Aktuelle Dermatologie 2020; 46(05): 208-212
DOI: 10.1055/a-1002-9728
Fehler und Irrtümer in der Dermatologie
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Fehldiagnose eines genitalen Morbus Paget als Lichen sclerosus et atrophicus aufgrund verspäteter histologischer Diagnosesicherung

Misdiagnosis of Pagetʼs Disease as Lichen sclerosus et atrophicus due to Delayed Histologic Diagnosis
P. Elsner
1   Klinik für Hautkrankheiten, Universitätsklinikum Jena
,
M. Peckruhn
1   Klinik für Hautkrankheiten, Universitätsklinikum Jena
,
J. Meyer
2   Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern, Hannover
› Author Affiliations
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Peter Elsner
Klinik für Hautkrankheiten
Universitätsklinikum Jena
Erfurter Str. 35
07743 Jena

Publication History

Publication Date:
23 October 2019 (online)

 

Zusammenfassung

Eine Patientin mit Hautveränderungen im Bereich der Vulva wurde von einer Dermatologin unter der Diagnose eines Lichen sclerosus et atrophicus behandelt. Zum Ausschluss eines malignen Prozesses erfolgte die Überweisung an eine Gynäkologin zwecks Biopsie, die diese jedoch nicht vornahm. Die Dermatologin behandelte die Patientin über weitere dreieinhalb Jahre antientzündlich, bis durch eine bei einem anderen Gynäkologen durchgeführte Biopsie die Diagnose eines extramammären Morbus Paget gestellt wurde. Aufgrund des zwischenzeitlich ausgedehnten Befundes waren in der Folge wiederholte Vulvektomien mit erheblichen Residualschäden erforderlich.

Von der Schlichtungsstelle wurde ein schuldhafter Befunderhebungsfehler bejaht. Die Übertragung der Durchführung der histopathologischen Diagnostik ohne Einforderung des Befundergebnisses bzw. die histologisch unkontrollierte Aufrechterhaltung der Diagnose bei regelmäßiger Befundkontrolle und Therapie über mehr als 3 Jahre waren als Fehler ärztlichen Handelns einzuordnen.

Da es sich bei dem Biopsieauftrag um eine bloße Delegation einer genuin dermatologischen Leistung handelte, konnte sich die Dermatologin auch nicht auf den rechtlichen Grundsatz der „horizontalen Arbeitsteilung“ berufen. Indem sie die Patientin gleichwohl weiterbehandelte, bestand der Behandlungsvertrag, der sie persönlich zu einer Behandlung nach dermatologischem Facharztstandard verpflichtete, unverändert fort.

Dermatologen sollten bei der Delegation diagnostischer Leistungen an andere Fachgebiete sicherstellen, dass diese Leistungen auch tatsächlich erbracht werden.

Da Vulvakarzinome klinisch uncharakteristisch sein könnten, sollte bei dem geringsten Verdacht eine bioptische dermatohistologische Befundsicherung angestrebt werden.


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Abstract

A patient with vulvar skin lesions was treated by a dermatologist under the diagnosis of lichen sclerosus et atrophicus. To exclude a malignant process, the patient was referred to a gynaecologist for biopsy, which was not performed. The dermatologist continued to treat the patient with anti-inflammatory topicals for another three and a half years, until another gynaecologist performed a biopsy that showed Pagetʼs disease. Repeated vulvectomies with considerable residual damage were necessary.

The Independent Medical Expert Council (IMEC) confirmed a culpable medical diagnostic error. The delegation of the performance of histopathological diagnostics without demanding the result of the findings and the histologically uncontrolled maintenance of the diagnosis with regular therapy over more than 3 years were classified as medical errors.

Since the referral for biopsy was merely a delegation of a genuine dermatological duty, the dermatologist could not invoke the legal principle of the “horizontal division of responsibilities”. By continuing to treat the patient, the dermatologist upheld the treatment contract, which obliged her personally to a treatment according to the dermatological specialist standard.

When delegating diagnostic services to other specialists, dermatologists should ensure that these services are actually provided.

Since vulvar carcinomas may be uncharacteristic clinically, a biopsy with a dermatohistological workup should be performed at the slightest suspicion of any malignancy.


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Klinischer Fall

Aus den von der Schlichtungsstelle herangezogenen Krankenunterlagen, auch der vor- und nachbehandelnden Ärzte, ergab sich folgender Krankheits- und Behandlungsverlauf: Im Rahmen einer gynäkologischen Betreuung wurde bei der Patientin im Bereich der linken Vulva der klinische Verdacht eines Lichen sclerosus geäußert. Nachdem sich der Befund unter kortikoidhaltigen Externa nicht besserte, erfolgte die Vorstellung in einer Hautarztpraxis. Dort wurde der Befund einer weißlich, atrophischen Haut im Vulvabereich links mit der Verdachtsdiagnose Lichen sclerosus et atrophicans dokumentiert und als chronische Entzündung mit möglicher Entartung interpretiert. Spätere regelmäßige Kontrolluntersuchungen ergaben klinische Befunde zusätzlich im Vaginalbereich. Es erfolgte ein Arztbericht ohne Adressat – wahrscheinlich an die behandelnde Gynäkologin – mit der Verdachtsdiagnose Lichen sclerosus et atrophicans mit der Empfehlung einer dortigen histologischen Diagnosesicherung. Die weiteren hautfachärztlichen Kontrolluntersuchungen des Vulvabereiches ergaben zusätzlich Veränderungen im oberen Vaginalbereich bei dokumentiert gleichbleibender Diagnose sowie lokalen Therapiemaßnahmen. Erst 3 Jahre später wurde durch eine gynäkologische Praxis eine Probebiopsie im Vulvabereich mit histopathologischem Nachweis eines primär kutanen Morbus Paget durchgeführt. Aufgrund dessen erfolgten wiederholte operative Therapiemaßnahmen mit Teilvulvektomien beidseits mit schließlich histologischer Sicherung der Tumorfreiheit.


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Konsequenzen für die Patientin

Die Patientin bemängelte die Behandlung durch die Hautärztin.

Durch die Unterlassung der histologischen Abklärung bzw. Einleitung einer solchen bei der klinischen Verdachtsdiagnose eines Lichen sclerosus sei gegen den fachärztlichen Standard verstoßen und ein Morbus Paget der Vulva nicht diagnostiziert worden. Aufgrund dessen seien ausgedehnte gynäkologische Operationen erforderlich gewesen.

Von der Hautärztin wurde entgegnet, es sei nach gynäkologischer Überweisung der klinische Befund eines Lichen sclerosus et atrophicans erhoben worden. Nach Befundkontrolle sei die Patientin mit Arztbrief an die Gynäkologin rücküberwiesen worden mit der Empfehlung zur histologischen Diagnosesicherung. Operative Eingriffe würden von der Hautärztin generell nicht durchgeführt. Die weiteren Kontrolluntersuchungen ihrerseits seien mit jeweiligem Hinweis zur Vorstellung bei der behandelnden Gynäkologin erfolgt.


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Sachverständigen-Gutachten und Stellungnahme der Schlichtungsstelle

Der beauftragte dermatologische Gutachter hat nach Darstellung des Sachverhaltes folgende Kernaussagen getroffen: Entsprechend der Krankenunterlagen sei aktenkundig, dass die Hautärztin im Behandlungszeitraum über 3 Jahre ausführliche klinische Befunderhebungen einer Hauterkrankung im Vulva-/Vaginalbereich vorgenommen habe. Aufgrund dessen sei die Verdachtsdiagnose eines Lichen sclerosus et atrophicans gestellt worden und eine Externabehandlung durchgeführt worden. Es sei ein Arztkurzbrief über den anfänglichen Behandlungszeitraum nachweisbar, in dem eine histologische Sicherung der Diagnose empfohlen worden sei. Im weiteren Verlauf der Patientenkartei sei ein Hinweis auf eine Probebiopsie nicht mehr dokumentiert. Aus gutachterlicher Sicht sei durch die Hautärztin eine histopathologische Sicherung der Diagnose als indiziert angesehen worden, laut Aktenlage jedoch ein entsprechender Befund während der 3-jährigen Behandlung nicht eingefordert worden. Somit sei die Durchführung der Gesamtdiagnostik bei dieser Verdachtsdiagnose als nicht adäquat zu bewerten. Es sei nach klinischer Befunderhebung davon auszugehen, dass bereits bei Erstbeurteilung 2007 ein Morbus Paget als eigenständige Erkrankung und kein Lichen sclerosus et atrophicans vorgelegen habe. Aufgrund der durch die Hautärztin nicht erfolgten Kontrolle der bereits 2007 als indiziert angesehenen histologischen Diagnosesicherung sei eine deutliche Größenzunahme des onkologischen Befundes eingetreten. Bei Sicherung der Diagnose Morbus Paget mittels histologischer Untersuchung wäre das Ausmaß der operativen Maßnahmen/Vulvektomien deutlich geringer zu bewerten. Die Behandlung eines Lichen sclerosus et atrophicans des äußeren Genitale falle in die Fachkompetenz sowohl der dermatologischen als auch gynäkologischen Fachgebiete. Die als indiziert dokumentierte histopathologische Diagnosesicherung und Unterlassung bzw. Nichtkontrolle dieser Diagnostik und Befundes sei als Fehler ärztlichen Handelns zu bewerten.

Die Schlichtungsstelle schloss sich der Meinung des Gutachters im Ergebnis an. Da das Schlichtungsverfahren laut Antrag ausschließlich gegen die Hautärztin gerichtet war, konnte die Behandlung der Gynäkologin in diesem Verfahren nicht bewertet werden. Im Auftrag der behandelnden Gynäkologin erfolgte jedenfalls eine klinische Befunderhebung einer Hautveränderung im Vulvabereich links durch die Hautärztin. Laut Patientenkartei wurde aufgrund des klinischen Bildes die Verdachtsdiagnose eines Lichen sclerosus et atrophicans im Vulvabereich gestellt und eine „mögliche Entartung" bei Erstkonsultation in Erwägung gezogen. Da die Hautärztin selbst nicht operativ tätig war, erfolgte 3 Monate später ein Arztbrief mit Empfehlung zur histologischen Diagnosesicherung. Ein Morbus Paget als sehr seltene kontinuierlich wachsende intraepitheliale Neoplasie kann in Frühformen ein unspezifisches klinisches Bild hervorrufen und zur Differenzialdiagnose eines Lichen sclerosus et atrophicans führen. Zusätzlich trägt ein Lichen sclerosus et atrophicans der Vulva das Risiko für die Entwicklung eines Vulvakarzinoms in sich. Somit war auch bei nachträglich festzustellender falscher klinischer Diagnose die Empfehlung der Hautärztin zur histologischen Probebiopsie unter vulvoskopischer Kontrolle fachgerecht. Die Übertragung der Durchführung der histopathologischen Diagnostik ohne Einforderung des Befundergebnisses bzw. die histologisch unkontrollierte Aufrechterhaltung der Diagnose bei regelmäßiger Befundkontrolle und Therapie über mehr als 3 Jahre ist als Fehler ärztlichen Handelns einzuordnen. Die laut Patientenkartei dokumentierte Befundausbreitung während der über 3-jährigen Befundkontrolle hätte zusätzlich Anlass zu einer weiteren histologischen Abklärung geben müssen. Im vorliegenden Fall waren Mängel in der Befunderhebung festzustellen. Es stellte sich daher die Frage, inwieweit Veränderungen in der Beweislastverteilung zwischen den Parteien daraus resultieren. Eine fehlerhafte Unterlassung der medizinisch gebotenen Befunderhebung führt dann zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Schaden, wenn sich bei der gebotenen Befunderhebung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis gezeigt hätte und wenn sich die Verkennung dieses Befundes als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde. Diese Voraussetzungen waren hier erfüllt: Bei Befragung der Patientin wäre von der Hautärztin erkannt worden, dass eine histologische Befundung nicht stattgefunden hatte. Dann diese nicht umgehend zu veranlassen, würde in Anbetracht der dokumentierten klinischen Befunde einen schweren Behandlungsfehler darstellen. Vor dem Hintergrund der Beweislastumkehr reicht es für den Kausalitätsnachweis aus, dass die zu unterstellende fundamentale Verkennung des zu erwartenden Befundes oder die Nichtreaktion darauf generell geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen.

Die Beweislastumkehr bezieht sich auf folgende Primär- und typischerweise damit verbundene sekundäre Gesundheitsschäden:

Ausgedehnte operative Maßnahmen und eine invasive Wachstumstendenz des Morbus Paget hätten hinreichend wahrscheinlich verhindert werden können. Die zur In-toto-Entfernung des kutanen Morbus Paget erforderliche zweimalige ausgedehnte Vulvektomie wäre zu umgehen und mittels Teilvulvektomie beherrschbar gewesen. Der dadurch erforderliche langzeitige Heilungsprozess mit narbiger Abheilung und psychischer Beeinträchtigung ist als fehlerbedingt zu bewerten.


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Medizinische und rechtliche Interpretation

Der Lichen sclerosus et atrophicus (LSA) ist eine Bindegewebserkrankung, welche sich bevorzugt im Genitalbereich manifestiert, überwiegend das weibliche Geschlecht betrifft und sich klinisch an der Haut mit porzellanfarbenen, atrophen oder flach erhabenen, ovalen bis rundlichen Plaques präsentiert [1]. Er ist innerhalb der Gruppe der entzündlichen Vulvadermatosen mit einem Anteil von ca. 36 % die zweithäufigste Erkrankung [2]. Die Erkrankungshäufigkeit hat ihren Gipfel in der Menopause, jedoch können auch präpubertäre Mädchen erkranken [2]. Dermatohistologisch findet sich beim LSA eine Atrophie der Epidermis, ein subepidermales Ödem sowie Sklerosierung des Papillarkörpers mit Verlust der elastischen Fasern und ein bandförmiges lymphoplasmozelluläres Infiltrat unterhalb der Sklerosierungszone am Übergang zum Stratum reticulare [1] ([Abb. 1]).

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Abb. 1 Lichen sclerosus et atrophicus. Atrophe Epidermis, subepidermales Ödem sowie Sklerosierung des Papillarkörpers und bandförmiges lymphoplasmozelluläres Infiltrat unterhalb der Sklerosierungszone am Übergang zum Stratum reticulare mit Verlust elastischer Fasern.

Der genitale Morbus Paget ist ein intraepitheliales Adenokarzinom; im Vulvabereich ist er selten und nur für 1 % der Neoplasien der Vulva verantwortlich [3]. Durch sein klinisches Bild mit Erythem, ekzemartigen Hautveränderungen und z. T. Schuppung kann er leicht mit entzündlichen Dermatosen verwechselt werden; daneben kommen pigmentierte Formen vor, die mit melanozytären Tumoren verwechselt werden können [4]. Der Morbus Paget der Vulva betrifft überwiegend postmenopausale Patientinnen. Die Therapie ist oftmals schwierig, einerseits weil der Tumor nicht selten größer ist als klinisch erkennbar, andererseits weil aufgrund der Lokalisation radikale destruktive Verfahren mit einer starken Einschränkung der Patientinnen verbunden sind. Die häufigste Therapie stellt die chirurgische Exzision dar – problematisch sind hierbei jedoch die hohe Rezidivrate [5] und die Mutilation der Vulva durch wiederholte Eingriffe. Eine Mortalität von bis zu 40 % wurde beschrieben [6].

Für eine sichere Abgrenzung des Morbus Paget der Vulva von entzündlichen Dermatosen wie dem LSA oder dem genitalen Lichen ruber bedarf es einer dermatohistologischen Befundsicherung. Histologisch finden sich beim Morbus Paget atypische große, blasse Zellen in der Epidermis. Immunhistologisch färben diese meist positiv auf CEA, CK7, EMA, CAM5.2 und GCDFP-15 ([Abb. 2]).

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Abb. 2 Extramammärer Paget. Histologisch finden sich die namensgebenden pleomorphen Keratinozyten, die sog. Paget-Zellen, die bis in die obere Epidermis aufsteigen.

Die von der Hautärztin schriftlich gegenüber der mitbehandelnden Gynäkologin erklärte Notwendigkeit einer Hautbiopsie zum Ausschluss eines Malignoms bei primärem Verdacht auf Vorliegen eines LSA entsprach somit dem Facharztstandard. Die aktuelle Leitlinie zum Vulvakarzinom nennt als Hinweise für einen malignen Befund rasche Größenprogredienz, Farbveränderung, eine unscharfe Begrenzung, asymmetrisches Erscheinungsbildung, Bildung eines Ulkus, keine Abheilung unter konservativer Therapie und Blutung, verweist aber auch darauf, dass es kein pathognomonisches klinisches Erscheinungsbild gibt und dass bei einer Patientin verschiedene Erscheinungsbilder nebeneinander auftreten können [7]. Der Behandlungsfehler der Hautärztin bestand darin, dass sie eine gebotene Befunderhebung zwar veranlasst hatte, aber im Folgenden nicht überprüfte, ob diese überhaupt stattgefunden hatte. Daraus leitete die Schlichtungsstelle einen Befunderhebungsfehler ab, der zu einer Beweislastumkehr führt [8].

Der Fall wirft jedoch eine weitere rechtliche Problematik auf, nämlich die der Delegation von ärztlichen Leistungen. Ein Arzt ist nur zur Erbringung von Leistungen verpflichtet (und berechtigt), die sein Fachgebiet betreffen (Facharztstandard) und die seine Kompetenzen nicht übersteigen. Die Durchführung von Hautbiopsien auch im Genitalbereich ist zwar Teil des Fachgebiets Dermatologie [9]; ihre eigenständige Durchführung wäre damit von der behandelnden Dermatologin zu erwarten und zu fordern gewesen. Sollte sie jedoch etwa nicht über eine operative Ausstattung in ihrer Praxis verfügt haben, ist gegen eine Delegation dieser Leistung auf eine entsprechend ausgestattete Gynäkologin nichts einzuwenden. Da es sich bei dem Biopsieauftrag um eine bloße Delegation einer genuin dermatologischen Leistung handelte, kam der rechtliche „Grundsatz der horizontalen Arbeitsteilung“ nicht zum Tragen. Der „Grundsatz der horizontalen Arbeitsteilung“ ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung wie folgt definiert: „Hiernach hat jeder Arzt denjenigen Gefahren zu begegnen, die in seinem Aufgabenbereich entstehen; er muss sich aber, jedenfalls solange keine offensichtlichen Qualifikationsmängel oder Fehlleistungen erkennbar werden, darauf verlassen dürfen, dass auch der Kollege des anderen Fachgebiets seine Aufgaben mit der gebotenen Sorgfalt erfüllt. Eine gegenseitige Überwachungspflicht besteht insoweit nicht“ [10]. Dieser Grundsatz des berechtigten Vertrauens darauf, dass Kollegen in ihrem Aufgabenbereich die notwendige Sorgfalt beobachten, soll verhindern, dass sich Ärzte gegenseitig überwachen müssen, anstatt sich ihrer eigentlichen Aufgabe zu widmen. Dass die Gynäkologin innerhalb ihres eigenen Fachgebiets, zu dem auch die Behandlung von Vulvaerkrankungen gehört, unabhängig von dem Leistungsauftrag der Dermatologin auch die leitliniengerechte Pflicht getroffen hätte, einen unklaren Befund histologisch abzuklären, kann dabei außer Acht bleiben, da sich der Behandlungsvorwurf ausschließlich gegen die weiterbehandelnde Dermatologin richtete. Diese mehrjährige Weiterbehandlung unter der fehlerhaft nicht histologisch gesicherten Diagnose begründete deren Haftpflicht, denn mithin bestand der Behandlungsvertrag, der sie zu einer Behandlung nach Facharztstandard verpflichtete, unverändert fort. Hätte die Hautärztin ihre Behandlung mit Rücküberweisung an die Gynäkologin und gleichzeitiger Aufforderung zur histologischen Befunderhebung beendet, wären die leitliniengerechten Behandlungspflichten auf diese übergegangen.

Nach § 630a Abs. 2 BGB hat die Behandlung „nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist“; die Hauptleistungspflichten des Behandelnden werden jedoch in § 630a BGB nicht abschließend geregelt. Nach teilweise in der juristischen Literatur vertretener Auffassung soll auch die Pflicht zur sachgerechten Organisation des Behandlungsablaufs eine Hauptleistungspflicht sein [11]; dies ist jedoch von der Rechtsprechung noch nicht höchstinstanzlich geklärt. Falls man dieser weitreichenden Rechtsauffassung folgt, könnte aus der Behandlungsorganisationspflicht auch eine Nachwirkung selbst nach Beendigung des Behandlungsvertrags folgen.

Take Home Message

Unklare Hautveränderungen im Genitalbereich erfordern unverzüglich eine bioptische dermatologische Diagnosesicherung zum Ausschluss eines malignen Prozesses, da Genitalkarzinome klinisch uncharakteristisch sein können. Dermatologen sollten bei der Delegation genuin dermatologisch-diagnostischer Leistungen an andere Fachgebiete sicherstellen, dass diese Leistungen auch tatsächlich erbracht werden.


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Interessenkonflikt

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Peter Elsner
Klinik für Hautkrankheiten
Universitätsklinikum Jena
Erfurter Str. 35
07743 Jena


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Abb. 1 Lichen sclerosus et atrophicus. Atrophe Epidermis, subepidermales Ödem sowie Sklerosierung des Papillarkörpers und bandförmiges lymphoplasmozelluläres Infiltrat unterhalb der Sklerosierungszone am Übergang zum Stratum reticulare mit Verlust elastischer Fasern.
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Abb. 2 Extramammärer Paget. Histologisch finden sich die namensgebenden pleomorphen Keratinozyten, die sog. Paget-Zellen, die bis in die obere Epidermis aufsteigen.