Arthritis und Rheuma 2019; 39(05): 341-343
DOI: 10.1055/a-1011-1319
Kasuistik Kinderrheumatologie
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Partielle Lipodystrophie mit Verdacht auf Autoimmunerkrankung

A. Raab
1   Universitätskinderklinik Charité, Campus Virchow, Klinik für Pädiatrie m. S. Pneumologie, Immunologie und Intensivmedizin, SPZ, Sektion Pädiatrische Rheumatologie
,
M. Danyel
2   Institut für Medizinische Genetik und Humangenetik, Charité, Berlin
,
R. Thalemann
1   Universitätskinderklinik Charité, Campus Virchow, Klinik für Pädiatrie m. S. Pneumologie, Immunologie und Intensivmedizin, SPZ, Sektion Pädiatrische Rheumatologie
,
D. Müller
3   Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Gastroenterologie, Nephrologie und Stoffwechselmedizin, Charité, Berlin
,
D. Horn
2   Institut für Medizinische Genetik und Humangenetik, Charité, Berlin
,
H. Krude
4   Institut für Experimentelle Pädiatrische Endokrinologie, Charité, Berlin
,
J. Schröder-Braunstein
5   Institut für Immunologie, Universitätsklinikum Heidelberg
,
T. Kallinich
1   Universitätskinderklinik Charité, Campus Virchow, Klinik für Pädiatrie m. S. Pneumologie, Immunologie und Intensivmedizin, SPZ, Sektion Pädiatrische Rheumatologie
› Author Affiliations
Further Information

Korrespondenzadresse

Dr. Anna Raab
Universitätsklinikum Charité, Campus Virchow
Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Pneumologie, Immunologie und Intensivmedizin
SPZ, Sektion Pädiatrische Rheumatologie
Charitéplatz 1, 10117 Berlin

Publication History

Publication Date:
09 October 2019 (online)

 

Dargestellt wird der Fall eines 10-jährigen Jungen mit unklarer partieller Lipodystrophie im Bereich des Gesichtes, der im Rahmen des Innovationsfonds-Projektes TRANSLATE-NAMSE durch eine interdisziplinäre Fallkonferenz aufgeklärt werden konnte.

Das Versorgungsprojekt TRANSLATE-NAMSE strebt die bundesweite Verbesserung der medizinischen Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen an und wird aus dem Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) gefördert. Kern des Projektes bilden 9 universitäre Zentren für seltene Erkrankungen und 4 Institute für Humangenetik in Deutschland. Die gesetzlichen Krankenkassen AOK Nordost und BARMER sowie die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen e. V. (ACHSE) unterstützen das Vorhaben. Ein wichtiger Bestandteil des Projekts ist die Organisation interdisziplinärer, gegebenenfalls multizentrischer standortübergreifender Fallkonferenzen und eine gezielte Durchführung innovativer genetischer Diagnostik. So werden einzelne zentrale Maßnahmen des Nationalen Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen Erkrankungen (NAMSE) Aktionsplans umgesetzt und eine beschleunigte präzise Diagnosestellung verfolgt (translate-namse.charite.de).

Anamnese

Im Alter von 7 Jahren fiel den Eltern bei dem Jungen erstmalig eine Verschmälerung im Bereich der Wangen auf. Hinzu kamen, wie die Familie berichtet, Haarausfall, rezidivierende Aphthen und Rückenschmerzen.

Eigenanamnese

Zustand nach Chemoprophylaxe mit Isoniazid für 3 Monate im Juli 2010 bei offener Tuberkulose (TBC) der Mutter ohne Anhalt für eine TBC- Infektion des Kindes (QuantiFERON® Tb-Gold Plus (IGRA) negativ, Röntgen-Thorax unauffällig).


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Erweiterte Anamnese

Die Eltern und die 2 jüngeren Geschwister sind gesund.


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Untersuchungsbefund

10-jähriger, altersgerecht entwickelter Junge in gutem Allgemeinzustand. Bis auf Lipodystrophie im Bereich der Wangen keine Auffälligkeiten. Gewicht und Größe sind altersgemäß.


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Laborbefunde

Im Blutbild zeigten sich keine relevanten Veränderungen. Es fanden sich keine erhöhten Entzündungsparameter (negatives CRP und unauffällige BSG). Auffällig war eine Transaminasenerhöhung: GOT 55 U/I (17–50) und GPT 103 U/I (< 41). Alkalische Phosphatase und LDH waren im Normbereich. Der direkte Coombs-Test war mit Bindung von anti-C3d positiv. Das 25-OH-Vitamin D3 war mit 19,8 nmol/l (50–150 nmol/l) erniedrigt.

In der Autoimmundiagnostik zeigte sich ein leicht erhöhter ANA-Titer mit 1:320 und ein positiver ENA-Screen. In der ENA-Differenzierung fanden sich positive anti-SS-A-/Ro-Ak und anti-C1q-Antikörper. Der Nachweis des HLA-B27-Antigens war positiv.

Die Proteindiagnostik zeigte ein leicht erhöhtes Immunglobulin G mit 18,63 g/l (6,98–15,60), ein grenzwertig erhöhtes Immunglobulin A 2,06 g/l (0,53–2,04) sowie ein deutlich erniedrigtes C3-Komplement mit 50 mg/l (900–1800). Immunglobulin M, Ferritin und C4-Komplement waren im Normbereich.

Die weiterführende Komplementdiagnostik zeigte eine hochgradige Komplementaktivierung mit stark erniedrigtem C3 und deutlich erhöhten Aktivierungsprodukten (C3d, sC5b-9) sowie eine Reduktion der Funktion des klassischen Wegs auf 5 % (Referenzbereich 65–135 %) und des Alternativweges auf 10 % (Referenzbereich 60–140 %). Der C3 Nephritis-Faktor (C3NeF) war positiv ([ Tab. 1 ]).

Tab. 1

Komplementanalytik im weiteren Verlauf (Universitätsklinikum Heidelberg, Institut für Immunlogie, Labor für Komplementdiagnostik, Dr. med. Jutta Schröder-Braunstein).

Untersuchung

Ergebnis

Einheit

Referenzbereich

Gesamtkomplement Klass. Weg/Funktion/1-Punkt

3

%

65–135

Gesamtkomplement Alternativweg/Funktion

7

%

60–140

Komplement C3d/Protein

152

mU/l

< 40

sC5b-9/terminaler Komplementkomplex

634

ng/ml

58–238

C3-Nephritis-Faktor (C3NeF)

positiv

negativ

Im Spontanurin zeigte sich ein leicht erhöhtes Protein von 256,4 mg/dl (< 150), das Kreatinin und der Kreatinin-Protein-Quotient lagen im Normbereich.


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Bildgebung und Lungenfunktionsuntersuchungen

Die durchgeführte Magnetresonanztomografie des Kopfes, die Abdomensonografie und die Röntgenaufnahme des Thorax in 2 Ebenen zeigten Normalbefunde. Die Spirometrie- und Bodyplethysmografie waren ebenfalls ohne pathologischen Befund.


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Vorläufige Diagnose und Verlauf

Aufgrund der Laborveränderungen mit erniedrigtem C3, positiven Anti- SSA/Ro-Ak, rezidivierenden Aphthen und Haarausfall bestand initial der Verdacht auf einen systemischen Lupus erythematodes mit Lipodystrophie. Es wurde eine immunsuppressive Therapie mit initialer oraler Glukokortikoidtherapie in Kombination mit Azathioprin und Hydroxychloroquin begonnen. Unter der Therapie kam es zu einer Normalisierung der Leberenzyme, die Lipodystrophie und die pathologischen Laborwerte ließen sich durch die Therapie allerdings nicht positiv beeinflussen.

Die im Verlauf durchgeführte Komplementuntersuchung zeigte einen deutlich positiven C3NeF. Die Komplementanalysen ergaben keinen Hinweis auf einen homozygoten Komplementdefekt.


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Diagnose

Aufgrund der zunächst unklaren Diagnose wurde der Patient in das oben beschriebene Versorgungsprojekt TRANSLATE-NAMSE eingeschlossen. Der Fall wurde unter Einschluss von Experten aus den Fachbereichen pädiatrische Rheumatologie, Immunologie, Nephrologie, Endokrinologie, Psychologie und Humangenetik diskutiert. Es konnte die Diagnose einer erworbenen partiellen Lipodystrophie (EPL) bzw. Barraquer-Simons-Syndrom (OMIM: 608709) gestellt werden. Die eingeleitete whole-exome-Sequenzierung erbrachte keine zugrundeliegende pathologische Mutation.


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Diskussion

Das Krankheitsbild der EPL ist durch einen Verlust des subkutanen Fettgewebes, initial im Bereich des Gesichtes, gekennzeichnet. Typische laborchemische Merkmale sind sowohl eine Aktivierung des Komplementsystems (C3-Komplement-Erniedrigung bei normalem C4), ein positiver C3 nephritic factor (C3NeF) als auch eine Erhöhung der oben beschriebenen Autoimmunparameter. Die Erkrankung zeigt eine Assoziation zum systemischen Lupus erythematodes sowie zur Dermatomyositis passend zu den positiven SSA-/Ro-Antikörpern. Insgesamt wurden bisher mehr als 250 Fälle einer EPL beschrieben. Die Prävalenz wird auf 1–9/100 000 geschätzt (orphan.net).

In einem Literaturreview wurden Fallberichte von insgesamt 220 Patienten mit EPL aufgeführt, außerdem wurden 35 Patienten über einen Zeitraum von 8 Jahren beobachtet (1 body fat distribution, and prevalence of metabolic abnormalities in 35 patients with acquired partial lipodystrophy [APL]). Der durchschnittliche Erkrankungsbeginn lag in diesem Patientenkollektiv im 7. Lebensjahr. Im Verlauf kam es bei den Patienten zu einem weiteren bilateralen, symmetrischen Verlust des Fettgewebes, beginnend im Bereich des Gesichtes, Nackens, der oberen Extremität, Thorax und des Abdomens. Bei den beschriebenen Patienten bestand eine erhöhte Prävalenz für einen Diabetes mellitus (6,7 %) sowie eine gestörte Glukosetoleranz (8,9 %). 83 % der Patienten hatten ein erniedrigtes C3 und einen positiven C3NeF. Durchschnittlich 8 Jahre nach Beginn der Lipodystrophie entwickelten 22 % der Patienten eine membranoproliferative Glomerulonephritis (MPGN). Die Patienten mit renaler Beteiligung waren signifikant früher erkrankt.

Seit langer Zeit ist bekannt, dass eine Dysregulation des Komplementsystems mit einer Nierenbeteiligung einhergehen kann. So wird bei einem hohen Anteil der Patienten mit einer C3-Glomerulonephritis ein positiver C3 nephritic factor (C3NeF) beobachtet. In manchen Fällen scheint die Anwesenheit dieses Autoantikörpers auch eine EPL zu verursachen. Der Zusammenhang zwischen Komplementsystem und Lipodystrophie wird detailliert von Corvillo et. al erläutert. Adipozyten sezernieren Komponenten des Komplementsystems und generieren das Enzym C3-Konvertase (C3b3Bb). Ein vorliegender C3NeF stabilisiert diese C3-Konvertase und führt so zu einer unkontrollierten Aktivierung des alternativen Weges in den Zellmembranen. Dieser Prozess führt dann im Verlauf zur Lyse der Adipozyten [[2]].

Lediglich bei einer kleinen Zahl an Patienten mit einer erworbenen partiellen Lipodystrophie wurden krankheitsassoziierte Mutationen im Lamin B2 (LMNB2)-Gen beschrieben [[3], [4]]. Es gibt keine weiteren Hinweise darauf, dass genetische Defekte mit einer erworbenen partiellen Lipodystrophie in Verbindung gebracht werden können.

Die Prognose der EPL hängt weitestgehend von dem Ausmaß der Nierenbeteiligung ab. Unserem Patienten wurden regelmäßige Urinkontrollen empfohlen sowie eine Umstellung der Therapie von Azathioprin auf Mycophenolat-Mofetil. Sollte es im Verlauf zu einer Nierenbeteiligung kommen, kann eine Inhibition der terminalen Komplementaktivierung mit dem monoklonalen anti-C5-Antikörper Eculizumab erwogen werden [[5]]. Zur Therapie möglicher metabolischer Anomalien stände gegebenenfalls Metreleptin zur Verfügung.


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Interessenkonflikt

Die korrespondierende Autorin erklärt, dass in Bezug auf diese Arbeit für keinen der Autorinnen und Autoren ein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Dr. Anna Raab
Universitätsklinikum Charité, Campus Virchow
Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Pneumologie, Immunologie und Intensivmedizin
SPZ, Sektion Pädiatrische Rheumatologie
Charitéplatz 1, 10117 Berlin