Aktuelle Dermatologie 2020; 46(01/02): 56-58
DOI: 10.1055/a-1015-5007
Eine Klinik im Blickpunkt
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Orale Toleranzinduktion bei Typ I-Allergie gegen Ei

Oral Tolerance Induction in Type I Egg Allergy
B. Kovács
Klinik für Dermatologie, Allergologie und Venerologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
,
A. Recke
Klinik für Dermatologie, Allergologie und Venerologie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
› Author Affiliations
Further Information

Korrespondenzadresse

Andreas Recke
Klinik für Dermatologie, Allergologie und Venerologie
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
Campus Lübeck
Ratzeburger Allee 160
23538 Lübeck

Publication History

Publication Date:
10 February 2020 (online)

 

Zusammenfassung

Hühnerei ist eine Allergenquelle, die in unserer täglichen Ernährung in offener und versteckter Form häufig vorkommt. Eine Allergie dagegen geht oftmals mit schweren anaphylaktischen Reaktionen einher. Es ist im Alltag eine große Herausforderung, Hühnerei vollständig zu meiden. Betroffene sind eingeschränkt in ihrer Nahrungsauswahl und in ihrem sozialen Leben. Wir stellen eine Patientin vor, die nach dem Verzehr einer kleinen Probe des von ihr zubereiteten Kuchenteigs einen schweren anaphylaktischen Schock erlitt, der eine intensivmedizinische Versorgung erforderte. Mittels Hauttestung und IgE-Diagnostik wiesen wir eine Typ I-Sensibilisierung vorwiegend auf hitzelabile Einzelallergene in Hühnerei nach. Da die Patientin trotz Umsicht eine Aufnahme von Hühnerei nicht vollständig vermeiden konnte, begannen wir mit einer spezifischen oralen Toleranzinduktion (SOTI) mit verbackenem bzw. durcherhitztem Ei. Unter dieser Behandlung konnte die Patientin bis heute eine erneute anaphylaktische Reaktion vermeiden und gleichzeitig die zuvor bestehenden Einschränkungen ihres täglichen Lebens deutlich lindern. Trotz dieses Erfolges kann die SOTI mangels etablierter und sicherer Protokolle noch nicht standardmäßig empfohlen werden und sollte nur in besonderen Fällen in Erwägung gezogen werden.


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Abstract

Hen egg is an allergen which often occurs in our daily diet, both in open and hidden forms. An allergy against hen egg is often accompanied by severe anaphylactic reactions. Avoiding chicken eggs completely is an enormous challenge in the everyday life. Affected patients are limited in their choice of food and, consequently, in their social life. The patient in the presented case introduced herself in our clinic after she had suffered a severe anaphylactic shock while trying a homemade cake dough, followed by treatment in the intensive care unit. Using skin prick testing and IgE diagnostics, we were able to detect a type I sensitization predominantly to heat-labile single allergens in hen egg. Since the patient could not completely avoid the ingestion of chicken eggs, we started with a specific oral tolerance induction (SOTI) with baked/heated egg. With this treatment, the patient did not suffer severe anaphylactic reactions any more, and was at the same time able to significantly alleviate the restrictions in her daily life. Despite this success, SOTI cannot yet be recommended as a standard treatment due to the lack of established and safe protocols. It should only be considered in special cases such as in this patient.


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Einleitung

Die Eiallergie ist mit einer Prävalenz zwischen 0,5 und 2,5 % die häufigste Allergie bei Kindern unter 5 Jahren, jedoch heilen bis zu 70 % der Fälle dieser Allergien im weiteren Verlauf vollständig ab [1] [2]. Eine im Erwachsenenalter persistierende oder neu aufgetretene Allergie gegenüber Hühnerei ist deutlich seltener.

Hühnereiweiß stellt, weil es in sehr vielen Lebensmitteln vorkommt, eine bedeutende versteckte Allergenquelle dar.

Für die Diagnose wegweisend ist die Anamnese, welche durch eine positive Pricktestung mit Standardextrakten oder nativem Hühnerei sowie spezifischem IgE gegen Gesamtextrakt und Einzelallergene gestützt wird [1]. Um die Diagnose abzusichern, sollte eine doppelblinde, placebokontrollierte, orale Provokationstestung erwogen werden [3] [4].

Als Allergene spielen im Wesentlichen 5 Proteine des Hühnereis eine Rolle ([Tab. 1]): Ovomucoid (Gal d 1), Ovalbumin (Gal d 2), Ovotransferrin (Gal d 3), Lysosym (Gal d 4) und alpha-Livetin (Gal d 5) [5]. Von diesen Proteinen wird nur Ovomucoid als hitzestabil charakterisiert, während alle anderen durch Erhitzen oder Bestrahlung inaktiviert werden [6].

Tab. 1

Einzelallergene in Hühnerei und Hühnerfleisch (Nomenklatur gemäß der International Union of Immunological Societies).

Allergen

Vorkommen

Name

Größe (kDa)

Anteil (im Eiweiß)

Stabilität

Hitze

Verdauung

Gal d 1

Eiweiß

Ovomucoid

28

11 %

stabil

stabil

Gal d 2

Eiweiß

Ovalbumin

45

54 %

labil

labil

Gal d 3

Eiweiß

Ovotransferrin

76,6

12 %

labil

labil

Gal d 4

Eiweiß

Lysozym

14,3

 3 %

labil

labil

Gal d 5

Eigelb, Hühnerfleisch

α-Livetin

65 – 70

teilweise labil

n. n.

Gal d 6

Eigelb

YGP42

35

stabil

n. n.

Gal d 7

Hühnerfleisch

Myosin

21

n. n.

n. n.

Gal d 8

Hühnerfleisch

Parvalbumin

~ 13

n. n.

n. n.

Gal d 9

Hühnerfleisch

Enolase

~ 52

n. n.

n. n.

Gal d 10

Hühnerfleisch

Aldolase

n. n.

n. n.

n. n.

Obwohl sie klinisch bei weitem nicht standardisiert ist und die Evidenzlage eher schwach ist, kann bei einer Eiallergie eine spezifische orale Toleranzinduktion (SOTI) versucht werden [7]. Ein wesentlicher Nachteil einer SOTI ist, dass es hierunter immer wieder zu anaphylaktischen Reaktionen kommen kann. Eine Möglichkeit, diese zu unterbinden, scheint die gleichzeitige Therapie mit Omalizumab darzustellen, wie im Falle einer Kuhmilchallergie gezeigt werden konnte [8]. Ein anderer Weg, um Nebenwirkungen zu vermeiden, ist die Verwendung von durcherhitzten Nahrungsmitteln für die SOTI. Dieses ist sinnvoll, wenn ausschließlich Sensibilisierungen gegenüber hitzelabilen Allergenen bestehen [9].


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Fallbericht

Anamnese

Die Patientin stellte sich allergologisch Ende April 2017 erstmalig vor, nachdem sie eine schwere anaphylaktischen Reaktion entwickelt hatte, während sie beim Backen rohen Rührteig probiert hatte. Zunächst trat ein starker Husten auf, gefolgt von einem Larynxödem und Dyspnoe. Unter einer antiallergischen Medikation durch den Notarzt klangen die Symptome rapide ab. Danach verbrachte die Patientin eine Nacht unter intensivmedizinischer Überwachung und wurde dann in die Klinik für Hals-Nasen-Ohren weiterverlegt. Bereits vor diesem Ereignis beschreibt die Patientin, milde gastrointestinale Reaktionen beim Verzehr von rohen Eiern gehabt zu haben. Seit dem oben beschriebenen Ereignis führt sie stets ein Anaphylaxie-Notfallset bei sich. Auch berichtet sie, dass sie bei Kontakt der Hände mit Hühnerei zu Juckreiz und Brennen führt, weswegen sie diese nur mit Handschuhen verarbeite.

Bei der Patientin sind weitere klinisch relevante Sensibilisierungen gegenüber Fosyfomycin und Penicilline sowie eine Typ IV-Sensibilisierung gegenüber Zinkoxid bekannt. Sie leidet unter atopischer Dermatitis mit insbesondere im Winter ausgeprägtem Handekzem sowie einer Rhinokonjunktivitis allergica bei Typ I-Sensibilisierung gegenüber Milben, Frühblüherpollen und Gräser-/Getreidepollen.


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Prick-Testung

Beim Prick-Test ex domo zeigten sich mehrere Sensibilisierungen gegen: Gräser/Getreide, Roggen, Wegerich, Erle, Hasel, Birke, Rotbuche, D. farinae, D. pteronyssinus; Hühnerei gesamt, Eigelb, Kuhmilch.


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Labordiagnostik

Gesamt-IgE erhöht (312 kIU/l), Kindernahrungsmischung (fx5) positiv (3,52 kIU/l), Hühnereiweiß positiv (4,64 kIU/l), Ovomucoid nGal d 1 negativ, Ovalbumin nGal d 2 positiv (6,86 kIU/l), Ovotransferrin nGal d 3 negativ, Eigelb positiv (0,64 kIU/l), Milcheiweiß (f2) schwach positiv (0,45 kIU/l), Milchkomponenten nBos d 4, nBos d 5, nBos d 6, nBos d 8 negativ, Birke positiv (1,79 kIU/l), Lieschgras positiv (3,31 kIU/l), Roggen positiv (2,56 kIU/l), D. pteronyssinus positiv (5,53 kIU/l)


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Therapie und Verlauf

Aufgrund der Anamnese inkl. des Ereignisses mit Anaphylaxie Grad 2 – 3 und der umfassenden Diagnostik konnte die Diagnose einer klinisch relevanten Typ I-Sensibilisierung gegen hitzelabile Allergene in Hühnereiweiß und Hühnereigelb gestellt werden. Es lag jedoch keine Sensibilisierung gegenüber hitzestabilem Ovomucoid vor.

Aufgrund des Sensibilisierungmusters nur gegenüber hitzelabilen Allergenen in Hühnerei ergab sich die Möglichkeit, eine risikoreduzierte spezifische orale Toleranzinduktion (SOTI) mit durcherhitzten Hühnereiprodukten zu beginnen. Die Patientin begann nach Erörterung dieses Konzeptes selbständig bereits vor der geplanten stationären Einleitung mit dieser Therapie, Komplikationen traten hierbei letztlich jedoch keine auf. Sie steigerte die Menge an verzehrten Hühnereiprodukten selbständig nach eigenem Befinden wie in [Abb. 1]. Zur Verringerung von anfänglich auftretenden leichten Beschwerden verwendete sie Cetirizin 10 mg bis 4 × täglich.

Zoom Image
Abb. 1 Ernährungsplan zur spezifischen Immuntherapie mit prozessiertem Ei.

Die Waffeln wurden gut vertragen, jedoch zeigte sich unter der erstmaligen Einführung von gekochten Eiern nach 3 Wochen eine Halsschwellung und Engegefühl thorakal und initiale Dyspnoe, sodass die Patientin eigenständig auf Eiersalat (54 % Eianteil) umstieg. Nach 5 Wochen begann sie mit gekochten gekauften Eiern in kleineren Mengen. Diesmal tolerierte die Patientin das Allergen sehr gut. Anfänglich traten Bauchschmerzen, Meteorismus und Juckreiz im Rachen mit leichter Schwellung im Zungengrund und Larynx auf. 4 Monate nach Beginn der SOTI besserten sich die Beschwerden deutlich, sodass die Patientin dann bei akzidentellem Verzehr von Ei, z. B. in Nachtisch, kaum noch Symptome entwickelt.

Aufgrund der Allergie gegenüber Hühnereiweiß führten wir die Influenzaimpfung 2017/2018, welche Spuren von Hühnereiweiß enthalten kann, mit längerer Überwachung in unserer Allergieambulanz durch. Hierbei traten keine Komplikationen auf.


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Diskussion

Der Fallbericht zeigt auf, zu welch ausgeprägten anaphylaktischen Reaktionen Hühnereiallergien auch im Erwachsenenalter führen können. Auch der Kontakt mit Hühnerei führte bereits zu ausgeprägten lokalen Reizungen. Da die Lebensqualität der Patientin sehr eingeschränkt war und wir mithilfe der Einzelallergendiagnostik eine Sensibilisierung ausschließlich gegenüber hitzelabilen Eiallergenen nachweisen konnten, entschlossen wir uns zu einer SOTI mit durcherhitzem Hühnereiprodukten. Ausschlaggebend hierfür war die Bereitschaft der Patientin, diese Therapie konsequent durchzuführen.

Bei dieser SOTI fiel auf, dass die Patientin mit selbst zubereiteten Nahrungsmitteln mit Ei trotz intensiver und langanhaltender Durcherhitzung immer noch Probleme hatte. Kommerzielle Eiprodukte inkl. fertiger gekochter Eier und Eiersalat konnte sie wesentlich besser vertragen. Dies spricht dafür, dass die eigenhändige Zubereitung weniger sicher die Eiallergene inaktiviert als die industrielle Zubereitung. Vollständig beschwerdefrei war die SOTI dennoch auch mit industriell verarbeiteten Nahrungsmitteln nicht durchführbar.

Unter der laufenden SOTI hatte die Patientin bei akzidentellem Verzehr von eihaltigen Speisen keine weiteren schwergradigen anaphylaktischen Reaktionen mehr. Dieses spricht für eine Effektivität der Behandlung, wobei nicht sicher vorhergesagt werden kann, ob der protektive Effekt bei Beendigung der Therapie erhalten bleiben würde [7]. Daher wird die SOTI dauerhaft fortgeführt.

Dieser Fallbericht zeigt, dass mithilfe von industriell produzierten Eispeisen eine SOTI bei entsprechendem Sensibilisierungsmuster vergleichsweise unkompliziert und sicher durchführbar ist. Gleichzeitig zeigt der Fall auch auf, dass schwergradige Allergien gegenüber Grundnahrungsmitteln auch bei Erwachsenen eine Rolle spielen und eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensqualität darstellen, für die bisher keine standardisierten Therapieformen existieren.


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Interessenkonflikt

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Urisu A, Kondo Y, Tsuge I. Hen’s Egg Allergy. Chem Immunol Allergy 2015; 101: 124-130
  • 2 Du ToitG, Foong R-X, Lack G. The role of dietary interventions in the prevention of IgE-mediated food allergy in children. Pediatr Allergy Immunol Off Publ Eur Soc Pediatr Allergy Immunol 2017; 28: 222-229
  • 3 Niggemann B, Beyer KSE. et al. Standardisierung von oralen Provokationstests bei Verdacht auf Nahrungsmittelallergie. Allergologie 2011; 34: 467-479
  • 4 Kido J, Nishi N, Matsumoto T. The Oral Provocation Test for Raw Egg in Patients with Hen Egg Allergy. Int Arch Allergy Immunol 2018; 177: 40-44
  • 5 Dhanapala P, De Silva C, Doran T. et al. Cracking the egg: An insight into egg hypersensitivity. Mol Immunol 2015; 66: 375-383
  • 6 Gomaa A, Boye J. Impact of irradiation and thermal processing on the immunochemical detection of milk and egg allergens in foods. Food Res Int 2015; 74: 275-283
  • 7 Romantsik O, Bruschettini M, Tosca MA. et al. Oral and sublingual immunotherapy for egg allergy. Cochrane Database Syst Rev 2014; CD010638
  • 8 Schocker F, Recke A, Kull S. et al. Persistent cow’s milk anaphylaxis from early childhood monitored by IgE and BAT to cow’s and human milk under therapy. Pediatr Allergy Immunol Off Publ Eur Soc Pediatr Allergy Immunol 2018; 29: 210-214
  • 9 Leonard SA, Caubet J-C, Kim JS. et al. Baked milk- and egg-containing diet in the management of milk and egg allergy. J Allergy Clin Immunol Pract 2015; 3: 13-23; quiz 24

Korrespondenzadresse

Andreas Recke
Klinik für Dermatologie, Allergologie und Venerologie
Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
Campus Lübeck
Ratzeburger Allee 160
23538 Lübeck

  • Literatur

  • 1 Urisu A, Kondo Y, Tsuge I. Hen’s Egg Allergy. Chem Immunol Allergy 2015; 101: 124-130
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  • 3 Niggemann B, Beyer KSE. et al. Standardisierung von oralen Provokationstests bei Verdacht auf Nahrungsmittelallergie. Allergologie 2011; 34: 467-479
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  • 6 Gomaa A, Boye J. Impact of irradiation and thermal processing on the immunochemical detection of milk and egg allergens in foods. Food Res Int 2015; 74: 275-283
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  • 9 Leonard SA, Caubet J-C, Kim JS. et al. Baked milk- and egg-containing diet in the management of milk and egg allergy. J Allergy Clin Immunol Pract 2015; 3: 13-23; quiz 24

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Abb. 1 Ernährungsplan zur spezifischen Immuntherapie mit prozessiertem Ei.