Oft wissen sich Pflegende und Ärzte nicht anders zu helfen, als bei motorischer Unruhe
oder herausforderndem Verhalten freiheitsentziehende Maßnahmen anzuwenden.(Symbolbild/Quelle:
Alexander Fischer/Thieme Gruppe)
Die aktuelle Lage
Es ist eine allzu bekannte Situation: Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen (häufig
einer Demenzerkrankung) kommen wegen einer Akutsituation in die Klinik. Die ungewohnte
Umgebung, die Hektik in der Notaufnahme und auf Station, Personal, das nicht unbedingt
gut auf die Versorgung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen vorbereitet
ist – all das überfordert und überwältigt [1]. In einer 2016 veröffentlichten Studie, der von der Robert Bosch Stiftung geförderten
GhoSt (General Hospital Study), fand man heraus, dass 40% der über 65-jährigen Patienten
in Allgemeinkrankenhäusern an kognitiven Störungen bzw. Demenzen leiden. Fast 80%
dieser Patienten zeigten neben kognitiven Beeinträchtigungen sog. herausforderndes
Verhalten [2]. Zu diesem Verhalten zählt man neben Unruhe, Angst, Stimmungsschwankungen, Halluzinationen
und Reizbarkeit auch Schlafstörungen und einen ausgeprägten Bewegungsdrang [3].
Besonders im Krankenhaus begegnet man Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und
Demenz von pflegerischer und medizinischer Seite oft mit Unsicherheit, gepaart mit
mangelndem Wissen über Demenz: Wie kommuniziert man mit Menschen mit Demenz? Wie kann
man der motorischen Unruhe dieser Menschen begegnen? Wie gefährdet sind sie, ein Delir
auszubilden oder zu stürzen [4]? Leider ist das Mittel der Wahl, solchen Unsicherheiten zu begegnen, häufig eindeutig:
Man greift zu freiheitseinschränkenden Maßnahmen.
Es kann davon ausgegangen werden, dass etwa bei 12 von 100 Patienten in Deutschlands
Krankenhäusern eine freiheitseinschränkende Maßnahme angewandt wird. Besonders häufig
handelt es sich hierbei um das Aufstellen von Bettgittern [5].
Wie sieht die Pflegesituation eines solchen alten Menschen aus, der Gefahr läuft,
im Krankenhaus mit einer freiheitseinschränkenden Maßnahme behandelt zu werden? In
der Forschung finden sich vor allem folgende Kriterien [6]:
-
eingeschränkte Mobilität
-
kognitive Beeinträchtigungen (z. B. Delir oder Demenz)
-
herausforderndes Verhalten
-
hoher Pflege- und Betreuungsbedarf
-
ein von Pflegekräften vermutetes Sturzrisiko
-
Sicherstellung (intensiv)medizinischer Versorgung (z. B. um das Entfernen oder Manipulieren
von Infusionen bzw. Zugängen, Sonden, Harnkathetern oder Verbänden zu verhindern)
Für viele Menschen mit Demenz bzw. kognitiven Beeinträchtigungen, die auf eine Krankenhausbehandlung
angewiesen sind, beginnt oftmals eine Spirale abwärts: Ihre Orientierung, Mobilität
und kognitiven Fähigkeiten verschlechtern sich. Sie sind plötzlich an das Bett gebunden
und gänzlich aus ihrem gewohnten Umfeld und Alltag gerissen. Etwaigen Verhaltensauffälligkeiten
begegnet man oft mit körpernahen Fixierungen und ruhigstellenden Medikamenten [7]. Im schlimmsten Fall wird ein Mensch mit Demenz, der eben noch in der Lage war,
seinen Alltag mit unterstützenden Sorgestrukturen zu meistern, am Ende des Krankenhausaufenthalts
als „Pflegefall“ entlassen [4]. Wie kann diese Abwärtsspirale verhindert werden? Wie können wir sichergehen, dass
wir Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ernst nehmen, respektieren und zugleich
vor Gesundheitsrisiken z. B. durch Stürze schützen? Sind freiheitseinschränkende Maßnahmen
dazu geeignet? Und wenn nicht, welche Alternativen zu denselben gibt es?
Rechtliche Grundlagen
Es kann schwerfallen, sich in dem Dschungel von Gesetzen und Verordnungen rund um
Freiheitseinschränkung und -entzug zurechtzufinden. Auch wenn man aus dem pflegerischen
Alltag vielleicht ungefähr weiß, was freiheitseinschränkende Maßnahmen sind, ist es
doch gar nicht so leicht, diesen Begriff zu definieren. Hier kann ein Blick in die
wichtigsten Gesetze helfen.
Das Grundgesetz
Allen voran ist hier das Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland zu nennen.
Am wichtigsten ist hier Art. 1 Abs. 1 GG, der die gleiche Würde aller Menschen anerkennt.
Diese inhärente, d. h. jedem Menschen innewohnende Würde ist komplett unabhängig von
Faktoren wie Alter, Gesundheit, kognitivem Zustand usw. Sie kommt ausnahmslos jedem Menschen zu. Die fundamentale Aufgabe des Staates ist es dementsprechend, den Menschen
zu schützen. Das klingt banal, ist aber in Bezug auf die Anwendung freiheitseinschränkender
Maßnahmen bei Menschen mit Demenz und kognitiven Beeinträchtigungen besonders wichtig.
Man könnte es für offensichtlich halten, dass Menschen mit Demenz dieselbe Menschenwürde
haben wie Menschen, die nicht kognitiv beeinträchtigt sind. Warum ist dies noch eigens
zu erwähnen? Leider gibt es heute – auch im klinischen Kontext – noch Positionen,
die Menschen allein auf ihre kognitiven Fähigkeiten reduzieren und die Würde des Menschen
an gewissen Kriterien (Selbstbewusstsein, Zukunftsfähigkeit, Handlungsfähigkeit) festmachen,
z. B. daran, ob deren Gehirn einwandfrei funktioniert – oder eben nicht. Dieses sog.
„zerebrozentrische“ (vom lateinischen Wort für Gehirn, cerebrum, abgeleitet), d. h.
auf das Funktionieren des Gehirns zentrierte Menschenbild, hat gefährliche Folgen
für eine angemessene pflegerische Versorgung und Betreuung von Menschen mit Demenz
[8], [9]. Menschen, die aufgrund einer kognitiven Beeinträchtigung bzw. einer Demenzerkrankung
Einbußen in ihrer Kognition erlitten haben, hätten dieser Haltung nach keine Menschenwürde
mehr oder nur eine eingeschränkte Würde. Freiheitseinschränkende Maßnahmen wären dann
sehr leicht zu rechtfertigen: Sie würden schließlich statt eines Menschen mit Würde
nur einen stark beschädigten Organismus betreffen.
Wir betonen noch einmal: Im Sinne des Grundgesetzes hat ein Mensch mit Demenz dieselben
Rechte wie jeder andere Mensch – auch und besonders im Krankenhaus: Ein Recht auf
gesellschaftliche Teilhabe, ein Recht auf Rahmenbedingungen, die die Autonomie fördern,
ein Recht auf wirksamen Schutz seiner Freiheitsrechte, ein Recht auf Individualität,
ein Recht auf Schutz vor Eingriffen in Freiheit und Gesundheit sowie ein Recht auf
fachlich adäquate pflegerisch-medizinische Begleitung [10]. Diesen Überlegungen entsprechend, wurde 2005 die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen (auch Pflege-Charta genannt) vom Bundesfamilienministerium, vom Bundesgesundheitsministerium
und vom Deutschen Zentrum für Altersfragen verabschiedet [11].
Die Pflege-Charta
Die Pflege-Charta gilt innerhalb des deutschen Rechtssystems als sogenanntes Soft Law, d. h. im Unterschied zum Hard Law als nicht verbindlich [10]. Trotz ihres Soft-Law-Charakters will sie im Sinne der Initiatoren als verbindlicher
Rechtskatalog für pflegebedürftige Menschen verstanden werden. Sie formuliert, welche
Rechte pflege- und hilfebedürftige Menschen in Deutschland haben [11]. Im gerichtlichen Kontext bietet die Pflege-Charta eine Auslegungshilfe für die
Rechtsprechung an, die sogar so weit geht, dass ein Nichtbeachten der Charta als „rechtsfehlerhaft“
eingestuft werden könnte [12].
In den Artikeln 1 und 2 der Pflege-Charta wird das Recht auf Selbstbestimmung, körperliche
und seelische Gesundheit und Freiheit sowie der Schutz vor Gewalt noch einmal ausdrücklich
betont. Eigens formuliert gehört hier auch der Schutz vor der Anwendung freiheitseinschränkender
Maßnahmen wie z. B. das Angurten oder das Verabreichen ruhigstellender Medikamente
ohne eine medizinische Notwendigkeit dazu. Darüber hinaus warnt die Charta, dass die
Anwendung freiheitseinschränkender Maßnahmen gesundheitliche Gefahren birgt und fordert
daher, neben einer stetigen Beobachtung der betroffenen Person, eine regelmäßige Prüfung
der Erforderlichkeit der Maßnahme [13].
Eigentlich enthält sie daher nicht viel Neues, sondern möchte noch einmal ausdrücklich
darauf hinweisen, dass das GG auch für pflegebedürftige Menschen gilt. Wie die Kommission
des 6. Altenberichts der Bundesregierung feststellt, ist es beängstigend, dass es
in unserer Gesellschaft überhaupt notwendig ist, in einer eigenen Charta festschreiben
zu müssen, was eigentlich pflegerisch selbstverständlich sein sollte. Es sei äußerst
kritisch zu betrachten, welche diskriminierenden Verhaltensweisen und Altersbilder
in der Pflege noch heute verbreitet seien [14].
Was sind feM?
Zurück zum Grundgesetz: Der grundrechtliche Schutz der Freiheit in Art. 2 Abs. 2 GG
schließt die Anwendung freiheitseinschränkender Maßnahmen mit ein, da hier die Fortbewegungsfreiheit
unmittelbar betroffen ist. Jeder Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit kann nach Art.
2 Abs. 2 GG als freiheitseinschränkende Maßnahme bezeichnet werden [15].
Der Deutsche Ethikrat versteht darunter solche Maßnahmen, „die eine Person von der
freien Körperbewegung abhalten und/oder vom normalen Zugang zu ihrem Körper durch
die Anwendung irgendeiner Maßnahme, die am Körper oder in der Nähe des Körpers angebracht
ist und von ihr nicht kontrolliert oder mühelos entfernt werden kann“ [16].
Wann ist nun eine solche Maßnahme als freiheitsentziehend zu bewerten? Wenn diese Maßnahmen von einer gewissen Intensität und/oder Dauer bzw.
Regelmäßigkeit sind und gegen den Willen des Betroffenen eingesetzt werden, werden
sie juristisch gesprochen freiheitsentziehende Maßnahmen (feM) genannt und fallen unter den § 1906 BGB. Um eine feM zu ergreifen,
ist eine richterliche Genehmigung notwendig. Darin besteht ein wichtiger Unterschied
zu anderen freiheitseinschränkenden Maßnahmen, die kurzfristig angewandt werden (z. B.
Aufstellen der Bettgitter bei der morgendlichen Grundpflege, um zu vermeiden, dass
die Person bei dem Hin- und Herdrehen aus dem Bett fällt). Ab wann eine Maßnahme „längerfristig“
ist, ist aber rechtlich nicht genau geregelt. Entscheidend ist die Intensität des
Eingriffs in die Freiheit. Nach Ansicht des Aktionsbündnisses Patientensicherheit
sollte eine richterliche Genehmigung angestrebt werden, sobald sich abzeichnet, dass
die Maßnahme nicht nur wenige Stunden andauern wird [17].
Beispiel
Eine Person mit einer demenziellen Erkrankung als Nebendiagnose wird in das Krankenhaus
eingeliefert. Da die Pflegenden die Sturzgefahr nicht genau einschätzen und den Willen
der Person nicht in Erfahrung bringen können, stellen sie für die ganze erste Nacht
des Aufenthalts Bettgitter auf. Bereits hier handelt es sich um eine genehmigungspflichtige
freiheitsentziehende Maßnahme!
Wann sind feM zulässig?
In Anlehnung an die Handreichung des Aktionsbündnisses Patientensicherheit soll im
Folgenden erklärt werden, welche möglichen rechtlichen Szenarien es bei der Anwendung
von feM geben kann: Grundsätzlich sind feM verboten. Jeder, der sie zu Unrecht durchführt,
macht sich unter Umständen der Freiheitsberaubung strafbar. FeM können nur zulässig
sein, wenn sich der Betroffene selbst erheblich gefährdet und es kein anderes, milderes
Mittel gibt, das diese Selbstgefährdung verhindern kann [16], [17]. Zusätzlich muss eines der folgenden 3 Kriterien erfüllt sein:
-
Eine Einwilligung des einwilligungsfähigen (!) Patienten liegt vor.
-
Ein rechtfertigender Notstand nach § 34 StGB liegt vor.
-
Eine richterliche Genehmigung wird erteilt.
Je nachdem, welches Kriterium erfüllt ist, ergeben sich verschiedene Vorgehensweisen,
wie eine feM erlaubt und durchgeführt werden kann [17].
Fallbeispiel 1
Eine Einwilligung des einwilligungsfähigen (!) Patienten liegt vor.
Wenn der Patient entscheidungs- und einwilligungsfähig ist, kann er der Durchführung
einer feM zustimmen, sodass diese gerechtfertigt ist. Das gilt aber nur, solange die
oben genannten Kriterien noch erfüllt sind: Es besteht eine Selbstgefährdung und es
gibt keine milderen Mittel als feM. Diese Entscheidung kann der Patient jederzeit
widerrufen. In diesem Fall muss die feM entfernt werden, wenn es keinen anderen Rechtfertigungsgrund
für sie gibt.
Angesichts dieser kompliziert und aufwändig wirkenden Regelungen könnte man sich fragen:
Ist dieses Vorgehen nicht übertrieben? Wäre es nicht leichter, auf richterliche Genehmigungen
und langwierige Entscheidungsprozesse zu verzichten? Die naheliegende Antwort auf
diese Fragen kann natürlich in erster Linie der Verweis auf das geltende Recht in
Deutschland sein. Darüber hinaus sei aber auch noch auf ein Merkmal von feM hingewiesen,
das immer wieder unterschätzt oder übersehen wird: Auch, wenn wir die Anwendung von
feM häufig nicht als solche wahrnehmen – es handelt sich dabei um eine Form von Gewalt. Gewalt ist ein vielschichtiger Begriff und deckt jede Zufügung körperlichen, emotionalen
und/oder psychischen Schadens sowie jede Rechtseinschränkung, die den Menschen in
Persönlichkeit und Würde verletzt, mit ab [19]. Als Gewaltanwendung befinden sich feM zu Recht immer in der rechtlich prekären
Lage, richterlich geprüft und genehmigt werden zu müssen. Dabei gilt es zudem immer
mit zu bedenken: Auch richterlich genehmigte Gewalt ist und bleibt Gewalt am pflegebedürftigen
Menschen. Den beteiligten Akteuren im Krankenhaus ist oft nicht bewusst, dass es sich
bei der Anwendung von feM um tiefgreifende Einschnitte in die Grundrechte handelt,
die folgenreiche Auswirkungen auf die Lebenssituation und Lebensqualität der Betroffenen
und damit auf den gesamten Pflegeprozess haben.
Fallbeispiel 2
Ein rechtfertigender Notstand nach § 34 StGB liegt vor.
Liegt eine gegenwärtige Gefahrensituation für den Patienten vor, die nicht anders
abzuwenden ist und der Patient kann oder will nicht zustimmen, kann die feM gegen
seinen Willen durchgeführt werden, wenn und solange dies zur Abwehr einer Notsituation
notwendig ist. Fährt z. B. ein gangunsicherer Patient mit einem Rollstuhl an eine
steile Treppe und möchte sich aus ihm erheben, liegt eine Gefahrensituation vor, in
der man einschreiten darf bzw. muss [18]. Sollte sich herausstellen, dass die Gefahr länger andauert bzw. regelmäßig wiederkehrt,
ist das Betreuungsgericht einzuschalten. Man darf sich nicht sozusagen bei jeder wiederkehrenden
Gelegenheit auf einen rechtfertigenden Notstand berufen. Um bei dem Beispiel zu bleiben:
Es wäre nicht zulässig, dem besagten Patienten von nun an immer eine Sitzhose anzulegen
und sich auf die Gefahrensituation an der Treppe zu berufen. Die Gefahrensituation
ist bereits vorbei und die Maßnahme soll erneut angewandt werden? Dann ist sie bereits
genehmigungspflichtig.
Fallbeispiel 3
Eine richterliche Genehmigung wird erteilt.
Der § 1906 BGB regelt die richterliche Genehmigung von feM sowohl in Einrichtungen
der stationären Langzeitpflege als auch in Akutkrankenhäusern. Grundsätzlich entscheidet
der Richter des zuständigen Betreuungsgerichts auf Antrag, welche feM in welchem Zeitraum
ergriffen werden dürfen – nicht die Pflegekraft und nicht der Arzt. Der Antrag für
eine feM wird nicht von Pflegekräften oder Ärzten gestellt – diese sind, wenn überhaupt,
beratend tätig –, sondern von einem Betreuer bzw. Bevollmächtigten. Die Entscheidung
eines Betreuers oder Bevollmächtigten, eine feM anzuwenden, muss (ggf. auch im Eilverfahren)
auf Antrag durch das Betreuungsgericht genehmigt werden, wenn die Freiheit des Patienten
länger oder regelmäßig eingeschränkt werden soll. Das bedeutet: Jede feM muss, da
sie längerfristig bzw. regelmäßig angewandt wird, beim Betreuungsgericht beantragt
werden. Wichtig: Oft wird im pflegerischen Alltag einfach die Zustimmung der Angehörigen
des Patienten eingeholt. Diese Zustimmung ist aber nicht gültig, es sei denn, diese Angehörigen wurden zum Betreuer bestellt oder eine entsprechende
Vorsorgevollmacht des nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten liegt vor. Auch wenn im Rahmen der Vorsorgevollmacht verfügt wurde, dass die bevollmächtigte Person im
Zweifelsfall über den Einsatz von feM entscheiden darf, reicht dies nicht aus. Ein Antrag bei dem Betreuungsgericht ist notwendig.
Wir gehen einen Schritt weiter: Selbst wenn schließlich eine richterliche Genehmigung
für die Anwendung einer feM vorliegt, bedeutet das – wie häufig fälschlicherweise
angenommen – nicht, dass diese angebracht bzw. angewendet werden muss. Die Genehmigung ist eine Erlaubnis („Du darfst …“) und keine Verpflichtung („Du
musst …“). Es ist hier die Aufgabe der Pflegefachkräfte, die Erforderlichkeit der
feM stets erneut zu evaluieren.
FeM im Akutkrankenhaus
Allgemein gesprochen regelt der § 1906 BGB die Genehmigung des Betreuungsgerichts
bei einer freiheitsentziehenden Unterbringung und bei freiheitsentziehenden Maßnahmen.
Unter freiheitsentziehenden Unterbringungen im Kontext des Krankenhauses werden z. B.
das Unterbringen auf Code-gesicherten Stationen bzw. Schließmechanismen an Türen verstanden.
Freiheitsentziehende Maßnahmen, auf die wir uns hier konzentrieren wollen, können
viele verschiedene Formen annehmen. [Abb. 1] zeigt verschiedene Beispiele [15], [16], [18], [20].
Abb. 1 Beispiele für freiheitsentziehende Maßnahmen.
Medikamentöse Fixierung
Wenn Medikamente wie Psychopharmaka mit dem Ziel verabreicht werden, den Patienten
ruhigzustellen und an Bewegungen zu hindern, dann handelt es sich hierbei um eine
feM nach § 1906 BGB, in dem die Verwendung von Medikamenten mit dem Ziel des Freiheitsentzugs
eigens erwähnt wird. Maßgeblich entscheidend ist hier die Intention bei der Verabreichung
der Medikamente: Wenn das Medikament medizinisch indiziert ist und sedierende Nebenwirkungen
mit sich bringt, handelt es sich hier nicht um absichtlichen Freiheitsentzug. Dementsprechend
gilt in so einem Fall auch keine Genehmigungspflicht. Wird das Medikament jedoch mit
dem Hauptziel gegeben, den Patienten ruhigzustellen, handelt es sich um eine genehmigungspflichtige
feM [15].
Oft kann es im klinischen Alltag hektisch und belastend sein, wenn Menschen mit Demenz
motorisch unruhig sind und sich übermäßig bewegen. Der zusätzliche Aufwand, der damit
verbunden ist, ist aber noch lange keine medizinische Indikation für ruhigstellende
Medikamente. Laut der S3-Leitlinie Demenzen, die sich an Ärzte richtet, reicht so
eine Begründung ausdrücklich nicht aus, um das Medikament zu verabreichen. Nur wenn
es keine einzige mögliche Alternative mehr gibt, kann eine pharmakologische Intervention
zur Abwehr der Selbstgefährdung erforderlich sein [21]. Wenn trotzdem häufig das fragwürdige Argument hervorgebracht wird, man spare durch
die Verwendung von Psychopharmaka zur Ruhigstellung Zeit, Personal und Kosten, kann
darauf geantwortet werden: Die Gabe dieser Medikamente führt wiederum nachweislich
zu Stürzen, Dysphagie oder Deliren, sodass sogar ein höherer Betreuungsaufwand entsteht
[22].
Negative Folgen von feM
Die Anwendung von feM ist mit negativen Folgen für Leib und Seele der Betroffenen
assoziiert. In einer Überblicksarbeit trugen Hamers und Huizing [6] internationale Forschungsergebnisse zusammen, die unter anderem die in [Abb. 2] aufgeführten Negativfolgen des Einsatzes von feM nannten.
Abb. 2 Negative Folgen von freiheitsentziehenden Maßnahmen.
Begründungen für feM
Welche Begründungen führen Pflegekräfte im klinischen Alltag für die Verwendung von
feM an? Wie werden feM meistens gerechtfertigt? Die Forschung von Hamers und Huizing
[6] ergab diesbezüglich, dass eine ganze Bandbreite an verschiedenen Gründen diskutiert
werden: Am häufigsten wird hier die tatsächliche bzw. von Pflegekräften vermutete
Sturzgefahr genannt, die den Einsatz von feM rechtfertigen soll. Auch der Schutz von
medizinischen Vorrichtungen wie Sonden, Zugängen und Verbänden, die entfernt oder
manipuliert werden könnten, wird als Begründung angeführt. Schließlich kann auch das
bereits erwähnte herausfordernde Verhalten, das sich z. B. in Wandering, Aggressivität
und motorischer Unruhe äußert, häufig Anlass für die Verwendung von feM sein [6]. Im Folgenden sollen die wichtigsten dieser Begründungen vorgestellt und geprüft
werden.
Sturzgefahr
Der Hauptgrund, der im pflegerischen Alltag zur Begründung von feM herangezogen wird,
ist die Sturzgefahr. Tatsächlich sind Stürze vor allem älterer Patienten mit kognitiven
Beeinträchtigungen häufig und ein ernst zu nehmendes Problem. Pro Jahr gibt es in
großen Krankenhäusern ca. 1000 Sturzereignisse, wobei dies nur die Zahl der erfassten
und dokumentierten Stürze ist. Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. Ein Großteil
aller Stürze älterer Patienten im Krankenhaus ereignet sich im Patientenzimmer, auf
dem Weg zur oder auf der Toilette bzw. in der Nasszelle. Häufig kommt es beim Gehen
und dem Wechsel vom Bett zum Stuhl/Rollstuhl oder umgekehrt zu Stürzen. Wesentlich
seltener sind Stürze aus dem Bett [17]. Eine zunächst naheliegende Schlussfolgerung lautet häufig: „Wenn ich mit einer
feM den Patienten an diesen Tätigkeiten hindere, verhindere ich auch Stürze“.
Sturzursachen sind vielfältig: Altersbedingte Veränderungen, Medikation, Hilfsmittel,
Kleidung, Schuhwerk und umgebende Architektur können alle das Sturzrisiko beeinflussen.
Auch demenzielle Erkrankungen können das Sturzrisiko erhöhen, denn Desorientiertheit
und Sprach-, Handlungs- und Bewegungsstörungen machen besonders anfällig für Stürze
[23]. Kann man diesem Risiko mit feM erfolgreich entgegenwirken? Hält die zur Sturzvermeidung
angewandte feM das, was sie verspricht?
Anders als erwartet konnten Studien nicht nachweisen, dass feM zur Sturzprophylaxe
wirklich geeignet sind: Menschen ohne feM stürzen nicht häufiger als Menschen mit feM. Das durch das Bundesfamilienministerium und die Robert
Bosch Stiftung finanzierte Modellvorhaben ReduFix fand heraus, dass fixierte Personen
sogar öfter und bei angebrachtem Bettgitter auch tiefer stürzen. Die Folge sind mehr
und schwerere Verletzungen bei Stürzen (siehe [Abb. 3]) [24].
Abb. 3 Versucht ein Patient, aus einem Bett mit Bettgitter zu entfliehen, ist die Fallhöhe
größer als ohne Bettgitter.(Symbolbild/Quelle: Alexander Fischer/Thieme Gruppe)
Das Problem reicht sogar noch weiter: Nicht nur, dass feM keine erfolgreiche Sturzprophylaxe
leisten, sie können auch neue Gefahren bedeuten – vor allem für Menschen mit Demenz,
die den Sinn der Maßnahmen oft nicht verstehen können. Besonders bei körpernahen Fixierungen
kann die Fixierung selbst lebensgefährlich werden: Wenn Fixierungen fehlerhaft angelegt
werden, können sie durch Strangulation, Brustkorbkompression oder Kopftieflage zum
Tod der Patienten führen. Selbst korrekt angebrachte Fixierungen können und haben
bereits zum Tod von Menschen geführt, da diese bei dem Versuch, aus den Fixiergurten
herauszurutschen, stranguliert wurden [20], [25]. Eine harmlos wirkende Fixierung durch einen körpernahen Fixiergurt stellt wie jede
feM eine Gewalthandlung dar und ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.
Herausforderndes Verhalten
Handlungen, die für den Menschen mit Demenz vielleicht einen eigenen Sinn haben oder
ein natürliches Bedürfnis nach Bewegung und Freiheit zum Ausdruck bringen, können
oft den straffen und disziplinierten Alltag in der Klinik durcheinanderbringen. Das
Verhalten von Menschen mit Demenz, das hier „störend“ wirkt, wird entsprechend als
herausforderndes Verhalten bezeichnet, obwohl es sicher nicht die Absicht eines Menschen
mit Demenz ist, irgendjemanden zu stören oder herauszufordern.
Zusatzinfo
Herausforderndes Verhalten
Symptome, die als herausforderndes Verhalten bezeichnet werden sind: Unruhe, Angst,
Apathie, Konfabulieren (unzusammenhängende, nicht der Wirklichkeit entsprechende Aussagen),
Depressionen, Stimmungsschwankungen, Halluzinationen, Reizbarkeit, Verwechslung von
Personen oder Gegenständen, Verfolgungswahn, Schlafstörungen, Umherirren, Wandering,
lautes Rufen, Aggressionen [3], [26].
Die Behandlung demenzkranker Menschen, besonders, wenn sie herausfordernde Verhaltensweisen
zeigen, kann für Pflegende eine erhebliche Belastung darstellen und man ist schnell
in der Situation, dieses Handeln unterdrücken und verdrängen zu wollen. Dabei hat
das scheinbar unerklärliche Verhalten der Menschen mit Demenz – wie man heutzutage
weiß – einen identifizierbaren Grund. Allem voran ist häufig Schmerz die Ursache von
herausforderndem Verhalten [27].
Umgang mit Menschen mit Demenz
Umgang mit Menschen mit Demenz
Die gesamte Betreuungssituation von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen (besonders
Demenz) im Krankenhaus ist von der Spannung zwischen hoch individuellen Bedürfnissen
und den institutionellen und ökonomischen Abläufen der Klinik geprägt [28]. Sobald ein Patient die Abläufe durchbricht, wird er als Störung wahrgenommen und
es wird sehr wahrscheinlich versucht, auf das Verhalten einzuwirken. Oft wird dann
zu feM gegriffen, da sich die Pflegenden nicht mehr anders zu helfen wissen [26].
Wir müssen genauer hinterfragen, wie wir Menschen mit Demenz wahrnehmen und wie wir
unsere Vorstellung von pflegerischer Tätigkeit im Akutkrankenhaus unter Umständen
neu denken müssen. Es lässt sich festhalten, dass das Akutkrankenhaus gegenwärtig
eine Organisation ist, die von ökonomischen Motiven dominiert wird. In einem Setting
mit routinierten Arbeitsabläufen und wenig Spielraum für die Pflegenden gerät die
Praxis ins Stocken, wenn sich Patienten nicht in den eng getakteten Plan „fügen“.
Schnell werden diese dann in den Augen der Pflegenden und Ärzte zu „Störenfrieden“,
die unter Kontrolle gebracht werden müssen. Wenn Überreden nicht mehr funktioniert,
werden häufig an sich nicht indizierte feM in Form von z. B. medikamentöser Fixierung
als Mittel verwendet, um die Patienten zwangsweise zu integrieren [29]. Damit soll nicht behauptet werden, dass Pflegende und Ärzte hier böswillig handeln
oder Menschen mit Demenz schaden wollen. Vielmehr ist es vonseiten der Pflegenden
häufig Unwissenheit, Zeitdruck, Stress und Überforderung, die dazu führen, dass man
in der feM die einzige Möglichkeit sieht, spontan entstehende Gefahrensituationen
zu bewältigen. Es scheint ein strukturelles Problem im Akutkrankenhaus zu geben.
Wie das Pflegethermometer 2014, eine bundesweite Befragung von leitenden Pflegekräften
in Krankenhäusern, ergab, wurde es von 58,5% der Befragten als stark belastend empfunden,
zeitlich an die Patienten mit Demenz gebunden zu sein und noch andere Arbeit tun zu
müssen. Von 56,5% der Befragten wurde es als stark belastend empfunden, Menschen mit
Demenz nicht gerecht werden zu können. Auch der Einsatz von feM wurde im Pflegethermometer
explizit thematisiert: Beinahe die Hälfte (49,4%) der Befragten empfanden es als stark
belastend, feM nicht verhindern zu können [30].
Besonders deutlich wird die schwierige Situation von Pflegekräften im Fall der nächtlichen
Pflege im Krankenhaus, die noch einmal drastisch die geschilderten Probleme zuspitzt:
Wie eine Studie 2015 ergab, sind heutzutage 72% der Pflegenden nachts alleine für
die Station zuständig [31]. Bis zu 10 Stunden versorgt zumeist eine Pflegefachkraft zwischen 20 bis 33 (!)
Patienten [31]. Weiterhin sind im Vergleich zu einer Studie aus den 1980er-Jahren die Anzahl von
Patienten mit Demenz, das Auftreten von herausforderndem Verhalten und der Einsatz
von freiheitsentziehenden Maßnahmen im Akutkrankenhaus gestiegen [31]. Diese schwierige Situation muss berücksichtigt werden, wenn das Akutkrankenhaus
ein demenzsensibles Klima entwickeln soll. Ein wichtiger Schritt dazu kann die Sensibilisierung
für Demenz und die rechtlichen, pflegefachlichen und ethischen Probleme, die mit feM
einhergehen, sein. Um ein für Menschen mit Demenz bzw. kognitiven Beeinträchtigungen
förderliches Milieu zu schaffen, bedarf es neben einer offenen und guten Teamkultur
auch des Einsatzes von gerontopsychiatrisch weitergebildeten Pflegekräften und sog.
Demenzexperten. Auch ist die Bedeutung von Sorgestrukturen z. B. in Form von bürgerschaftlichem
Engagement im Kontext des Krankenhauses oder die Möglichkeit eines Rooming-ins z. B.
für Begleitpersonen nicht aus dem Auge zu verlieren.
Alternativen zu feM
Immer wieder stellt sich die Frage, ob es überhaupt möglich ist, auf Maßnahmen wie
Bettgitter oder Fixiergurte zu verzichten. Ganz klar ist diese Frage zu bejahen: Es
ist möglich, auf feM zu verzichten. Um bei dem Einsatz von feM im Akutkrankenhaus
ein Umdenken anzustoßen, muss gezeigt werden, dass feM alles andere als alternativlos
sind.
So unterschiedlich die Menschen, so unterschiedlich sind auch die Wege, die Anwendung
von feM in ihren jeweiligen Pflegesituationen zu umgehen. Es gehört Kreativität und
Aufmerksamkeit dazu, für jeden Menschen die jeweils erfolgreichen Mittel zu finden
und zu erproben, um letztlich auf feM zu verzichten. Um herauszufinden, welche alternativen
Mittel angebracht wären, bietet es sich vor allem an, im Rahmen einer Team- oder Fallbesprechung
gemeinsam die Situation zu erschließen und das Für und Wider verschiedener Interventionen
zu ermitteln und schriftlich festzuhalten. Dies bildet die Grundlage zum einen für
den nachfolgenden Evaluationsprozess und zum anderen für einen fachlich beratenden
Dialog mit den Angehörigen bzw. Betreuern und/oder Bevollmächtigten und Richtern.
Ein solches Beratungsgespräch setzt neben Beratungskompetenz auch das Wissen um alternative
Mittel zum Umgehen einer feM voraus. Es gibt eine ganze Reihe von erprobten mechanischen
alternativen Mitteln, die dem Patienten Schutz bieten, ohne ihn in seiner Freiheit
einzuschränken. Von ihnen soll eine Auswahl vorgestellt werden [24], [32]:
Niedrigflurbetten. Als Alternative vor allem für Fixiergurte und die weit verbreiteten Bettgitter bietet
sich vor allem der Einsatz von höhenverstellbaren Niedrigflurbetten – in Kombination
mit einer davor gelegten Matratze, Sturzmatte, Sensorenmatte oder einem Lichtschrankensystem
– an. Niedrigflurbetten können so niedrig eingestellt werden, dass die Sturzgefahr
stark verringert wird: Ist das Bett z. B. auf eine Liegehöhe von 20 bis 30 cm eingestellt
und eine entsprechende Matratze bzw. Matte davor positioniert, rollt man eher heraus,
als dass man stürzt.
Sensormatten und Lichtschrankensysteme. Sie können in Kombination mit Niedrigflurbetten oder für sich allein verwendet werden.
Sie ermöglichen es dem Patienten, auch wenn dieser aufgrund seiner Erkrankung nicht
(mehr) in der Lage ist, die Rufanlage zu bedienen, sicher und assistiert das Bett
zu verlassen, da bei der ersten Berührung der Sensormatte bzw. der ersten Bewegung
in den Bereich der Lichtschranke ein akustisches Signal abgegeben wird – im Patientenzimmer
oder direkt an die Pflegenden weitergeleitet (oder beides). Sollte es zu einem Sturzereignis
kommen, ist durch das Alarmsystem ebenfalls sofortige Hilfe gesichert.
Antirutschstrümpfe. Wie bereits erwähnt, ist eine der häufigsten Situationen, in denen es zu Sturzereignissen
kommen kann, das Verlassen des Bettes oder des (Roll)Stuhls. Als erprobte Alternative
z. B. zu Sitzgurten oder Bettgittern bieten sich hier sog. Antirutschstrümpfe an.
Es ist nur eine kleine Maßnahme, aber sie kann große Effekte erzielen: Die gummierten
Punkte auf der Sohle verhindern das Ausrutschen und sichern den Stand und Gang des
Patienten zusätzlich.
Hüftprotektoren. Neben diesen Maßnahmen zur Sturzprävention gibt es auch mechanische Alternativen,
die im Falle eines Sturzes die Sturzfolgen vermindern: Hüftprotektoren helfen, die empfindlichsten Stellen des Körpers im Bereich
der Hüfte zu schützen. Sie helfen, hüftgelenksnahe Frakturen, die zu den die häufigsten,
sturzbedingten Verletzung bei älteren Menschen zählen, zu verhindern.
Easy Walker. Da ein unsicherer Gang ein hohes Sturzrisiko mit sich bringt, empfehlen sich hier
Maßnahmen, die den Gang des Patienten sichern, statt diesen weiter einzuschränken.
Sogenannte Easy Walker können helfen, die Mobilität des Patienten zu erhalten und
ihn in seiner eingeschränkten Gehfähigkeit zu unterstützen. In den Walker ist eine
Sitzfläche integriert, sodass man sich bei Ermüdung hinsetzen kann. Zusätzlich verhindert
diese Sitzfläche durch eine Schrittsicherung das Herunterrutschen auf den Boden. Wichtig:
Da der Easy Walker unter Umständen nur schwer vom Patienten zu verlassen ist, kann
er auch als feM gewertet werden – jedoch als weitaus milderes Mittel als z. B. eine
Sitzhose.
In [Abb. 4] sind die wichtigsten mechanischen Alternativen sowie weitere denkbare Interventionen
angeführt, die für sich genommen oder in Kombination miteinander als erfolgreiche
Alternativen zu feM verwendet werden können.
Abb. 4 Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen.
Ethische Bewertung
Auch wenn es im hektischen Pflegealltag manchmal schwer sein kann, sollte man versuchen,
sich auch Zeit für Fragen zu nehmen, die tiefer gehen: Ist das, was ich hier tue,
gut? Ist es fair und gerecht für die Betroffenen? Fragen wie diese stellt sich die
Ethik. Das Wort Ethik kommt vom griechischen Wort „ethos“ (= Gewohnheit) und beschäftigt
sich mit dem Handeln des Menschen. Sie fragt, ob bestimmte Taten und Handlungen, die
der Mensch vornimmt, moralisch als „gut“ oder „schlecht“ zu bewerten sind [33].
Das klingt zunächst sehr theoretisch und man kann sich natürlich die Frage stellen,
ob diese Fragen nicht am Schreibtisch besser aufgehoben sind als am Pflegebett. Warum
muss man sich bei der Anwendung von feM mit Ethik beschäftigen?
Ethik kann man sich vorstellen wie einen Kompass [34]: Wie die Nadel im Kompass zeigt die Ethik die Richtung an, in die man gehen soll.
Sie gibt das Ziel vor und zeigt uns einen Weg, von dem wir nicht abkommen sollen.
Wenn man dieses Ziel vor Augen hat, kann man alle Schritte, die man im Alltag macht,
einzeln hinterfragen. Ethisch über etwas nachzudenken, heißt zu fragen, ob das, was
gerade so ist, wie es ist, auch wirklich so sein soll. Der bedeutende Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804) brachte diese Frage auf die
Formel: „Was soll ich tun?“ Auf die vorliegende Situation angepasst können wir also
fragen: „Was soll ich in dieser konkreten Pflegesituation im Akutkrankenhaus, die
scheinbar nur durch eine feM gelöst werden kann, tun?“ Man kann auch kürzer fragen:
„Soll bzw. darf ich hier eine feM anwenden?“ Um diese Frage zu beantworten, muss man
sich darüber klar werden, nach welchen Kriterien man hier entscheiden soll: Auf welchen
Pol soll unser Kompass genordet sein (siehe [Abb. 5])?
Abb. 5 Unser Kompass sollte darauf gerichtet sein, fair und gerecht für den Betroffenen
zu handeln (adobe.com).(Quelle: MarekPhotoDesign.com/stock.)
Das Prinzip Würde
Der ethische Maßstab, an dem sich alle unsere Handlungen orientieren sollten und der
in Deutschland Eingang in das Recht gefunden hat, ist die bereits angesprochene Würde
des Menschen [16]. So einfach diese Feststellung in der Theorie auch ist, so umstritten ist sie in
der Praxis: Was genau ist Menschenwürde? Wann achte oder missachte ich sie? Hat ein
Mensch mit kognitiven Beeinträchtigungen eine andere Art Würde als ein Mensch ohne?
Wie hängt Würde mit feM zusammen?
Der Begriff „Würde“ wird heute noch auf 2 verschiedene Weisen gebraucht, die man in
der Fachsprache „extrinsisch“ und „intrinsisch“ nennt [35]: Wir sprechen noch heute von „Amtswürde“, „Richterwürde“, „Hochwürden“ etc., wenn
wir die soziale Stellung einer Person ansprechen wollen. In dieser Bedeutung ist Würde
extrinsisch, also „von außen“. Mit anderen Worten: Sie wird dem Menschen von anderen
zugesprochen und kann ihm deswegen auch wieder abgesprochen werden. Extrinsische Würde
– besser wären hier Begriffe wie Rang, Ehre, Geltung oder Prestige – kann höher und
niedriger sein als von anderen und der Mensch kann sie prinzipiell auch wieder verlieren.
Im Unterschied dazu meint die intrinsische Würde des Menschen einen absoluten und
unvergleichbaren Wert, den der Mensch „von innen“, d. h. von sich aus und vom Anfang
bis zum Ende seiner Existenz hat. Diese Würde ist unveränderlich und unveräußerlich
(d. h. nicht verlierbar) und damit komplett unabhängig von der sozialen Stellung.
Von dieser Würde kann es nicht mehr oder weniger geben.
Eine hilfreiche Gedankenübung kann es sein, sich zu fragen, ob man sich im klinischen
Alltag mehr an der extrinsischen oder an der intrinsischen Würde orientiert: Wie werden
ältere Menschen im Vergleich zu jüngeren behandelt? Wie gesetzlich versicherte Patienten
im Vergleich zu privatversicherten? Wie Frauen im Vergleich zu Männern? Wie Ärzte
im Vergleich zu Pflegekräften? Wie Menschen mit Demenz im Vergleich zu Menschen ohne?
Wie Menschen, die durch herausforderndes Verhalten zusätzliche pflegerische Aufmerksamkeit
erfordern?
Bei dieser Reflexion kann sich schnell zeigen, dass häufig Menschen aufgrund äußerlicher
Kriterien wie Geschlecht, Herkunft, Beruf, Alter, Gesundheitszustand, kognitiven Fähigkeiten,
Wohlstand usw. ungerecht behandelt werden. Es bildet sich geradezu eine Hierarchie
mit zahlreichen Stufen heraus. Häufig wird die intrinsische Würde, mit der alle Menschen
auf derselben Stufe stehen, dabei vergessen oder sogar verneint. In Ausdrücken wie
„die Dementen“, „Pflegefall“ [10], „die Patientin lebt ja nicht mehr würdevoll“, „bei dem Patienten ist sowieso niemand
mehr zu Hause“, „der Patient vegetiert ja nur noch“ schwingt mit, dass dem Menschen
mit Blick auf äußere Umstände auch die innere Würde abgesprochen wird. Mit so einem
Menschen- und Altersbild ist es dann auch sehr leicht, feM, die die Würde des Menschen
antasten und ihrem Wortlaut nach die menschliche Freiheit entziehen, zu rechtfertigen.
Freiheit
Würdeverletzungen erkennt man häufig konkret daran, dass die Freiheit eines Menschen
missachtet wird. Es ist deswegen besonders wichtig, dass man sich bewusstmacht, worin
das Wesen der Freiheit besteht und wie sie zu schützen ist. In unserem Fall wird deutlich:
FeM kann man nur ethisch bewerten, wenn man versteht, was Freiheit ist.
Grundsätzlich kann man in der Ethik positive und negative Freiheiten unterscheiden
[36]: Positiv und negativ sind hier nicht wertend als „schlecht“ und „gut“ zu verstehen,
sondern meinen 2 verschiedene Arten, frei zu sein: Negative Freiheit ist eine Freiheit
von etwas oder jemandem, d. h. dass man frei von einer Einschränkung ist. Positive Freiheit
dagegen ist eine Freiheit zu etwas, d. h. dass man frei ist, dies oder jenes zu tun oder zu lassen. Was bedeutet
diese Unterscheidung konkret für die Pflege und feM im Krankenhaus?
Die Freiheit, die dem Menschen mittels einer feM entzogen wird, ist die Fortbewegungsfreiheit.
Diese ist im Sinn der negativen Freiheit erst einmal die Freiheit von Bewegungseinschränkungen:
Der Mensch ist frei, weil er nicht von anderen Menschen bzw. den Mitteln, die diese
verwenden, behindert wird, sich zu bewegen. Aber sie ist auch viel mehr: Positiv verstanden
ist die Fortbewegungsfreiheit die Freiheit zur Bewegung: Der Mensch ist frei, sich vielfältig zu bewegen und z. B. an einen anderen
Ort zu gehen. Dazu gehört interessanterweise auch die Freiheit, sich nicht zu bewegen und z. B. zu ruhen. Es ist auch eine freie Entscheidung, nicht von einer
Freiheit Gebrauch zu machen.
Die Fortbewegungsfreiheit eines kognitiv beeinträchtigten Menschen wird auf verschiedene
Arten sichtbar: in einem starken Bewegungsdrang genauso wie in kleineren Positionsänderungen
oder im Versuch, sich aus dem Pflegebett oder dem Pflegerollstuhl zu erheben. Wenn
man sich die Frage „Was soll ich tun?“ in dieser Pflegesituation stellt, ist es hilfreich,
die negative und positive Freiheit des betroffenen Menschen abzuschätzen: Inwieweit
beschneidet die pflegerische Maßnahme die negative Freiheit von Hindernissen? Die Suche nach alternativen Mitteln ist vor allem die Suche nach Mitteln,
die weniger einschränkend sind und dabei denselben oder vielmehr einen höheren Schutz
des Betroffenen versprechen. Das allein reicht jedoch nicht aus. Man sollte sich auch
fragen, wie hoch die positive Freiheit des Menschen ist, sich zu bewegen und die Freiheit
auszuleben. Alternative mildere Mittel sollten deswegen immer auch mit Maßnahmen kombiniert
werden, die die positive Freiheit stärken: Physiotherapie, Aktivierungsmaßnahmen und
eine möglichst umfassende Teilhabe am Alltag.
Selbst- oder fremdbestimmt?
In Verbindung mit Freiheit wird sehr häufig von „Autonomie“ gesprochen, jedoch ist
nicht immer ganz klar, was mit dem Fremdwort gemeint ist. Ursprünglich war mit Autonomie
(von gr. autos = selbst und nomos = Gesetz) im politischen Sinn gemeint, dass eine
Stadt oder ein Staat sich selbst Gesetze geben durfte und deswegen unabhängig von
anderen war. Später wurde der Begriff auf den Menschen übertragen: Ein autonomer Mensch
kann über sich selbst bestimmen und ist unabhängig von der Bestimmung durch andere,
der sogenannten Heteronomie (von gr. heteros = anders). Autonomie ist also mit Selbstbestimmung
zu übersetzen und ist der Heteronomie, d. h. der Fremdbestimmung, entgegengesetzt
[37].
Im klinischen Alltag ist die Spannung von Autonomie und Heteronomie immer wieder Ursache
von Konflikten. Besonders deutlich ist das im Fall von feM bei Menschen, deren selbstbestimmten
Willen wir nicht mehr genau ergründen können. Man ist schnell versucht, über die Köpfe
dieser Menschen hinweg zu entscheiden: „Ich weiß sowieso besser, was gut für die Patientin
ist …“ Man spricht hier auch von Paternalismus (von lat. pater = Vater), man könnte
auch sagen „Bevormundung“ oder etwas umgangssprachlich „Bemutterung“. Eine Ethikerin
bringt Paternalismus auf die Formel, dass man hier vor allem das Wohl und nicht den Willen des Patienten im Blick hat [38].
Das klingt zunächst gar nicht so schlimm: Schließlich geht es einem ja zumindest darum,
dass es dem Menschen gut geht und man hat nicht die Absicht, ihm zu schaden. Ziel
ist es, eine Selbstgefährdung des Betroffenen zu verhindern – und sei es gegen dessen
Willen bzw. in einer Pflegesituation, in der man seinen Willen nicht ergründen kann.
Aber auch diese Haltung kann letztlich eine Demütigung des Menschen bedeuten [9], [39]: Man handelt mit der Überzeugung, ihm alle Entscheidungen abnehmen zu können und
erklärt ihn damit für unfrei. Wie kann man nun entscheiden, ob solche Maßnahmen ethisch
gerechtfertigt sind oder ob sie eine solche Form von Demütigung darstellen?
Wohltätiger Zwang
Setzt man sich über den Willen des Patienten hinweg bzw. handelt, ohne diesen ergründen
zu können, und verfolgt dabei das Ziel, diesen zu schützen, so wendet man an, was
in der Fachsprache wohltätiger Zwang genannt wird [16]. Der Deutsche Ethikrat, der sich umfassend mit wohltätigem Zwang auseinandergesetzt
hat, formulierte in seiner Stellungnahme vom 1. November 2018 Kriterien, die erfüllt
sein müssen, damit eine Maßnahme des wohltätigen Zwangs gerechtfertigt ist. Das übergeordnete
Ziel lässt sich wie folgt formulieren: Die Zwangsmaßnahme muss auf die Entwicklung,
Förderung oder Wiederherstellung der selbstbestimmten Lebensführung der Person im
Rahmen der Möglichkeiten abzielen. Dies gilt auch, wenn die Fähigkeit zum freiverantwortlichen
Handeln nicht mehr erreichbar ist. Diesem Ziel werden folgende 4 Kriterien zugeordnet:
-
Die Zwangsmittel müssen zu diesen Zielen geeignet, erforderlich und angemessen sein.
-
Die Abwehr eines primären Schadens darf nicht unangemessene andere womöglich irreversible
Schäden erzeugen
-
Der Schaden darf sich nicht anders abwenden bzw. das Ziel nicht anders erreichen lassen
(Ultima Ratio).
-
Die jeweilige Maßnahme sollte auf die Zustimmung der adressierten Person stoßen, wäre
diese aktuell zu einer autonomen Entscheidung fähig.
Diese Kriterien lassen sich 1 : 1 auf die Frage der feM im klinischen Alltag anwenden,
durch weitere exemplarische Detailfragen ergänzen und in folgende Checkliste übersetzen:
1. Kriterium der Verhältnismäßigkeit
Ist die feM für die Ziele, für die sie eingesetzt werden soll, geeignet, erforderlich
und angemessen?
-
Ist die feM pflegefachlich und medizinisch indiziert oder stehen persönliche, organisatorische
und wirtschaftliche Interessen im Vordergrund?
-
Gibt es mildere feM, die den gleichen oder höheren Nutzen versprechen?
-
Gibt es Alternativen zu feM, die den gleichen oder höheren Nutzen versprechen?
-
Kann die feM den abzuwendenden Schaden effektiv verhindern?
-
Ist die feM in ihrer Intensität der Situation angemessen?
-
Ist die feM in ihrer Dauer der Situation angemessen?
2. Kriterium des Nichtschadens
Birgt die feM das Risiko, noch andere körperliche oder seelische Schäden zu verursachen?
-
Besteht durch die feM eine Lebensgefahr (z. B. durch Strangulation)?
-
Besteht durch die feM eine erhöhte Sturzgefahr?
-
Geht mit der feM eine Verschlechterung der Pflegesituation einher (z. B. erzwungene
Inkontinenz)?
-
Geht mit der feM ein Verlust der Mobilität und Selbstständigkeit einher?
-
Stellt die feM direkt oder indirekt eine Form von Demütigung dar?
-
Ruft die feM Misstrauen, Angst und Machtgefälle hervor?
-
Steigert die feM das Auftreten von als herausfordernd empfundenem Verhalten (z. B.
motorische Unruhe und lautes Rufen)?
-
Im Fall chemischer Fixierung: Hat das Medikament schädliche bzw. irreversible Nebenwirkungen
für Leib und Seele?
3. Kriterium des letztmöglichen Mittels
Wurden alle möglichen Alternativen zur feM bereits erprobt und erwiesen sich als unwirksam, sodass
die feM als letztmögliches Mittel übrigbleibt?
-
Wurden alle mechanischen Alternativen zur feM bereits erprobt?
-
Wurden alle nicht mechanischen Alternativen zur feM bereits erprobt?
-
Lässt die Pflegedokumentation Rückschlüsse auf die Nichtwirksamkeit von alternativen
Mitteln zur feM zu (z. B. eindeutige Pflegeberichte, Fallbesprechungen, Sturzereignisprotokolle)?
-
Stellt die feM im Entscheidungsprozess die letzte Option dar oder vielmehr das erste
Mittel der Wahl?
4. Kriterium der Selbstbestimmung
Ist die feM mit dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen des Patienten vereinbar?
-
Lässt sich der tatsächliche Wille des Patienten ergründen?
-
Lässt sich der mutmaßliche Wille des Patienten ergründen?
-
Wurde der mutmaßliche Wille des Patienten unter der Beteiligung vom Betroffenen sowie
von Angehörigen, Betreuern, Ärzten und Pflegekräften erforscht?
-
Wie steht oder stand der Patient vermutlich zur Anwendung der feM und welche Gründe
lassen sich dafür finden?
-
Wie stünde der Patient zu der Anwendung der feM, wenn er um die damit verbundenen
gesundheitlichen Risiken sowie um geeignete mildere Alternativen wüsste?
-
Lässt die Biografie des Patienten Rückschlüsse auf seine Einstellung zu feM zu?
-
Kommuniziert der Patient verbal oder nonverbal Zustimmung oder Ablehnung (z. B. wiederholtes
Rütteln am Bettgitter oder Versuche, die Maßnahme zu entfernen)?
Fazit
Freiheitseinschränkende Maßnahmen mögen auf den ersten Blick immer noch unverzichtbar
für die Versorgung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen im Krankenhaus sein.
Für viele sind sie kaum wegzudenken. Glücklicherweise zeigt sich jedoch in der Forschung
mehr und mehr, dass dies nicht der Fall sein muss: Es kann sich durchaus lohnen, diese
Maßnahmen „wegzudenken“, d. h. auch über alternative Interventionen nachzudenken,
mit denen man dem Menschen mit Demenz und kognitiven Beeinträchtigungen im Akutkrankenhaus
auf ganzheitlichere Weise gerecht werden kann.
Für einen reflektierten sowie fachlich, rechtlich und ethisch informierten Umgang
mit freiheitseinschränkenden Maßnahmen ist es wichtig, die Grundkategorien, Definitionen
und Erfahrungsdaten zu dem Thema zu kennen. Dazu sollte dieser Artikel einen Beitrag
leisten.