Schlüsselwörter:
Cannabis - Cannabinoide - Risiken - Abhängigkeit - Behandlung
Keywords
Cannabis - Cannabinoids - Risks - Dependence - Treatment
Einleitung
Etwa 24,7 Millionen Bürger der Europäischen Union konsumieren Cannabis zu Rauschzwecken,
ca. 3 Millionen (1 %) davon klinisch relevant. Wie ein Mensch auf Cannabis reagiert,
ist individuell unterschiedlich. Wissenschaftlich belegt sind erhöhte Risiken für
kognitive Störungen, Einbußen im Bildungserfolg, Psychosen, Depressionen, bipolare
Störungen, Angsterkrankungen sowie psychische und körperliche Abhängigkeit im Zusammenhang
mit Cannabis. Faktoren wie Alter bei Erstkonsum, Dauer, Menge und Art des konsumierten
Cannabis sowie eine individuelle Vulnerabilität spielen dabei eine Rolle.
Cannabis ist nach Alkohol der häufigste Anlass für eine Suchtbehandlung in Deutschland.
Das cannabisspezifische Entzugssyndrom lässt sich klinisch gut behandeln. Psychotherapeutische
Interventionen beinhalten Kombinationen aus Motivationsförderung und kognitiver Verhaltenstherapie.
Bei Kindern und Jugendlichen können familientherapeutische Ansätze hilfreich sein.
Die Erfolgsraten der psychotherapeutischen Behandlungsansätze sind moderat, die Rückfallraten
hoch. Effektive medikamentöse Optionen fehlen. Aus diesem Grund kommt der Prävention
von riskantem, schädlichem und abhängigem Cannabisgebrauch eine tragende gesundheitspolitische
Rolle zu.
Cannabis – eine Alltagsdroge?
Cannabis – eine Alltagsdroge?
Cannabis zählt zusammen mit Alkohol und Tabak zu den am häufigsten gebrauchten psychotropen
Substanzen weltweit. Die häufigsten 2 Konsumformen von pflanzlichem Cannabis sind:
-
die getrockneten Blüten und Blätter der weiblichen Hanfpflanze (Marihuana) und
-
das aus dem THC-(Δ9-Tetrahydrocannabinol-)haltigen Harz der Blütenstände gewonnene,
meist zu bräunlich-grünen Platten gepresste Haschisch.
Seltener nehmen die Konsumenten THC-haltiges Öl in Nahrungsmitteln zu sich [1].
Konsumprävalenz
Laut aktuellstem Weltdrogenbericht haben 4,3 % der erwachsenen Bevölkerung im letzten
Jahr Cannabis gebraucht [2]. Das entspricht rund 192,2 Millionen Menschen. Für Europa gehen die jüngsten Schätzungen
davon aus, dass 6,6 % der Bürger der Europäischen Union im Alter von 15 bis 64 Jahren
Cannabis in den letzten 12 Monaten gebraucht haben (rund 24,7 Millionen) [3]. In Deutschland wird die 12-Monats-Prävalenz des Cannabiskonsums bei 18- bis 64-Jährigen
in der Allgemeinbevölkerung auf 6,1 % geschätzt, dies entspricht rund 3,11 Millionen
Cannabiskonsumenten [4]. Deutlich höhere Konsumprävalenzen wurden bei jungen Erwachsenen beobachtet. So
berichtet eine Jugendstudie von einer 12-Monatsprävalenz von 17,6 % bei 18- bis 25-Jährigen
für das Jahr 2014 [5]. In dieser Altersgruppe konsumierten mehr Männer (22,1 %) Cannabis als Frauen (12,9 %).
Diese Zahlen stammen aus epidemiologischen Bevölkerungsstudien und sind ein Anhaltspunkt
dafür, in welcher Größenordnung Cannabis gebraucht wurde. Sie geben keine Auskunft
darüber, um welche Art des Konsums es sich dabei handelt (z. B. um einen einmaligen,
regelmäßigen, riskanten, problematischen, missbräuchlichen oder abhängigen Gebrauch).
Es existieren kaum Surveys, die zwischen diesen Konsummustern unterscheiden und diese
genauer erfassten.
Charakteristik von Cannabis
Die Hanfpflanze (Cannabis sativa L.) und ihre Produkte werden seit Jahrtausenden durch
den Menschen zu religiösen, medizinischen und berauschenden Zwecken genutzt. Hanf
gehört ebenso wie die Gattung Humulus (Hopfen) zu der Familie der Cannabaceae (Hanfgewächse)
[6]. Ursprünglich stammt die Hanfpflanze aus Zentralasien, ist aber heute in fast allen
warmen und gemäßigten Zonen der Erde verbreitet.
Cannabis gehört zu den ältesten Rauschmitteln und besitzt eine lange Tradition als
Nutz- und Heilpflanze.
Ihre Rauschwirkung wurde in Europa schon im 19. Jahrhundert bekannt, der verbreitete
Konsum begann in den 1970er-Jahren.
Im Cannabis wurden bisher etwa 500 chemische Substanzen gefunden, über 100 davon zählen
zu der Gruppe der Cannabinoide [7]. Den Hauptwirkstoff stellt das THC dar. Seine chemische Struktur wurde bereits 1964
geklärt [8]. Daneben finden sich in der Pflanze weitere Cannabinoide, wie beispielsweise Cannabidiol
(CBD) oder Cannabinol (CBN), sowie Nichtcannabinoide, wie z. B. Terpenoide, Flavonoide
und Stickstoffverbindungen [9].
Pflanzliches Cannabis verfügt über verschiedene psychotrope Effekte: Stimmungssteigerung,
Entspannung, Sedierung, veränderte Wahrnehmung akustischer und optischer Reize, Logorrhoe,
Verminderung von Reaktionszeit und Konzentration, Gleichgültigkeit und Denkstörungen.
Es können auch unangenehme Effekte auftreten: Gedankensprünge, Verwirrtheit, „Filmrisse“,
Depressivität, Angst, Panik oder psychotische Symptome.
Die berauschende Wirkung der Pflanze geht insbesondere zurück auf den Hauptwirkstoff
THC (Δ9-Tetrahydrocannabinol).
THC ist das Agens mit der höchsten psychoaktiven Potenz, dessen Gebrauch zu einer akuten
Intoxikation führen kann, die jedoch nicht tödlich ist. Im somatischen Bereich können
durch Gebrauch von Cannabis auftreten: gesteigerter Appetit und Libido, Mundtrockenheit,
Muskelentspannung, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Hyperreflexie, Hyperstimulation
mit Anstieg von Puls, Erweiterung der Blutgefäße, Mydriasis und konjunktivale Injektion.
THC hat darüber hinaus schmerz- und übelkeitslindernde und muskelentspannende Wirkungen
[10].
Der zweitwichtigste Hauptwirkstoff ist Cannabidiol (CBD). Ihm werden u. a. anxiolytische, antipsychotische, antiinflammatorische, antiemetische
und neuroprotektive Effekte zugeschrieben [10]. CBD gilt in niedrigen Dosen als nicht intoxikierend, hat aber auch eine psychoaktive
Wirkung, da es im Gehirn funktionelle Veränderungen erzeugen kann, die gegenläufig
zu denen von THC sind [11].
Wie ein Mensch auf Cannabis reagiert, ist individuell sehr unterschiedlich und hängt
von verschiedenen Faktoren wie Stimmungslage, Veranlagung, Konsumart, Konsumerfahrung,
Situation sowie Menge, Intensität, Konsumdauer, Art sowie THC:CBD-Verhältnis der Cannabisprodukte
ab.
Leon (Schüler, 17 Jahre) berichtet, dass er vor einem halben Jahr zum ersten Mal Cannabis
geraucht habe. Da einige seiner Klassenkameraden bereits gekifft hätten, sei er neugierig
auf die Wirkung der Droge gewesen. Am Wochenende auf einer Party habe er dann zum
ersten Mal mit Freunden einen Joint geraucht. Zuerst habe er sich euphorisch gefühlt.
Alles sei absolut komisch gewesen, er habe über Kleinigkeiten herzhaft lachen können.
Diese Euphorie habe dann aber schnell nachgelassen. Er habe nicht mehr klar denken
können und das Gefühl gehabt, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Dies habe
ihm Angst gemacht. Ein Freund habe ihn dann nach Hause gebracht.
Das endocannabinoide System
Ende der 1980er-Jahre haben internationale Wissenschaftler das sogenannte Endocannabinoidsystem
entdeckt. Wie bei der Erforschung des Opioidsystems in den 1970er-Jahren führte auch
hier die Untersuchung von psychoaktiven Substanzen pflanzlichen Ursprungs zur Entdeckung
dieses bis dahin unbekannten physiologischen Kontrollsystems.
Cannabisrezeptoren
Das Auffinden verschiedener Cannabinoidrezeptoren im zentralen und peripheren Nervensystem
und körpereigener Cannabinoide (z. B. des Anandamids [N-arachidonoylethanolamide],
revolutionierte den Forschungsbereich [12].
Der häufigste Cannabisrezeptor (Typ 1) ist vor allem im zentralen und weniger im peripheren
Nervensystem verbreitet.
Eine besonders hohe Dichte des Cannabisrezeptors Typ 1 besteht im Gehirn, vor allem
in Regionen, die mit der Körperbewegung, Lernen, Gedächtnis, Schmerz, Appetit, Übelkeit
oder dem sogenannten Belohnungssystem assoziiert sind.
Ein weiterer Cannabisrezeptor (Typ 2) ist im Gehirn weniger und in peripheren Organen
und Organsystemen weit verbreitet. Er wurde vor allem in Organen des Immunsystems
gefunden.
Wirkmechanismen
Die 2 Hauptbestandteile in Cannabis, THC und CBD, haben vermutlich gegensätzliche
Effekte. THC aktiviert als partieller Agonist sowohl den Cannabisrezeptor Typ 1 als
auch den Cannabisrezeptor Typ 2 [13]. Es beeinflusst die Aktivität von G-Proteinen und interagiert mit verschiedenen
Neurotransmittersystemen, insbesondere Dopamin, Serotonin und GABA. Durch die CB1-Aktivierung
kommt es zur Hemmung vorwiegend inhibitorischer Neurone (d. h. Enthemmung) und damit
zu verstärkter dopaminerger Übertragung (u. a. im Nucleus accumbens). CBD hat nur
eine geringe Affinität, an beide Endocannabinoidrezeptoren zu binden. Als Modulator
reduziert es möglicherweise die Wirkung der Agonisten, eventuell wird aber auch die
Zahl der Endocannabinoide erhöht [12]. CBD scheint aber über die CB2-antagonistische Wirkung antiinflammatorisch, anxiolytisch
und antiemetisch zu wirken.
Risiken von Cannabis zu Rauschzwecken
Risiken von Cannabis zu Rauschzwecken
In der wissenschaftlichen Literatur sind unterschiedlichste Effekte des Gebrauchs
von Cannabis zu Rauschzwecken untersucht worden.
THC:CBD-Verhältnis
THC wird mit psychoseartigen Symptomen [14], [15], kognitiven Einschränkungen und gehirnstrukturellen Veränderungen bei langjährigen
Cannabiskonsumenten in Verbindung gebracht [16], [17]. Hochpotentes THC in Cannabisprodukten wird bei gesunden Menschen als Auslöser für
psychoseartige Symptome oder bei vulnerablen Menschen als Auslöser für Psychosen diskutiert
[18], [19].
Studien aus dem Tier- und Humanbereich zeigten, dass CBD die adversen Effekte von
THC verbessern kann [20].
Experimentelle Studien demonstrieren, dass die Gabe von oralem CBD vor einer intravenösen
THC-Administration kognitive Einschränkungen und paranoide Effekte reduzierte [21]. Eine gleichzeitige THC-CBD-Infusion blockierte die durch THC-ausgelöste Ängstlichkeit
und subjektive Veränderungen [22]. Eine experimentelle Studie von Solowij und Kollegen belegt, dass niedrige Dosierungen
von CBD die Effekte von THC verstärken, während hohe Dosen von CBD die intoxikierenden
Effekte von THC vermindern [11].
THC-reiche Zuchtformen
Durch spezifische Züchtungen in Gewächshäusern und durch professionelle Anbaumethoden
(künstliche Beleuchtung, Spezialdüngung und Hydrosysteme) kann der Hauptwirkstoff
THC in Cannabisprodukten gesteigert werden. Eine Übersichtsarbeit von Chandra und
Kollegen zeigt, dass sich die durchschnittliche THC-Konzentration in Cannabisprodukten
in den USA in den letzten 10 Jahren fast verdoppelt hat [9]: Sie ist von 8,9 % (2008) auf 17,1 % (2017) angestiegen. Auch das durchschnittliche
Verhältnis von THC zu CBD hat sich sehr stark von 23 im Jahr 2008 auf 104 im Jahr
2017 erhöht. Für den US-amerikanischen Markt wurde ebenfalls eine markante Zunahme
des durchschnittlichen THC-Gehalts (6,7-55,7 %) dokumentiert (2008-2017). Cannabismonitoring-Programme
in den Niederlanden, Großbritannien, Frankreich, Italien und Australien belegen diese
Entwicklung.
Auch in Deutschland ist im letzten Jahrzehnt der THC-Gehalt von Cannabisprodukten
deutlich angestiegen. Dies zeigt der aktuelle Drogenbericht der Bundesregierung anhand
von Daten des Bundeskriminalamtes [23]. Bei Haschisch (Cannabisharz) hat sich der THC-Gehalt zwischen 1996 und 2017 verdreifacht
(von 4,9 auf 14,7 %). Bei Marihuana hat sich der THC-Gehalt mehr als verdoppelt (1996:
4,8 %, 2017: 13,1 %). Experten befürchten, dass der hohe THC-Gehalt bei gleichzeitig
niedrigem CBD-Gehalt in Cannabisprodukten das Risiko für gesundheitliche Schäden erhöht.
Viele hochgezüchtete Cannabissorten enthalten heute nur noch sehr wenig oder kein
CBD. Die Wirkung von THC kann dann nicht abgemildert werden, die gesundheitlichen
Risiken steigen.
Psychische, körperliche und soziale Folgen
Kognitive Funktionsdefizite
Die aktuelle Forschungslage deutet darauf hin, dass ein langjähriger intensiver Cannabiskonsum
die Hirnleistung und insbesondere das Gedächtnis verschlechtern kann [24]. Abhängig vom Konsumverhalten zeigen sich zum Teil erhebliche Beeinträchtigungen
bei der Lern- und Erinnerungsleistung, aber auch negative Auswirkungen auf andere
kognitive Fähigkeiten wie die Aufmerksamkeit, das Problemlösen und die Denkleistung.
Auswirkungen auf die Intelligenz wurden aufgezeigt und kontrovers diskutiert [25], [26]. Menschen, die intensiv Cannabis konsumieren, brechen statistisch häufiger die Schule
ab, besuchen seltener eine Universität und haben seltener akademische Abschlüsse als
ihre Altersgenossen, die nicht Cannabis konsumieren [24]. Einbußen im Bildungserfolg zeigen sich vor allem, wenn Jugendliche bereits vor
dem 15. Lebensjahr mit dem Cannabisgebrauch begonnen haben und über Jahre hinweg viel
Cannabis konsumierten.
Die wissenschaftliche Literatur hat Hinweise dafür, dass kognitive Funktionsdefizite
möglicherweise nach längeren Abstinenzphasen umkehrbar sind [24]. Es sollte in künftigen Studien geklärt werden, ob und nach welcher Zeit der Abstinenz
sich die Symptome wieder bessern. Ebenso ungeklärt ist, welche Rolle ein junges Einstiegsalter
und geschlechtsspezifische Unterschiede dabei spielen [24], [27].
Psychische Störungen
In der Regel sind immer mehrere Risikofaktoren an der Ätiologie einer psychischen
Störung beteiligt. Die Substanz Cannabis scheint – darauf deutet die wissenschaftliche
Evidenz hin – jedoch die Wahrscheinlichkeit für vulnerable Personen zu erhöhen, an
depressiven Störungen, Angststörungen und bipolaren Störungen zu erkranken [28]. Am deutlichsten ausgeprägt ist das erhöhte Krankheitsrisiko bei psychotischen Störungen
[28], [29]: Bei gelegentlichem Konsum ist das Risiko um das 1,4- bis 2-Fache erhöht, bei intensivem
Konsum steigt es um das 2- bis 3,4-Fache an. Cannabiskonsumenten erkranken in der
Regel rund 2,7 Jahre früher erstmalig an der psychotischen Störung und haben einen
ungünstigeren Krankheitsverlauf als Nichtkonsumenten [30]. Werden die Patienten abstinent, unterscheidet sich die Rückfallquote jedoch nicht
mehr von Patienten, die nie Cannabis konsumiert haben.
Cannabis ist bei vulnerablen Personen ein Risikofaktor für spätere psychische Erkrankungen
[28].
Somatische Erkrankungen
Neben den bereits erwähnten Risiken für die psychische Gesundheit birgt ein chronischer
Cannabiskonsum auch eine größere Wahrscheinlichkeit für körperliche Erkrankungen,
so z. B. Atemwegserkrankungen und Hodenkrebs (Nichtseminome, [31]). Das Risiko für Lungenkrebs oder Tumoren im Kopf-Hals-Bereich scheint dagegen nicht
erhöht zu sein. Zu anderen Krebsarten ist die Datenlage zu dünn, um das Krankheitsrisiko
beurteilen zu können. Bezüglich Herz- und Gefäßerkrankungen liegen keine ausreichenden
Daten für die Auswirkungen eines chronischen Cannabiskonsums vor [31]. Cannabiskonsum während der Schwangerschaft kann Risiken für Mutter und Kind bergen
[31].
Cannabiskonsumstörungen
Prävalenz
Etwa 9 % aller Cannabiskonsumenten entwickeln eine cannabisbezogene Störung [32]. Beginnt der Cannabiskonsum schon in der Adoleszenz, steigt die Rate auf 17 % und
auf 25-50 % bei täglichem Konsum. Europaweit wird die Anzahl der Menschen mit Cannabisabhängigkeit
auf mindestens 3000000 Menschen geschätzt [33]. Für die deutsche erwachsene Allgemeinbevölkerung wird ein klinisch relevanter Cannabiskonsum
bei 1,4 % der Männer und 1,0 % der Frauen geschätzt. Hochgerechnet auf die Bevölkerung
im Alter von 18 und 64 Jahren waren damit im Jahr 2015 etwa 612000 Personen betroffen
[4].
Ätiologie
Bei der Ätiologie von Cannabiskonsumstörungen handelt es sich, wie auch bei anderen
Abhängigkeitserkrankungen, um ein multifaktorielles Geschehen [28]. Ein breites Spektrum an Personenfaktoren (z. B. Genetik, Persönlichkeit, Alter,
Geschlecht), sozialen Faktoren (z. B. Peergroup), individuellen Faktoren (z. B. Stressoren)
und Konsumgewohnheiten (z. B. Dosis, Frequenz, Potenz, Ko-Konsum mit Tabak) kann in
Interaktion mit der individuellen Lerngeschichte (Modelllernen, operante und klassische
Konditionierung) die Entwicklung von Cannabiskonsumstörungen bedingen. Das Vorliegen
einer Major Depression oder psychotischen Störung erhöhen das Risiko einer Cannabisabhängigkeit,
bei anderen psychischen Störungen sind die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien heterogen
[28].
Als mögliche kurzfristige Folgen der Cannabisgebrauchsstörung können sich beispielsweise
zeigen: Probleme in der Schule bzw. am Arbeitsplatz oder in sozialen Beziehungen.
Längerfristige negative Entwicklungen können sein: Isolation, Schulden oder sekundäre
psychische Probleme wie Depressivität oder Ängstlichkeit.
Die jährliche Remissionsrate bei Cannabisabhängigkeit wird global auf 17,3 % geschätzt
[34]. Sie ist höher als die Remission bei Amphetamin- (16,4 %), Opiat- (9,2 %) und Kokainabhängigkeit
(5,3 %).
Diagnostik
Herr P. (35 Jahre) ist als Softwareentwickler seit 2 Jahren in einem Startup-Unternehmen
tätig. Er habe es spannend gefunden, neue Ideen für Produkte zu entwickeln. Nicht
selten arbeite er 60 Stunden pro Woche, in der Regel bis spät in die Nacht. Er habe
schon seit langer Zeit Cannabis gebraucht, es helfe ihm zu entspannen. Im Unternehmen
gebe es durch rasch wechselnde „Ups“ und „Downs“ Spannungen. Um den Frust zu vergessen,
konsumiere er mehr Cannabis. Seit einiger Zeit gebe es Konflikte mit seiner Partnerin.
Sie wünsche sich mehr gemeinsame Zeit und Aktivitäten. Es störe sie, dass er sich
immer mehr zurückziehe. Morgens könne er schlecht aufstehen und abends ohne Joint
nicht einschlafen. Er sei insgesamt unkonzentrierter geworden. Er wisse, dass er momentan
zu viel kiffe. Es gelänge ihm aber nicht, etwas daran zu ändern.
Die derzeit gültigen Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-5 definieren Kriterien
für Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen. In Deutschland werden Probleme
im Zusammenhang mit dem Konsum von Alkohol, Tabak oder anderen psychotropen Substanzen
(Cannabinoide, Sedativa oder Hypnotika, Kokain, Stimulanzien, Halluzinogene, flüchtige
Lösungsmittel) nach der ICD-10 diagnostiziert. Kapitel F1 beschreibt verschiedene
„psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“. Dies kann z. B.
eine akute Intoxikation (d. h. ein akuter Rausch), ein schädlicher Gebrauch (F12.1),
ein Abhängigkeitssyndrom (F12.2), ein Entzugssyndrom (F12.3), oder eine psychotische
Störung (F12.5) sein [Tab. 1].
Klinisch immer wieder beobachtet wird das sogenannte amotivationale Syndrom. Es ist gekennzeichnet durch verminderte Motivation für Alltagsaktivitäten, Konzentrations-
und Aufmerksamkeitsstörungen sowie affektive Verflachung. In der wissenschaftlichen
Literatur ist das amotivationale Syndrom kontrovers diskutiert worden. Die Studien
haben das Syndrom häufig unterschiedlich operationalisiert [35], was zu einer heterogenen Datenlage beigetragen hat. Es sollte künftig untersucht
werden, wie ein solches Syndrom sinnvoll abgegrenzt und definiert werden kann.
All diese Störungen können unterschiedlichen Schweregrades und mit verschiedenen klinischen
Erscheinungsbildern sein. Ihre Gemeinsamkeit besteht im Gebrauch einer oder mehrerer
psychotroper Substanzen.
Klassifikationssysteme
Nach ICD-10 liegt ein schädlicher Substanzgebrauch (F1x.1) vor, wenn psychische oder körperliche Probleme mindestens einen Monat lang
vorliegen oder im letzten Jahr wiederholt mehrfach auftraten und die Kriterien für
eine Abhängigkeitsdiagnose noch nicht erfüllt sind.
Von einem Abhängigkeitssyndrom (F1x.2) spricht man, wenn mindestens 3 von 6 Kriterien während des letzten Jahres
gleichzeitig vorhanden waren: starker Wunsch oder Zwang, psychotrope Substanzen zu
konsumieren, verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung oder
der Menge des Konsums, körperliches Entzugssyndrom, Toleranz gegenüber der Substanz,
fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen, anhaltender
Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen.
Während im DSM-IV auch noch zwischen den 2 Kategorien „Missbrauch“ und „Abhängigkeit“
unterschieden wurde, hat das DSM-5 diese Aufteilung zugunsten des dimensionalen Konzeptes
einer „Substanzgebrauchsstörung“ aufgegeben. Diese wird durch 11 verschiedene Symptome beschrieben. Liegen 2 Merkmale
innerhalb eines 12-Monats-Zeitraums vor, so gilt die Störung als erfüllt. Es gibt
im DSM-5 nun auch die Möglichkeit, eine Schwere der Symptomatik zu spezifizieren.
Beim Vorliegen von 2-3 Kriterien liegt eine „milde“, bei 4-5 Kriterien eine „moderate“,
bei mehr als 6 Merkmalen eine „schwere“ Substanzgebrauchsstörung vor.
In der [Tab. 1] finden sich die diagnostischen Kriterien der ICD-10 und des DSM-5 für schädlichen
und abhängigen Substanzgebrauch bzw. für die Substanzgebrauchsstörung.
In beiden Klassifikationssystemen wird das Abhängigkeitssyndrom (ICD-10) bzw. die
Substanzkonsumstörung (DSM-5) als ein sog. Symptomcluster definiert: Mehrere (mindestens
2 bzw. 3) unterschiedliche Symptome körperlicher, psychischer oder behavioraler Art
müssen innerhalb eines definierten Zeitraums (12 Monate) aufgetreten sein, um die
Diagnose stellen zu können.
Klinische Symptomatik
Klinisch ist das Syndrom heterogen. Es können ganz unterschiedliche Symptome im Vordergrund
stehen. Ein zentrales Merkmal ist jedoch, dass eine Person trotz des Auftretens schwerwiegender
Probleme nicht aufhört, eine oder mehrere psychotrope Substanzen zu konsumieren.
In beiden Klassifikationssystemen werden die Diagnosekriterien substanzübergreifend
definiert.
Tab. 1
Diagnostische Kriterien für eine Cannabisgebrauchsstörung (nach DSM-5) bzw. schädlichen
und abhängigen Cannabisgebrauch (nach ICD-10).
Cannabisgebrauchsstörung nach DSM-5
|
Substanzabhängigkeit nach ICD-10 (F1x.2)
|
Beim Auftreten von mindestens 2 Symptomen innerhalb eines 12-Monats-Zeitraums gilt
die Substanzgebrauchsstörung als erfüllt.
-
Substanz wird häufig in größeren Mengen oder länger als geplant konsumiert (Kontrollverlust).
-
Anhaltender Wunsch oder erfolglose Versuche, den Substanzgebrauch zu verringern oder
zu kontrollieren.
-
Hoher Zeitaufwand für Beschaffung und Konsum oder um sich von den Wirkungen des Konsums
zu erholen.
-
Craving oder starkes Verlangen nach der Substanz.
-
Wiederholter Konsum, der zu einem Versagen bei der Erfüllung wichtiger Verpflichtungen
in der Schule, bei der Arbeit oder zu Hause führt.
-
Fortgesetzter Substanzgebrauch trotz ständiger oder wiederholter sozialer oder zwischenmenschlicher
Probleme.
-
Aufgabe oder Einschränkung wichtiger sozialer, beruflicher oder Freizeitaktivitäten
aufgrund des Substanzkonsums.
-
Wiederholter Konsum in Situationen, in denen es aufgrund des Konsums zu einer körperlichen
Gefährdung kommen kann.
-
Fortgesetzter Konsum trotz der Kenntnis von körperlichen oder psychischen Problemen,
die durch den Substanzkonsum entstanden sind oder sich dadurch verschlechtert haben.
-
Toleranzentwicklung gekennzeichnet durch Dosissteigerung oder verminderte Wirkung
unter derselben Dosis.
-
Entzugssymptome: a.) Ein für die Substanz spezifisches Entzugssyndrom, b.) Substanz
(oder ähnliche Substanz) wird konsumiert, um Entzugssymptome zu lindern oder zu vermeiden.
Die Schwere der Symptomatik wird folgend spezifiziert: Vorliegen von 2-3 Kriterien:
mild; Vorliegen von 4-5 Kriterien: moderat; Vorliegen von mehr als 6 Kriterien: schwer.
|
Drei oder mehr der folgenden Kriterien sollten zusammen mindestens einen Monat lang
bestanden haben. Falls sie nur für eine kürzere Zeit gemeinsam aufgetreten sind, sollten
sie innerhalb von 12 Monaten wiederholt bestanden haben.
-
Ein starkes Verlangen oder eine Art Zwang, die Substanz zu konsumieren.
-
Verminderte Kontrolle über den Substanzgebrauch, d. h. über Beginn, Beendigung oder
die Menge des Konsums, deutlich daran, dass mehr von der Substanz konsumiert wird
oder über einen längeren Zeitraum als geplant, und an erfolglosen Versuchen oder dem
anhaltenden Wunsch, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren.
-
Ein körperliches Entzugssyndrom, wenn die Substanz reduziert oder abgesetzt wird,
mit den für die Substanz typischen Entzugssymptomen oder auch nachweisbar durch den
Gebrauch derselben oder einer sehr ähnlichen Substanz, um Entzugssymptome zu mildern
oder zu vermeiden.
-
Toleranzentwicklung gegenüber den Substanzeffekten. Für eine Intoxikation oder um
den gewünschten Effekt zu erreichen, müssen größere Mengen der Substanz konsumiert
werden, oder es treten bei Konsum derselben Menge deutlich geringere Effekte auf
-
Einengung auf den Substanzgebrauch, deutlich an der Aufgabe oder Vernachlässigung
anderer wichtiger Vergnügen oder Interessenbereiche wegen des Substanzgebrauchs; oder
es wird viel Zeit darauf verwandt, die Substanz zu bekommen, zu konsumieren oder sich
davon zu erholen.
-
Anhaltender Substanzgebrauch trotz eindeutig schädlicher Folgen, deutlich an dem fortgesetzten
Gebrauch, obwohl der Betreffende sich über die Art und das Ausmaß des Schadens bewusst
war oder hätte bewusst sein können.
|
|
Schädlicher Gebrauch nach ICD-10 (F1x.1)
|
|
A Deutlicher Nachweis, dass der Substanzgebrauch verantwortlich ist für die körperlichen
oder psychischen Probleme, einschließlich der eingeschränkten Urteilsfähigkeit oder
des gestörten Verhaltens, das evtl. zu Behinderung oder zu negativen Konsequenzen
in den zwischenmenschlichen Beziehungen geführt hat.
B Die Art der Schädigung sollte klar bezeichnet werden können.
C Das Gebrauchsmuster besteht mindestens seit einem Monat oder trat wiederholt in
den letzten 12 Monaten auf.
Auf die Störung treffen die Kriterien einer anderen psychischen oder Verhaltensstörung
bedingt durch dieselbe Substanz, zum gleichen Zeitpunkt nicht zu (außer akute Intoxikation
F1x.0).
|
Menge und Häufigkeit des Substanzkonsums kommt keinerlei diagnostische Bedeutung zu.
Während im ICD-10 [36] das Auftreten eines (unspezifischen) Entzugssyndroms bei abhängigen Cannabiskonsumenten
bereits berücksichtigt wurde, waren Entzugssymptome bei Cannabisabhängigkeit in der
Vorgängerversion des DSM-5 [37] formal nicht diagnostizierbar. Insgesamt wird das Entzugssymptom von Cannabinoiden
als „leicht bis mittelgradig schwer“ beschrieben [1]. Es ähnelt dem von Tabak und anderen Substanzen und ist nicht lebensbedrohlich.
Mit der Neuauflage des amerikanischen Klassifikationssystems „Diagnostisches und Statistisches
Manual Psychischer Störungen V“ (DSM-5) wurde erstmalig die Cannabiskonsumstörung
als eigenständige Erkrankung mit cannabisspezifischem Entzugssyndrom aufgenommen [Tab. 2]
[37]. Es kann innerhalb von 48 Stunden nach dem Cannabiskonsumstopp auftreten. Mindestens
2 psychische Beschwerden (z. B. Reizbarkeit, Unruhe, Ängstlichkeit, Depressivität,
Aggressivität, Appetitverlust, Schlafprobleme) und mindestens 1 weiteres vegetatives
Syndrom (z. B. Schwitzen, Zittern, Bauschmerzen, erhöhte Körpertemperatur, Kälteschauer,
Kopfschmerzen) müssen für die Diagnosestellung vorliegen. Die Beschwerden sind in
der ersten Woche am intensivsten und können bis zu einem Monat andauern.
Tab. 2
Cannabisentzugssymptome [38].
Symptom
|
Dauer
|
Häufigkeit
|
Ärger, Aggression, Irritation
|
wenige Tage bis 3 Wochen
|
sehr häufig
|
Ängstlichkeit, Nervosität
|
wenige Tage bis 3 Wochen
|
sehr häufig
|
Restlessness
|
wenige Tage bis 3 Wochen
|
sehr häufig
|
Schlafschwierigkeit, bizarre Träume
|
wenige Tage bis 4 Wochen
|
sehr häufig
|
Craving
|
wenige Tage
|
häufig
|
Veränderung im Gewicht, weniger Appetit
|
meist in der ersten Woche
|
häufig
|
Depressive Stimmung
|
unklar, meist 4 Wochen und länger
|
weniger häufig
|
körperliches Unwohlsein; Magenschmerzen, Kälteschauer, Schwitzen, Unsicherheit / Wackeligkeit
|
wenige Tage bis 3 Wochen
|
weniger häufig
|
Verglichen mit anderen Suchtstoffen liegt die Besonderheit von Cannabis in der langen
Halbwertszeit von THC. Durch seine lipophilen Eigenschaften wird THC (ebenso wie weitere
Cannabinoide) im Fettgewebe eingelagert und kann auch nach Beendigung des Cannabiskonsums
noch mehrere Stunden bis Tage psychoaktiv an den Rezeptoren wirksam sein. Die Halbwertszeit
für einen Gelegenheitskonsumenten beläuft sich dabei auf ca. 1,3 Tage, die eines regelmäßigen
Konsumenten auf 5-13 Tage. Zudem kann die Ausübung physischer Aktivitäten (z. B. Radfahren)
zur Lipolyse führen und dadurch den Plasmagehalt von THC bei ehemaligen Konsumenten
erhöhen.
Dementsprechend verläuft der Entzug für Cannabis bei akutem Konsumstopp weniger abrupt
als bei dem Konsum anderer psychotroper Substanzen, welche schneller aus dem Körper
eliminiert werden und demzufolge nicht mehr an den jeweiligen Rezeptoren verfügbar
sind.
Im Gegensatz zum Entzug von Alkohol oder Opiaten existieren bei der Entgiftung von
Cannabis keine lebensbedrohlichen Risiken. In vielen Fällen kann sie problemlos im
ambulanten Behandlungssetting durchgeführt werden [1].
Behandlung
Behandlungsnachfrage in Europa
In Europa ist die Behandlungsnachfrage aufgrund der Primärsubstanz Cannabis im letzten
Jahrzehnt kontinuierlich angestiegen [3]. Im Jahr 2017 begaben sich 155000 Menschen in Europa eine Drogenbehandlung wegen
ihres Cannabisgebrauchs. 83000 Menschen waren dabei zum ersten Mal in Behandlung.
In 25 EU-Ländern mit verfügbaren Daten stieg die Gesamtzahl an Erstbehandlungen zwischen
2006 und 2017 um 76 % an [3]. Verschiedenste Faktoren werden im Zusammenhang mit diesem Anstieg diskutiert: Eine
Zunahme des Cannabisgebrauchs in der Bevölkerung, mehr intensive Konsumenten, eine
höhere Verfügbarkeit von hochpotenten Cannabisprodukten, eine veränderte Wahrnehmung
der Risiken, mehr Behandlungsangebote für Cannabisabhängige und mehr Zuweisung zu
Behandlung (vor allem aus dem Bereich der Justiz) [39].
Etwa die Hälfte aller erstmals wegen Cannabis behandelten Patienten berichteten einen
täglichen Konsum. Experten schätzen, dass in Europa nur 5-10 % der täglichen Konsumenten
in entsprechende Behandlung kommen [33]. Ähnliche Angaben machen auch Stephens und Kollegen [40]: Von allen Menschen, die im Jahr 2003 die diagnostischen Kriterien eines schädlichen
Cannabiskonsums oder einer Abhängigkeit erfüllten, waren nur 9,8 % in Behandlung.
Nur etwa jeder 10. Cannabisabhängige unterzieht sich einer Behandlung.
Evidenzbasierte psychotherapeutische Behandlungsansätze
Eine Expertise der Europäischen Drogenbeobachtungsstelle befasst sich mit evidenzbasierten
Behandlungsmöglichkeiten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Cannabiskonsumstörungen
[33]. In einer systematischen Literaturrecherche wurden 65 Publikationen ausgewertet
(26 Reviews, 39 Studien).
Kinder und Jugendliche
25 Studien befassen sich speziell mit Interventionen für junge Cannabiskonsumenten.
Alle Interventionen richten sich an junge Menschen, die sich in einem frühen Stadium
des problematischen oder abhängigen Cannabiskonsums befinden. Sie greifen das individuelle
Risikoverhalten, den Drogenkonsum und damit verbundene psychische, körperliche und
soziale Probleme eines Jugendlichen auf. Als wirksam haben sich motivationale Interventionen
[41], [42], kognitiv-behaviorale Therapie (KBT) und Kontingenzmanagement (KM) erwiesen. Meist
werden diese Ansätze kombiniert, die Programme haben in der Regel bis zu 10 Sitzungen.
Ebenfalls erfolgversprechend sind familientherapeutische Behandlungsansätze (z. B.
die multidimensionale Familientherapie), in denen die Jugendlichen und ihr familiäres,
schulisches und soziales Umfeld in die Behandlung einbezogen werden. Die familientherapeutische
Behandlung ist in der Regel umfangreich in Stundenzahl und Dauer, variiert jedoch
auch je nach therapeutischer Strategie und Zielsetzung des Behandlungsprogramms.
Ältere Jugendliche und Erwachsene
Psychotherapeutische Interventionen, die auf den therapeutischen Strategien der Motivationsförderung,
kognitiv-behavioralen Therapie und / oder Kontingenzmanagement beruhen, sind in der
Zielgruppe der über 16-Jährigen am effektivsten. In der Europäischen Cannabisexpertise
wurden 19 Studien ausgewertet (10 Reviews / Metaanalysen, 8 randomisiert-kontrollierte
Studien, eine quasi-experimentelle Studie). Sie belegen, dass für Erwachsene mit einer
primären Cannabisgebrauchsstörung Kombinationen aus Motivationsförderung (MET), kognitiv-behavioraler
Therapie (CBT) und Kontingenzmanagement die höchste Effektivität aufweisen. Auch andere
Übersichtsarbeiten und Expertisen belegen diese Aussage [43], [44], [45].
Cannabis und komorbide psychische Erkrankungen
Evidenzbasierte Behandlungsansätze für Menschen mit komorbiden Psychosen oder Schizophrenie,
affektiven Erkrankungen, substanzbezogenen Störungen, Aufmerksamkeitsdefizit- und
Hyperaktivitäts- oder Persönlichkeitsstörungen fehlen bislang nahezu vollständig.
Sie benötigen vermutlich eine längere und intensivere Behandlung, die beide Erkrankungen
berücksichtigt und durch Pharmakotherapie ergänzt wird.
Herr M. (21 Jahre alt) kommt in Begleitung seiner besorgten Eltern in die Klinik.
Er berichtet über innere Leere, reduzierten Antrieb, fehlende Energie. Seit ein paar
Wochen fühle er sich ständig beobachtet, man verfolge ihn. „Irgendetwas braut sich
zusammen“, meint er. Um seine Anspannung und Angst zu reduzieren, konsumiere er Cannabis.
Die Eltern berichten, dass der Patient vor 2 Jahren eine erste psychotische Episode
gehabt habe. Damals habe er 2 verschiedene antipsychotische Medikamente erhalten,
diese aber jeweils wegen Nebenwirkungen (motorische Unruhe, Appetitsteigerung) wieder
eigenständig abgesetzt. Eine angebahnte Psychotherapie konnte er damals aufgrund des
Antriebsmangels nicht wahrnehmen.
Effektivität der Behandlungsansätze
Die bisher entwickelten Behandlungsprogramme sind wirksam, die Effekte jedoch eher
moderat. In einem Cochrane Review von Gates und Kollegen berichteten 8 von 23 Studien
Abstinenz (Punkt-Prävalenzen) [44]. Durchschnittlich 37 % der Teilnehmer an den Interventionsgruppen waren zu Therapieende
abstinent. Dieser Anteil reduzierte sich auf 24 % nach 3-4 Monaten und lag bei 23 %
bei längeren Follow-up-Zeiträumen. Die Abstinenzrate lag in den Kontrollgruppen bei
der letzten Nachuntersuchung durchschnittlich bei 12 %. In den ausgewerteten Studien
wurden zusätzlich auch weitere, sekundäre Therapieerfolge berichtet, z. B. Verbesserungen
von Häufigkeit und Intensität des Cannabiskonsums. Daraus ergibt sich ein großer Bedarf
an der Entwicklung evidenzbasierter Standards für die Behandlung der Cannabisabhängigkeit
[45].
Die bisher durchgeführten Psychotherapiestudien zeigen moderate Abstinenzraten und
hohe Rückfallraten bei Cannabiskonsumstörungen.
Pharmakotherapie
Bisher gibt es keine Arzneimittel, die für die Behandlung von Cannabiskonsumstörungen
zugelassen sind. In einem Cochrane-Review analysierten Nielsen und Kollegen 21 randomisierte,
kontrollierte Studien (1755 Teilnehmer) [46]. Alle untersuchten Substanzen hatten im Vergleich zum Placebo keine Effekte auf
die Abstinenzraten: Cannabinoidrezeptor-1-Agonisten (THC-Präparationen; Nabiximols,
Dronabiol), Antidepressiva (Selective Serotonin Reuptake Inhibitors (SSRI), Antidepressiva
mit anderen Wirkmechanismen), Antikonvulsiva and Mood Stabiliser, Buspiron und N‐Acetylcystein.
Bei Gabapentin (Antikonvulsivum), Oxytocin (Neuropeptide) und Atomoxetin wurde die
Datenlage als zu gering eingeschätzt, um Wirksamkeitsnachweise zu evaluieren. Es kam
nicht häufiger zu Nebenwirkungen als bei Placebogabe. In 3 Studien (141 Teilnehmer)
führte die Gabe von Antikonvulsiva und Mood Stabilisern zu frühzeitigem Behandlungsabbruch
(RR 0,66, 95 %-KI 0,47-0,92).
Es existieren keine Arzneimittel zur Behandlung des Cravings oder zur Verbesserung
der Rückfallraten bei Cannabiskonsumstörungen.
Cannabiskonsumstörungen im deutschen Gesundheitssystem
Cannabiskonsumstörungen im deutschen Gesundheitssystem
In Deutschland ist Cannabis nach Alkohol der häufigste Anlass für eine Suchtbehandlung.
Im Jahr 2016 wurden in der ambulanten Behandlung 48,9 % aller Fälle wegen Alkohol
behandelt, 17,8 % wegen Cannabis und 13,7 % wegen Opiaten. In der stationären Behandlung
war der Anteil von Alkoholbehandlungen noch größer (68,8 %). Wegen Cannabis waren
9,2 % in Behandlung, wegen Opiaten 5,2 % [23].
In Deutschland – wie auch in anderen europäischen Ländern – werden cannabisbezogene
Störungen in der Regel ambulant behandelt
[1]. Dies erfolgt in Suchtberatungsstellen, Suchtambulanzen oder Schwerpunktpraxen.
Auch der meist klinisch unkomplizierte Entzug kann ambulant erfolgen.
Kompliziertere Intoxikationsverläufe können durch Panikattacken, psychotische oder
delirante Symptome gekennzeichnet sein. In diesen Fällen sind Gespräche mit dem Patienten
und gegebenenfalls eine zeitlich limitierte Gabe von Antipsychotika (vorzugsweise
Atypika) und / oder Sedativa hilfreich.
Eine qualifizierte stationäre Behandlung findet dann statt, wenn ein Betroffener einen komplizierten Intoxikationsverlauf,
ein schweres Entzugssyndrom oder schwere psychische, somatische und soziale Folgestörungen,
komorbide Störungen oder eine hohe Rückfallgefährdung mitbringt [47].
Die Therapie besteht dabei aus:
-
Akutbehandlung und
-
Postakutbehandlung.
In der Akuttherapie (Dauer: 2-4 Wochen; bei Jugendlichen 4-12 Wochen) kann eine körperliche
Entgiftung, Diagnostik, Behandlung von Entzugssymptomen sowie Abklärung und gegebenenfalls
Behandlung komorbider Störungen erfolgen. Neben intensiven stützenden Gesprächen und
Tagesstrukturierung wird der Patient dazu motiviert, eine weiterführende Behandlung
aufzunehmen, wenn bei beeinträchtigtem psychosozialem Funktionsniveau (das heißt bei
Schwierigkeiten in der Organisation des Alltags und der Tagesstrukturierung) der Behandlungswille
noch fehlt. In stationären Einrichtungen kommen verschiedene Therapieelemente zum
Einsatz: Einzel- und Gruppentherapie, Rückfallmanagement, soziales Kompetenztraining,
Entspannungsverfahren, Arbeits- und Beschäftigungstherapie, Physio- und Sporttherapie,
soziale Hilfen, freizeitpädagogische Aktivitäten, bei Jugendlichen auch Unterrichtprogramme
(Schule, Berufsorientierung, Suchtkunde).
Hinsichtlich der Behandlungsdauer haben sich 2 Varianten durchgesetzt:
Bei jüngeren Patienten mit erheblichen Entwicklungsdefiziten ist eine Langzeitbehandlung
üblich [48].
Im Gegensatz zu alkoholbezogenen Störungen oder Opiatabhängigkeit sind in Deutschland
bislang kaum Selbsthilfegruppen für Menschen mit cannabisbezogenen Störungen vorhanden.
Evidenzbasierte Programme aus Deutschland
Evidenzbasierte Programme aus Deutschland
Der erste in Deutschland entwickelte und mittlerweile auch in zahlreichen anderen
europäischen Ländern angebotene Ansatz zur Behandlung von Cannabiskonsumstörungen
ist „FreD – Frühintervention bei erstauffälligen Drogenkonsumenten“
[49]. Ziel dieses Programms ist es, junge Drogenkonsumenten zu einem möglichst frühen
Zeitpunkt über Risiken zu informieren und zu einer Reflexion bzw. Veränderung des
Substanzkonsums zu motivieren. Die Intervention besteht aus einem Einzelgespräch (In-Take-Gespräch)
und einem 8-stündigen Kursangebot (4-mal 2 Stunden bzw. 2-mal 4 Stunden).
Das Gruppentrainingsprogramm „CAN Stop“ wurde für Jugendliche und junge Erwachsene mit problematischem Cannabiskonsum im
Alter zwischen 14 und 21 Jahren entwickelt, umgesetzt und evaluiert. Es kann von geschulten
Laienhelfern in unterschiedlichen Settings (z. B. im Jugendstrafvollzug) eingesetzt
werden [50].
Zur Behandlung von Jugendlichen mit problematischem Cannabiskonsum und multiplem Problemverhalten
hat sich die Multidimensionale Familientherapie als wirksam gezeigt [51], [52]. Bei diesem Ansatz werden neben dem Jugendlichen auch die Eltern, die Familie und
das soziale Umfeld in die Behandlung einbezogen. Es erfolgt eine Kombination von Einzelsitzungen
(Jugendliche, Eltern), Familiensitzungen und Sitzungen mit relevanten außerfamiliären
Bezugspersonen (z. B. Lehrer, Erzieher, Bewährungshelfer) in unterschiedlichen Settings
(z. B. in der Einrichtung, zu Hause oder in der Schule). Es gibt keine spezifische
Zeitbegrenzung für die Behandlung. Häufige telefonische Kontakte sind ein wichtiger
Bestandteil der Intervention.
Für Cannabiskonsumenten im Alter zwischen 15 und 30 Jahren, die ihren Konsum einstellen,
zumindest aber reduzieren wollen, wurde das internetbasierte Cannabisausstiegsprogramm
„Quit the Shit“ entwickelt [53]. Nach dem Aufnahmegespräch wird das Online-Tagebuch von „Quit the shit“ freigeschaltet.
In diesem passwortgeschützten, persönlichen Bereich können die Teilnehmer über einen
Zeitraum von 50 Tagen alle relevanten Aspekte ihres Cannabiskonsums festhalten. Regelmäßig – d.
h. einmal pro Woche – erhalten alle Teilnehmer hierauf qualifizierte Feedbacks, in
denen neben dem Konsum (aktuell, im Verlauf) auch die psychosoziale Situation der
teilnehmenden Person oder der Beratungsprozess thematisiert werden.
Das Beratungsprogramm „Realize it“ richtet sich an 15- bis 30-jährige Klientinnen und Klienten [54]. Das Ziel ist eine signifikante Reduktion des Cannabiskonsums (konsumfreie Tage,
Konsumpausen oder die Cannabisabstinenz). Das „Realize it“-Programm wird vorwiegend
in ambulanten Suchthilfeeinrichtungen in der Beratung eingesetzt. Seit 2016 ist eine
Kombination der persönlichen Vor-Ort-Beratung mit einer webbasierten Variante des
„Realize it“-Programms verfügbar. Die Teilnehmenden können über ihr Smartphone Zugang
zu ihrem persönlichen Begleitbuch haben und mit ihren Beraterinnen bzw. Beratern in
Kontakt treten.
Das CANDIS-Programm ist ein psychotherapeutischer Ansatz, ältere Jugendliche (≥ 16 Jahre) und Erwachsenen
mit cannabisbezogenen Störungen [55], [56], [57], [58]. Das Behandlungsprogramm besteht aus 10 Sitzungen und hat Abstinenz bzw. Konsumreduktion
als Ziel. Es erfolgt Psychoedukation zum Thema Cannabis, Veränderungs- und Therapiemotivation
werden aufgebaut, das Konsumverhalten der Teilnehmer wird analysiert. Es werden Fertigkeiten
zur Veränderung des Cannabiskonsums eingeübt (z. B. Auslöserkontrolle, Aufbau von
Verhaltensalternativen, Umgang mit Entzugsbeschwerden). Um den Therapieerfolg zu sichern,
widmet sich das Programm den Themen Craving, Rückfallprophylaxe, Training sozialer
Kompetenzen und Komorbidität mit anderen psychischen Störungen.
Das CANDIS-Manual wurde in mehrere Sprachen übersetzt und auch in anderen Ländern
implementiert (z. B. in Polen, Spanien, Österreich und Italien).
Schlussfolgerung
In den letzten 3 Jahrzehnten hat die Forschung zu einem verbesserten Verständnis von
Cannabis, den Cannabinoiden und dem körpereigenen Cannabissystem beigetragen. Die
Studien zeigen, dass die Wirkungsweise von Cannabis individuell unterschiedlich sein
kann. Empirisch gut gesichert ist, dass der biografisch frühe, intensive und langjährige
Cannabisgebrauch das Risiko für unterschiedliche Störungen erhöht (z. B. kognitive
Störungen, Einbußen im Bildungserfolg, Psychosen, Depressionen, bipolare Störungen,
Angsterkrankungen sowie psychische und körperliche Abhängigkeit).
In der letzten Dekade zeigte sich parallel zum Anstieg des THC-Gehalts in Cannabisprodukten
auch eine deutliche Zunahme in der Nachfrage nach Suchtberatung und -therapie wegen
cannabisassoziierter Probleme in Europa. Experten schätzen, dass trotz dieser Entwicklung
noch immer eine erhebliche Behandlungslücke für diese Klientel existiert. Die Erfolgsraten
der bisher existierenden psychotherapeutischen Behandlungsansätze sind eher moderat,
die Rückfallraten hoch. Effektive pharmakotherapeutische Optionen fehlen. Aus diesen
Gründen kommt der Prävention von riskantem, schädlichem und abhängigem Cannabisgebrauch
künftig eine tragende gesundheitspolitische Rolle zu.
-
Nahezu 25 Mio. Bürger und Bürgerinnen in der EU nutzen Cannabis zu Rauschzwecken,
ca. 3 Mio. von ihnen mit klinisch relevantem Konsum.
-
Das durchschnittliche Verhältnis von THC zu CBD in Cannabisprodukten hat sich im letzten
Jahrzehnt sehr stark erhöht. Dadurch steigen möglicherweise die gesundheitlichen Risiken
von Cannabis, insbesondere bei vulnerablen Personen.
-
Regelmäßiger und in der Adoleszenz beginnender Cannabiskonsum ist mit einem erhöhten
Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen und Psychosen verbunden, kann
aber auch kognitive Fähigkeiten, den Bildungserfolg, die Fahrtüchtigkeit signifikant
einschränken.
-
Nach Alkohol ist der Konsum von Cannabis der häufigste Anlass für einen Kontakt mit
dem Suchthilfesystem in Deutschland.
-
Ein cannabisspezifisches Entzugssyndrom kann innerhalb von 48 Stunden nach dem Cannabiskonsumstopp
auftreten. Es ist i. R. gut behandelbar und klinisch unkompliziert.
-
Wirksame Therapieansätze zur Behandlung von Cannabiskonsumstörungen sind die motivationale
Gesprächsführung in Kombination mit kognitiver Verhaltenstherapie.
-
Für Kinder und Jugendliche mit pathologischem Cannabiskonsum wurden auch familientherapeutische
Behandlungsansätze entwickelt.
-
Die Behandlungserfolge sind eher moderat: Etwa jeder 4. Therapieteilnehmer ist nach
3-4 Monaten noch abstinent.
-
Bisher existieren keine Arzneimittel, die für die Behandlung von Cannabiskonsumstörungen
zugelassenen sind.
-
Behandlungsansätze für Menschen mit Cannabiskonsumstörungen und komorbiden Erkrankungen
(z. B. Psychosen, affektiven Erkrankungen, Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-
oder Persönlichkeitsstörungen) fehlen.
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag
ist PD Dr. Eva Hoch, München.
Zitierweise für diesen Artikel
PSYCH up2date 2019; 13 (5): 395-409