spätere Persönlichkeitsmerkmale beeinflussen. Zu den Persönlichkeitsmerkmalen gehören
auch Bewältigungsstrategien, die dann pathogenetisch bedeutsam werden, wenn diese
nicht mehr ausreichen. Für das Reizdarmsyndrom v. a. bedeutsam sind folgende Faktoren:
frühere Lebenserfahrungen, Verhalten der Eltern, soziales Lernen, Kultur, Traumata,
Infektionen, Stress und das Ausmaß der Unterstützung, die ein Individuum in seinem
Leben erhalten hat. Diese Faktoren spielen auch bei der Entstehung der funktionellen
Dyspepsie eine wichtige Rolle. Zusätzlich gibt es weitere Risikofaktoren, die eine
Krankheitsentstehung erleichtern, wie z. B. eine Reisediarrhö, die Einnahme von Antibiotika
oder nichtsteroidalen Antirheumatika, Rauchen und Übergewicht.
Abb. 1 Pathogenese der somatoformen gastrointestinalen Funktionsstörungen anhand des biopsychosozialen
Modells.
Das biopsychosoziale Modell enthält Faktoren der Psyche, der Biologie und des sozialen
Umfeldes und spielt eine wesentliche Rolle in der Pathophysiologie von somatoformen
autonomen Funktionsstörungen des Gastrointestinaltraktes.
Als besonderer Risikofaktor für die Entwicklung von somatoformen autonomen Funktionsstörungen
des Verdauungssystems konnten negative Lebensereignisse (sogenannte „Life Events“)
beschrieben werden; hier ist das Erleben z. B. von Missbrauch oder Traumatisierungen
als Risikofaktor zu nennen [12].
Ein weiterer wichtiger Baustein in der Pathophysiologie somatoformer autonomer Funktionsstörungen
des Verdauungssystems ist die Darm-Gehirn-Achse, in letzter Zeit noch erweitert um
das Darmmikrobiom. Allerdings besteht hier noch erheblicher Forschungsbedarf, um die
Zusammensetzung eines „gesunden“ Mikrobioms besser zu verstehen.
Die Darm-Gehirn-Achse ist ein bidirektionales Kommunikationssystem zwischen dem zentralen
Nervensystem (ZNS) und dem Darm.
Über afferente Nervenfasern gelangen Informationen aus dem Gastrointestinaltrakt zum
ZNS, werden dort verarbeitet und weiter verknüpft – beispielsweise mit emotionsverarbeitenden
Gehirnarealen – und über efferente Leitungsbahnen zurück an den Darm geschickt, wodurch
die Darmfunktion moduliert werden kann. Um eine Veränderung dieses Kommunikationssystems
bei somatoformen autonomen Funktionsstörungen des Verdauungssystems hervorzuheben,
wird von diesen in den Rom-IV-Kriterien auch als Störung der „Gut-Brain Interaction“
gesprochen. Diese Störung kann Auswirkungen auf Darmmotilität, intestinale Immunantwort,
oder intestinale Permeabilität haben. Durch die erleichterte Durchgängigkeit können
Entzündungszellen den Darm durchdringen und zu einer lokalen Entzündungsreaktion führen,
welche wiederum eine viszerale Hypersensitivität begünstigt. So kommt es bei der funktionellen
Dyspepsie sowohl durch die Entzündungsreaktion wie auch durch die pathologischen Antworten
auf chemische und mechanische Reize zu einer viszeralen Hypersensitivität, die auch
beim Reizdarmsyndrom beobachtet werden kann [13].
Eine Störung in der (Mikrobiom)-Darm-Gehirn-Achse wirkt sich auf Darmmotilität, Immunantwort
und intestinale Permeabilität aus und ist somit ebenfalls ein wichtiger Baustein in
der Entstehung des Reizdarmsyndroms und der funktionellen Dyspepsie.
Diagnostik
Die Patientin hat im Zuge der Beschwerden eine Vielzahl von verschiedenen Ärzten aufgesucht.
Die durchgeführte organopathologische Diagnostik (körperliche Untersuchung, Labor,
mehrfach Ösophagogastroduodenoskopie, einmalig mit tiefen Duodenalbiopsien und mehrfach
Koloskopie, einmalig inklusive Stufenbiopsien, Sonografie des Abdomens, gynäkologischer
Ultraschall) hat keinen wegweisenden Befund erbracht. In den Atemtests sind eine Laktoseintoleranz
und eine Fruktosemalabsorption festgestellt worden, die entsprechende Diät hat jedoch
keine deutliche und anhaltende Beschwerdebesserung erbracht. Eine Rückversicherung
an die Patientin, dass es keine (rein) körperliche Ursache der Beschwerden gibt, erbrachte
nur eine sehr kurzfristige Beruhigung.
Zusammenfassend kann somit die Diagnose einer somatoformen autonomen Funktionsstörung
des oberen und unteren Verdauungssystems vergeben werden. Wie oben beschrieben, liegt
eine komorbide rezidivierende depressive Störung mit aktuell schwergradiger Symptomatik
vor.
Da es noch keine deutsche Leitlinie zur funktionellen Dyspepsie gibt, hat die Deutsche
Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität lediglich Empfehlungen zur Diagnostik
bereitgestellt. Entsprechende Warnsymptome, die sich aus der Anamnese ergeben können,
sind Gewichtsabnahme, Dysphagie, Odynophagie, rezidivierendes Erbrechen, Appetitlosigkeit,
Anämie / Zeichen der gastrointestinalen Blutung, Fieber, höheres Lebensalter (50 + / -
5 Jahre), familiäre Belastung mit gastrointestinalen Karzinomen und eine kurze Anamnese.
Diese Warnhinweise sollten nicht übersehen werden und lassen primär an andere Krankheitsbilder
denken, welche dann bestätigt oder ausgeschlossen werden sollten.
Aus der Anamnese sollte auch der entsprechende Subtyp erfasst werden. Die Anamnese
alleine ist jedoch nicht ausreichend und weitere Diagnostik ist zwingend notwendig.
Die Deutsche Gesellschaft für Neurogastroenterologie und Motilität empfiehlt eine
körperliche Untersuchung, ein Basislabor (kleines Blutbild, CRP / BSG, Gamma-GT, GOT / GPT,
Kreatinin, Lipase), eine Abdomen-Sonografie und eine Ösophago-Gastro-Duodenoskopie
(ÖGD). Die Durchführung eines abdominellen Ultraschalls kann hilfreich sein, um eine
biliäre Genese wie auch eine maligne Erkrankung auszuschließen. Ebenso sollten mindestens
zwei unterschiedliche Testverfahren für den Nachweis von Helicobacter pylori durchgeführt
werden. Damit kann eine durch Helicobacter pylori ausgelöste Dyspepsie ausgeschlossen
werden; diese wäre dann durch eine Eradikation behandelbar [6]. Auch weitere Ausschlussdiagnostik wie eine 24h-pH-Metrie oder Dünndarmmanometrie
ist möglich, aber nicht zwingend notwendig.
Diagnostik bei funktioneller Dyspepsie
-
Anamnese mit Warnsymptomen (welche primär an andere Erkrankung denken lassen)
-
körperliche Untersuchung
-
Basislabor
-
Abdomen-Sonografie
-
Ösophago-Gastro-Duodenoskopie
-
Test auf Helicobacter pylori
Zur Diagnosestellung des Reizdarmsyndroms sollten gemäß S3-Leitlinie nach einer ausführlichen
Anamnese eine körperliche Untersuchung (inklusive digital-rektaler Untersuchung) sowie
eine Laboruntersuchung erfolgen. Auch eine Stuhluntersuchung zum Ausschluss pathogener
Keime inklusive Parasiten ist sinnvoll. Obligat sind weiterhin ein abdomineller Ultraschall
sowie eine gynäkologische Untersuchung bei Frauen. Die Durchführung einer Endoskopie
(obere und untere) sollte bei entsprechender Symptomatik zum Ausschluss einer Zöliakie
sowie einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung erfolgen, bei Durchfallsymptomatik
ist an die Entnahme von Stufenbiopsien zum Ausschluss einer mikroskopischen Kolitis
zu denken. Auch die Durchführung von H2-Atemtests sollte zum Ausschluss einer Laktoseintoleranz und Fruktosemalabsorption
erfolgen, da diese Unverträglichkeiten leicht behandelbar sind. Die Ausschlussdiagnostik
ist gegebenenfalls anhand der Symptomatik der Patienten zu erweitern [7].
Diagnostik bei Reizdarmsyndrom
-
Anamnese mit Warnsymptomen (welche primär an andere Erkrankung denken lassen)
-
körperliche Untersuchung inklusive digital-rektaler Untersuchung
-
gynäkologische Untersuchung
-
Basislabor
-
Stuhluntersuchung auf pathogene Keime
-
Sonografie des Abdomens
-
Gastro- und Koloskopie
-
H2-Atemtests
Die Diagnose einer somatoformen autonomen Funktionsstörung kann dann gestellt werden,
wenn in den vorliegenden diagnostischen Untersuchungen keine pathologischen Veränderungen
sichtbar sind, die die Symptome der Patienten ausreichend erklären und zusätzlich
die Positivkriterien einer somatoformen Störung vorliegen (für das Reizdarmsyndrom
allein nicht zwingend notwendig). Es sollte darauf geachtet werden, keine unnötige
und / oder wiederholende Diagnostik anzuwenden, da dadurch die Patienten in ihrem
(oftmals rein somatischen) Krankheitskonzept bestärkt würden und eine weitere Einforderung
von – womöglich immer invasiverer – Diagnostik erfolgen würde.
Ein wichtiger Schritt ist die Übermittlung der Diagnose, welcher bereits Teil der
Therapie im Sinne der Psychoedukation ist.
Therapie
Bei der Erstvorstellung nimmt die Patientin Heilerde und Simethicon ein. Dies verbessert
die Beschwerden nicht. Eine psychotherapeutische Behandlung hat bisher nicht stattgefunden,
von einer gastroenterologischen Rehamaßnahme hat sie nur minimal profitiert.
Die von uns angebotene bedarfsweise Behandlung mit Loperamid verschafft Linderung
in als belastend erlebten Situationen, die symptomatische Therapie mit Mebeverin und
Butylscopolamin wird als nicht hilfreich erlebt. Zur Schmerzreduktion besprechen wir
mit der Patientin die Off-Llabel-Therapie mit Amitriptylin (Start mit 12,5 mg zur
Nacht, alle 2 Wochen Steigerung auf max. 50 mg zur Nacht). Hierunter reduziert sich
die Stuhlfrequenz und verbessert sich die Stuhlkonsistenz. Dennoch muss sie weiterhin
3- bis 4-mal auf die Toilette, hat weiterhin Meteorismus und Schmerzen. Die Beschwerden
beeinträchtigen sie stark, sie grübelt viel darüber nach und zieht sich zunehmend
sozial zurück.
In Anbetracht der Komorbidität und der Schwere der Symptomatik sehen wir zur Verhinderung
einer weiteren Progredienz und Chronifizierung die Indikation zur stationären psychosomatischen
Behandlung. Dies wird von der Patientin begrüßt. Folgende Therapieziele werden zu
Beginn von der Patientin formuliert: Strategien zum Umgang bezüglich der aktuellen
Symptomatik, Verbesserung der Lebensqualität, Stimmungsstabilisierung und Bewältigung
der angstbesetzten Zustände (Sorge um andere, Sorge um sich selbst).
Die Patientin nimmt am Therapieprogramm für somatoforme Erkrankungen teil, bestehend
aus Einzel- und Gruppentherapien, Chef- und Oberarztvisiten, einer interpersonellen
Gruppe zur Depressionsbehandlung, Musiktherapie, Bewegungstherapie, Physiotherapie
und einer speziellen Gruppe zum Erlernen von Entspannungstechniken.
Frau T. kann sich nach einer Eingewöhnungszeit gut in den Stationsalltag und die Patientengemeinschaft
integrieren. Sie setzt sich mit ihrer biografischen Entwicklung und bisherigen Beziehungserfahrungen
auseinander, die Einfluss auf die Krankheitsentstehung und vor allem -aufrechterhaltung
haben. Die geregelte Tagesstruktur und das Gefühl, Hilfe und Unterstützung für ihre
Beschwerden zu bekommen, die Wahrnehmung sozialer Kontakte und Durchführung von sozialen
Aktivitäten trotz Beschwerden führen zu einer signifikanten Verbesserung der Stimmung
wie auch der Magen- und Darmbeschwerden.
Insgesamt kann die Patientin ein verbessertes Krankheitsverständnis mit psychosomatischen
Aspekten entwickeln und in ersten Schritten einen funktionaleren Umgang mit den Beschwerden
einüben. Die Bauchbeschwerden sind weiterhin vorhanden, aber in deutlich geringerem
und wechselndem Ausmaß. Ebenso hat sich die Stimmung wieder stabilisiert, vor allem
waren hierfür soziale Kontakte und Aktivitäten hilfreich. Die Patientin möchte zur
weiteren Stabilisierung eine ambulante Psychotherapie aufnehmen.
Die therapeutischen Ziele in der Behandlung des Reizdarmsyndroms und der funktionellen
Dyspepsie sind vorrangig, die Symptome zu lindern und damit die Lebensqualität der
Patienten zu verbessern. Für beide funktionelle Störungen gibt es nicht nur eine Therapiemöglichkeit,
sondern viele verschiedene Ansätze. Zuallererst sollte den Patienten ihr Krankheitsbild
verständlich vermittelt werden, damit sie aktiv in die Behandlung einbezogen werden
können. Da die Patienten oftmals viele Arztbesuche und Diagnostik hinter sich haben,
ist es wichtig, eine (möglichst) stabile Arzt-Patienten-Beziehung aufzubauen.
Um ein besseres Verständnis für die subjektive Auffassung der Patienten über ihre
Krankheit zu bekommen, empfiehlt sich, spezielle Fragebögen anzuwenden, wie z. B.
den Illness Perception Questionnaire.
Ebenso ist es wichtig, dass die unterschiedlichen krankheitsauslösenden Faktoren eruiert
werden. Dazu gehört, dass die Assoziation der Symptome mit belastenden Faktoren wie
Stress eine wichtige Rolle spielt. Regelmäßige Termine nehmen den Patienten die Angst,
genauso wie die Teilnahme an Selbsthilfegruppen oder Gespräche den Verlauf positiv
beeinflussen können. Im Folgenden werden die unterschiedlichen Therapiemöglichkeiten
vorgestellt.
Medikamentöse Therapie
Eine medikamentöse Therapie sollte symptomorientiert sein und vor allem beim Reizdarmsyndrom
mit moderater Symptomschwere angewendet werden (s. [Tab. 1]). Wenn die Patienten nicht innerhalb von 3 Monaten ansprechen, sollte man eine Umstellung
der Medikation erwägen. Eine Möglichkeit ist die Kombination verschiedener Substanzen.
Generell sollte die medikamentöse Therapie gemeinsam mit diätetischen Maßnahmen oder – bei
schwereren Verlaufsformen – psychotherapeutischen Verfahren durchgeführt werden.
Bei der medikamentösen Therapie ist es wichtig, eine Unterscheidung der verschiedenen
Subtypen des Reizdarmsyndroms vorzunehmen. Entsprechend werden für das RDS-D Opioid-Antagonisten
(z. B. Loperamid) oder 5HT3-Antagonisten (z. B. Ondansetron) eingesetzt [Tab. 1]. Dies führt zu einer erhöhten Transitzeit des Kolons. Beim RDS-C dominieren Laxanzien
wie Macrogol. Zusätzlich werden oft Spasmolytika wie Butylscopolamin verschrieben,
die entsprechend gegen die Bauchkrämpfe wirken. Auch die Gabe von Psychopharmaka kann
eine Symptomlinderung herbeiführen. Eine wichtige Rolle spielen hierbei trizyklische
Antidepressiva, selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer.
Die trizyklischen Antidepressiva haben den Vorteil, dass sie auch gut auf viszerale
Schmerzen wirken, während die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer bei komorbider
Angststörung geeignet sind und eine gute Verträglichkeit aufweisen. Da trizyklische
Antidepressiva auch die Kolontransitzeit verlängern, werden sie häufig bei Patienten
mit RDS-D eingesetzt, während SSRI prokinetisch wirken und somit einen negativen Effekt
auf Diarrhö besitzen. Generell werden die trizyklischen Antidepressiva geringer dosiert,
wenn sie nur gegen viszerale Schmerzen eingesetzt werden (Off-Label-Therapie). Bei
psychischen Komorbiditäten werden die trizyklischen Antidepressiva in höherer (antidepressiver)
Dosierung verabreicht.
Tab. 1
Zugelassene / verfügbare medikamentöse Therapiemöglichkeiten beim Reizdarmsyndrom.
|
Medikament
|
Gewünschte Wirkung
|
|
Opioid-Antagonisten (z. B. Loperamid)
|
Erhöhte Transitzeit des Kolons v. a. beim RDS-D
|
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5HT3-Antagonisten (z.B: Ondasentron)
|
Erhöhte Transitzeit des Kolons v. a. beim RDS-D, schmerzlindernd
|
|
Laxanzien (z. B. Macrogol, 5HT4-Agonist Prucaloprid)
|
Gesteigerte Peristaltik und Verflüssigung des Stuhls
|
|
Spasmolytika (z. B. Butylscopolamin)
|
Tonus der glatten Muskulatur wird herabgesetzt, krampflösend, bei Stuhlunregelmäßigkeiten
|
|
Lösliche Ballaststoffe (z. B. Ispaghula)
|
Stuhlregulierend, schmerzlindernd, Behandlung beim RDS-D / RDS-O
|
|
(Probiotika)
|
Schmerzlindernd, Behandlung v. a. beim RDS-D
|
|
Phytotherapeutika (z. B. STW 5)
|
Spasmolytisch, bei Stuhlunregelmäßigkeiten, Blähungen, Meteorismus, Flatulenz
|
|
Trizyklische Antidepressiva (z. B. Amitriptylin)
|
Verminderung viszeraler Schmerzen, Verlängerung der Kolontransitzeit (v. a. beim RDS-D),
ggf. Verbesserung psychischer Begleitsymptome
|
|
selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (z. B. Paroxetin)
|
Prokinetisch (v. a. beim RDS-C), Verbesserung psychischer Begleitsymptome
|
|
Gasbinder (z. B. Simethicon)
|
(moderate) Verminderung der intestinalen Gasmenge
|
* keine sichere Evidenz
Bei der funktionellen Dyspepsie werden andere Medikamentengruppen verwendet [Tab. 2]. Zum einen kommen Protonenpumpeninhibitoren bei säurebetonter Dyspepsie zum Einsatz.
Ebenso können Dopamin-2-Rezeptor-Antagonisten wie Domperidon oder Metoclopramid genutzt
werden. Auch Simethicon als Entschäumer ist eine oft genutzte Therapie für die funktionelle
Dyspepsie. Ebenso sind Serotonin-Agonisten wie auch -Antagonisten eine Therapiemöglichkeit
bei der funktionellen Dyspepsie. Auch Phytopharmaka haben ihren Stellenwert [6].
Tab. 2
Medikamentöse Therapieoptionen bei der funktionellen Dyspepsie.
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Medikament
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Gewünschte Wirkung
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Protonenpumpeninhibitoren (z. B. Pantoprazol)
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Hemmung der Magensäuresekretion
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D2-Rezeptor-Antagonisten (z. B. Domperidon, Metoclopramid)
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Antiemetisch, fördern anterograde Peristaltik im Magen
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Entschäumer (z. B. Simethicon)
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Gegen Blähungen, Völlegefühl, Schmerzen im Bauchraum
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Serotonin-Agonisten (z. B. Sumatriptan, Tandospiron)
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Verändert Magengröße und verringert die durch gastrische Distension ausgelöste Übelkeit,
Anxiolyse, gastrische Akkommodation gesteigert
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5HT3-Antagonisten (z. B. Ondasentron)
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Verbesserung der gastrischen Akkomodation
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Phytopharmaka (z. B. STW 5)
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Verbesserte gastrische Akkomodation, Verbesserung der Schmerzen, Symptomlinderung
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Diätetische Maßnahmen
Eine nicht-medikamentöse Therapieoption für das Reizdarmsyndrom stellt die sogenannte
FODMAP-Diät dar. Dabei verzichten die Patienten zeitweise auf fermentierbare Oligosaccharide,
Disaccharide, Monosaccharide und Polyole (oder reduzieren diese zumindest). Diese
Therapie hat in Studien gute Ergebnisse gezeigt und sollte zeitlich begrenzt Anwendung
finden. Prinzipiell sollten sich Patienten gesund ernähren und eine fettarme Kost
zu sich nehmen. Zusätzlich zu einer gesunden Ernährung ist eine sportliche Betätigung
empfohlen. Weiterhin können ausgewählte Probiotika die Symptome des Reizdarmsyndroms
verbessern, die Studienlage ist hier jedoch sehr inhomogen, sodass bisher keine klare
Empfehlung für den Einsatz von Probiotika gegeben werden kann. Nicht zuletzt kann
die Einnahme von Ballaststoffen (v. a. beim RDS-C) symptomlindernd sein.
Merke: Eine gesunde Ernährung und sportliche Maßnahmen können wesentlich zur Symptomlinderung
führen. Ebenso ist es wichtig, dass der Patient die Nahrungsmittel reduziert und ggf.
meidet, die die Symptome verstärkt hervorrufen.
Bei Patienten mit funktioneller Dyspepsie treten die Beschwerden oft nach der Mahlzeiteneinnahme
auf, bzw. werden durch diese verstärkt. Auch hier sollten die Patienten die Nahrung
reduzieren / ggf. meiden, die die entsprechenden Symptome verstärken – eine sehr restriktive
Diät sollte jedoch vermieden werden. Ebenso ist der Verzicht auf fettreiche Nahrung
und mehr Bewegung eine Möglichkeit, die Symptome zu lindern.
Psychotherapeutische Maßnahmen
Ein weiterer wichtiger Baustein der Therapie des Reizdarmsyndroms sowie auch der funktionellen
Dyspepsie ist die Psychotherapie. Es ist jedoch zu bemerken, dass es mehr Daten zur
Psychotherapie beim Reizdarmsyndrom gibt. Anhand des biopsychosozialen Modells zeigt
sich der Einfluss von psychischen und sozialen Faktoren auf das Krankheitsausmaß deutlich.
Somit nimmt es nicht wunder, dass es mithilfe psychologischer Interventionen möglich
ist, Beschwerden zu lindern. Zu den psychotherapeutischen Maßnahmen gehören vor allem
Psychoedukation
Wie bei vielen Erkrankungen ist es auch bei funktionellen und somatoformen Störungen
des Verdauungssystems essenziell, dass der Patient ausreichend über seine Erkrankung
aufgeklärt ist.
Für das Aufklärungs- und Beratungsgespräch sollte sich der behandelnde Arzt Zeit lassen.
Viele Patienten haben eine lange Leidensgeschichte und zahlreiche Arztkontakte hinter
sich und haben dennoch kein klares Verständnis von Diagnose und Pathogenese. Die entsprechende
Vermittlung erfordert Empathie und Verständnis vom behandelnden Arzt, fördert die
Arzt-Patienten-Beziehung und kann bereits eine ggf. geplante Psychotherapie bahnen.
Zur Psychoedukation gehört oftmals auch, die Angehörigen der Patienten miteinzubeziehen,
da sich ein verständnisvolles Umfeld förderlich auf den Therapieverlauf auswirkt.
Die Psychoedukation kann entweder im Einzelgespräch oder auch in Gruppengesprächen
mit anderen Patienten erfolgen. Als Ziel steht vor allem der verbesserte Umgang mit
der Krankheit im Vordergrund. Dadurch kann auch die Prognose deutlich verbessert werden.
Trotzdem ist es auch wichtig, die somatischen und körperlichen Beschwerden weiterhin
zu beachten und den Patienten nicht auf die psychischen Beschwerden zu reduzieren.
Es sollte vermieden werden, vorschnell von Psychogenese zu reden.
Kognitive Verhaltenstherapie
Die breiteste Studienlage zu psychotherapeutischen Interventionen bei somatoformen
autonomen Funktionsstörungen des Verdauungssystems gibt es zur kognitiven Verhaltenstherapie,
welche einerseits die Faktoren beleuchtet, die zur Entstehung der Erkrankung geführt
haben, und andererseits auch die Faktoren, die zur Aufrechterhaltung beitragen. Bei
Patienten mit somatoformen Störungen spielt die Angst vor einer organischen Krankheit
eine wichtige Rolle. Die Patienten sind ständig bestrebt, eine organische Ursache
zu finden, jeder weitere unauffällige Befund schürt diese oftmals weiter.
Gerade gastrointestinale Symptome können ein großes Unwohlsein verursachen und die
Patienten sorgen sich oft vor dem Auftreten der Symptome, wie Diarrhö in bestimmten
Situationen. Diese Angst kann zu einem Vermeidungsverhalten führen. Ebenso richten
Patienten oftmals ihre komplette Aufmerksamkeit auf die Symptome. Durch die Wahrnehmungsverzerrung
reagieren die Patienten häufig übersensibel auf Reize und nehmen ihre Symptome noch
stärker war. Es kann hier zum Katastrophisieren kommen: Die Patienten fühlen sich
hilflos und unverstanden und nehmen die Symptome als immer gravierender wahr. Dies
zieht einen enormen Leidensdruck und eine deutliche Einschränkung der Lebensqualität
nach sich. Zusätzlich kann es im sozialen Umfeld zu Problemen kommen – Patienten,
die gedanklich zunehmend um ihre subjektiven Beschwerden kreisen, erleben im Verlauf
einen sozialen Rückzug bis zur sozialen Isolation. Fehlender sozialer Rückhalt von
Familie und Freunden führt wiederum dazu, dass sich Patienten auf ihre Krankheit konzentrieren.
Die kognitive Verhaltenstherapie kann den Teufelskreis zwischen Fokussierung auf die
Krankheit, fehlendem Rückhalt in der Familie, sozialer Isolation und dadurch weiterer
Konzentration auf die Erkrankung durchbrechen.
Dabei sollten Patienten ihre Handlungsweisen verändern, lernen ihre Symptome aktiv
zu kontrollieren und damit versuchen ihre Ängste zu reduzieren. Die direkte Konfrontation
mit unangenehmen Situationen und das genaue Analysieren dieser Situationen kann den
Patienten verschiedene Faktoren aufzeigen, die diese Situationen verschlimmern. Auch
die Gedanken, die die Patienten in diesem Moment berichten, werden in die Therapie
einbezogen. Im Wesentlichen spielen folgende Punkte eine wichtige Rolle:
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Selbstbeobachtung: Die Patienten sollten sich kritische Fragen stellen und ihr Verhalten beobachten
und hinterfragen. Auch die genaue Auseinandersetzung mit den Gefühlen spielt eine
Rolle.
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Kognitive Umstrukturierung: Die Patienten sollten ihre üblichen Verhaltensweisen vermeiden und somit die kognitiven
Verzerrungen verändern.
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Problemlösung: Gemeinsam werden die Probleme beleuchtet und es wird nach Lösungen und Verbesserungen
geschaut.
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Konfrontation / Exposition: Die Patienten werden stressauslösenden Situationen ausgesetzt. Dabei sollten die
üblichen Muster der Vermeidung und Hypersensibilität vermieden werden und auf die
davor ausgearbeiteten Verhaltensweisen zurückgegriffen werden. Diese Konfrontation
sollte wiederholt stattfinden, damit die Konditionierung der Angst und Vermeidung
reduziert wird und die Patienten sukzessive weniger Angst empfinden.
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Entspannungstechniken: Mit einer geübten Technik sollten die Patienten sich in / vor / nach Stresssituation
entspannen können.
Eine breite Studienlage zeigt die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie in
Bezug auf somatoforme autonome Funktionsstörungen des Verdauungssystems.
Die kognitive Verhaltenstherapie verbessert nicht nur die subjektive Symptomwahrnehmung
und führt dadurch zu einer gesteigerten Lebensqualität, sondern reduziert auch die
Angst und verbessert die Komorbiditäten, wie z. B. die Depression [14].
Psychodynamische Therapie
Bei der psychodynamischen Therapie besteht ein wesentliches Ziel in der Aufarbeitung
von intra- / interpersonellen Konflikten, welche oft maßgeblich an der Symptomausprägung
und -schwere beteiligt sind. Die Patienten erlangen im Rahmen der Therapie einen Zugang
zu diesen Konflikten und können diese im Rahmen der interpersonellen (meist Einzel-)
Therapie bearbeiten. Dabei spielen auch das Erleben zwischenmenschlicher Beziehungen
sowie eine bessere Selbstwahrnehmung eine Rolle [15].
Eine Studie zeigte, dass psychodynamische Interventionen einen positiven Einfluss
auf die Beschwerden beim Reizdarmsyndrom haben. Im Vergleich zur Kontrollgruppe mit
einer rein medikamentösen Therapie erhielt eine Gruppe zusätzlich eine dynamische
Psychotherapie. Diese Gruppe zeigte eine signifikante Verbesserung der körperlichen
Beschwerden, welche auch ein Jahr später noch nachweisbar war [16].
Eine Metaanalyse untersuchte den Effekt psychodynamischer Interventionen bei Patienten
mit Reizdarmsyndrom. Dabei wurden zwei Studien eingeschlossen (insgesamt n = 273)
[17]. Hierbei zeigten 45,8 % der Patienten eine Verbesserung der Symptome im Vergleich
zu 29,6 % in der Vergleichsgruppe. Die NNT (Number needed to treat) für psychodynamische
Verfahren liegt bei 4 [17].
Hypnotherapie
Auch die Hypnose stellt eine ernstzunehmende Therapiemöglichkeit bei somatoformen
autonomen Funktionsstörungen dar. Bei der Hypnotherapie induziert der Therapeut einen
veränderten Bewusstseinszustand bei den Patienten im Sinne einer Heterosuggestion.
Die Hypnotherapie beim Reizdarmsyndrom beinhaltet 7 – 12 Sitzungen à 30–60 Minuten
über 3 Monate. Ebenso sollten Patienten im Verlauf täglich mithilfe einer CD weiter
üben – auch eine kostensparende Version mit einer rein CD-gestützten Intervention
wurde bereits bei Kindern untersucht. Während der Therapie ist ein Symptomtagebuch
sinnvoll, in welchem die Patienten die Dauer und Intensität der Bauchschmerzen sowie
die Stuhlhäufigkeiten, das Befinden, die Dauer der Selbstübungen und weitere Informationen
festhalten.
Mehrere Studien haben gezeigt, dass eine Hypnose beim Reizdarmsyndrom, v. a. bei medikamentenrefraktären
Verläufen, günstige Effekte haben kann. So haben 24-73 % der Patienten positiv auf
eine Hypnose angesprochen. Dies beinhaltet eine Reduktion der gastrointestinalen Symptome
sowie eine Verbesserung von Stimmung und Wohlbefinden. Die Hypnotherapie kann bei
allen Reizdarm-Subtypen eingesetzt werden (v. a. RDS-C, RDS-M und RDS-U) [18]. Für die funktionelle Dyspepsie gibt es bislang nur wenige Daten zur Hypnotherapie,
diese sind jedoch vielversprechend.
Eine neue Metaanalyse schloss insgesamt 5 verschiedene Studien über Hypnotherapie
mit insgesamt 278 Patienten ein. Dabei zeigten 55,4 % der Patienten eine Verbesserung
der Symptome im Vergleich zu 22,6 % in der Kontrollgruppe. Die NNT lag bei 5 [17].
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Gastrointestinale somatoforme Störungen sind mit einer Prävalenz von 15 % in Deutschland
eine häufige Diagnose.
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Die beiden wichtigsten funktionellen gastrointestinalen Störungen sind die funktionelle
Dyspepsie und das Reizdarmsyndrom.
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Das Reizdarmsyndrom wird anhand der deutschen Leitlinie diagnostiziert als chronische,
auf den Darm bezogene Beschwerden, welche die Lebensqualität maßgeblich beeinträchtigen.
Gemäß den Rom-IV-Kriterien ist eine Subgruppierung anhand der Stuhlgangveränderungen
möglich.
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Die funktionelle Dyspepsie beinhaltet gemäß Rom-IV 2 Untertypen: das epigastrische
Schmerz-Syndrom mit epigastrischem Schmerz / Brennen und das postprandiale Distress-Syndrom
mit früher postprandialer Sättigung. Weiterhin gibt es noch einen Mischtyp.
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Die Beschwerden werden nicht oder nicht vollständig von einem organopathologischen
Befund erklärt.
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Die Funktionsstörungen – oftmals bei schwereren Verlaufsformen – sind durch häufige
Komorbiditäten kompliziert, wie z. B. Angststörungen, Depressionen aber auch somatische
Erkrankungen.
Bei der Entstehung der Erkrankungen spielen biologische, soziale und psychische Faktoren
eine große Rolle. Auch die (Mikrobiom)-Darm-Gehirn-Achse kann Störungen aufweisen,
die zu einer somatoformen autonomen Funktionsstörung des Verdauungssystems beitragen
können.
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Die Diagnostik beinhaltet die ausführliche Anamnese, eine körperliche Untersuchung,
ein Basislabor, eine Sonografie, eine gynäkologische Untersuchung, Endoskopien und
ggf. speziellere Tests.
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Wichtig für ein gutes therapeutisches Ergebnis sind die klare Darstellung des Krankheitskonzeptes
und eine gute Arzt-Patienten-Beziehung. Es ist wichtig, die weiteren Therapieschritte
gemeinsam zu entscheiden, da es eine Vielzahl von therapeutischen Möglichkeiten gibt.
Dazu gehören die medikamentöse Therapie und diätetische Maßnahmen, aber auch – v. a.
bei schwereren Verlaufsformen – Psychotherapie (kognitive Verhaltenstherapie, psychodynamische
Therapie, Hypnotherapie).
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag
ist Prof. Dr. med. Andreas Stengel, Tübingen.
Dieser Beitrag ist eine aktualisierte Version des Artikels: Hetterich L, Zipfel S,
Stengel A. Gastrointestinale somatoforme Störungen. PSYCH up2date 2019; 13 (4): 327–340