Empowerment ist eine Grundhaltung, die fest im ergotherapeutischen Berufsprofil verankert
ist. Darunter versteht man die Strategie, Menschen dazu zu führen, ihren Grad an Autonomie
und Selbstbestimmung in ihrem Leben zu erhöhen. Ergotherapeuten befähigen Klienten
dazu, eigene Ressourcen zu erkennen und sie sinnvoll einzusetzen. Jedoch erschwert
der Berufskontext oft diese Haltung, zum Beispiel durch die enge Therapietaktung,
die eine individuelle Betreuung der Klienten behindert – vor allem in der psychiatrischen
Klinik, wie ich erkennen musste.
Weg von der Defizitorientierung
Weg von der Defizitorientierung
Bekommen Klienten die Gelegenheit, ihre Therapie mitzugestalten, ermöglicht dies ihnen
mehr Autonomie und Selbstbestimmtheit. Sie werden dadurch entscheidungsfähiger. Jedoch
hat mir mein Berufsalltag gezeigt, dass trotz kontinuierlicher Ergotherapie, Psychologie,
medizinischer sowie weiterer Therapien, viele Klienten ihre Stärken nicht kennen und
dadurch nicht selbstbestimmt handeln. Dies führte dazu, dass ich das klinische Setting
hinterfragte und ein ergotherapeutisches Gruppenkonzept ausarbeitete, wie Klienten
in ihrem Therapieprozess mehr Selbstbestimmung erreichen können.
Der erste Schritt zur ressourcenorientierten Arbeit beginnt damit, dass man anerkennt,
dass der psychiatrische Alltag häufig defizitorientiert ist und dass Klienten auf
ihre Symptome reduziert werden [1]. Bei Befundgesprächen fragen Behandler meist nur nach den Einschränkungen der Personen,
denn Defizite stellen leider noch häufig die Eintrittskarte für professionelle Hilfe
dar.
Hinzu kommt, dass der Empowerment- bzw. Recovery-Ansatz im psychiatrischen Bereich
noch sehr jung ist. In der Vergangenheit galten psychisch erkrankte Menschen als kognitiv
eingeschränkt und nicht leistungsfähig. Umso wichtiger ist es, bestehende Systematiken
zu hinterfragen und andere Ansätze zu finden. Dies sollte auf drei Ebenen geschehen
[1]:
-
Ist die Haltung der Fachperson ressourcenorientiert?
-
Kann der Klient seine Ressourcen durch die angewandten Methoden erkennen?
-
Herrscht in der Einrichtung ein Klima, das ein Wachstum des Klienten ermöglicht?
Ich bemerkte auch bei mir, dass ich im Berufsalltag oft für den Klienten entschied,
anstatt Dinge gemeinsam mit ihm zu bestimmen. Als Behandler ist man häufig der Meinung,
dies sei für die Genesung der Person am besten. Genau in solchen Situationen arbeitet
man nicht empowerment- oder recoveryfördernd, sondern nimmt dem Klienten eine Entscheidung
ab, die er selbst treffen könnte.
Ergotherapeutische Kompetenzen
Ergotherapeutische Kompetenzen
Das Canadian Model of Client-Centred Enablement (CMCE) zeigt, wie gut sich ergotherapeutische
Kompetenzen auf eine empowermentorientierte Haltung übertragen lassen. Das Modell
stellt die Enablement Skills (Befähigungsfertigkeiten) der Ergotherapie dar, beispielsweise
Coachen, Beraten oder Informieren (ENABLEMENT SKILLS). Sie spielen auch im Empowerment-Ansatz
eine Rolle. So ist es unter anderem wichtig, dass der Ergotherapeut dem Klienten zu
einer selbstständigen Entscheidung verhilft, anstatt ihm die Lösung zu präsentieren.
Dies erreicht er, indem er den ihn ausreichend über seine Erkrankung und dessen Auswirkungen
informiert und ihn zu möglichen Lösungsstrategien begleitet.
Ein weiterer zentraler Punkt im Empowerment- und Recovery-Ansatz findet in der Ergotherapie
kaum Beachtung: die Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung der Klienten untereinander
[4]. Der Klient wird häufig als Experte seines Lebens und Alltags genannt. Egal, wie
gut die Rückmeldung eines Therapeuten ist, die Erfahrung hat gezeigt, dass Klienten
um einiges stolzer auf sich und ihre Leistungen wirken, wenn sie eine positive Rückmeldung
von „Mitbetroffenen“ erhalten. Es handelt sich dabei um eine andere Art der Wertschätzung,
die sie dabei erfahren.
Sich der eigenen Stärken bewusst werden
Sich der eigenen Stärken bewusst werden
Während meiner Arbeit mit psychisch erkrankten Personen wurde mir bewusst, dass Klienten
häufig zwar aus einer Klinik entlassen werden, dies aber nicht bedeutet, dass sie
ihren Alltag bereits eigenständig und zufriedenstellend gestalten können. Es ist auffällig,
dass Lebensbereiche wie Arbeit oft gut funktionieren. Diese geschieht meist aus extrinsischer
Motivation heraus, zum Beispiel durch das Gehalt sowie durch Kollegen und Arbeitgeber.
Die Alltags- und Freizeitgestaltung bleibt jedoch häufig auf der Strecke. In Gesprächen
mit Klienten fiel immer wieder dieselbe Aussage: „Ich weiß nicht, was ich kann.“ Viele
waren sich ihrer Stärken nicht bewusst und hatten keinerlei Ideen, wie sie sich diese
erarbeiten könnten.
Gesprächsgruppe in der Tagesklinik
Gesprächsgruppe in der Tagesklinik
Um den Empowerment-Ansatz in meine tägliche Arbeit einfließen zu lassen, etablierte
ich in der psychiatrischen Tagesklinik ein neues ergotherapeutisches Gruppenangebot:
die Empowerment-Gruppe. Daran können bis zu 15 Personen diagnoseunabhängig teilnehmen.
Eine Einheit dauert 75 Minuten. Die Themen der offenen Gesprächsgruppe drehen sich
zum Beispiel um den Rollen- und Identitätsbegriff der Klienten, wie sie ihre eigenen
Stärken erkennen können, die Freizeit- und Alltagsgestaltung nach dem Klinikaufenthalt
oder dem Aufbau positiver Beziehungen. Diese Inhalte wiederholen sich zyklisch und
bauen nur selten aufeinander auf, damit Personen quereinsteigen können.
ENABLEMENT SKILLS
Occupational Therapy Enablement Skills nach dem Canadian Model of Client-Centred Enablement
(CMCE):
Anpassen, Fürsprechen, Coachen, Zusammenarbeiten, Beraten, Koordinieren, Entwerfen/Konstruieren,
Informieren, Beteiligen, SpezialisierenCMCE
Hören Sie sich das CMCE in Kurzfassung an!
Gehen Sie dazu auf www.thieme.de/ergopraxis > „Podcast“ oder scannen Sie den QR-Code:
Zu Beginn erarbeite ich gemeinsam mit den Klienten den Begriff des Empowerments, um
ein Verständnis dafür zu schaffen. Ziel ist es, ihnen im Verlauf der Gruppensitzungen
zu ermöglichen, dass sie sich ihrer selbst und ihrer Leistungen bewusst werden und
bereits Gelerntes in den Alltag integrieren. Um dies zu erreichen, nutzen wir Alltagssituationen
der Gruppenteilnehmer als Beispiele, um sie gemeinsam zu analysieren und Stärken und
Herausforderungen herauszuarbeiten [5]–[7]. Außerdem erhalten die Klienten während der ersten Einheit ein „Recovery-Heft“,
in das sie Erkenntnisse und Erfahrungen aus Therapie und Alltag eintragen können (ABB.).
Der Empowerment-Ansatz fördert die Kommunikation der Klienten untereinander.
Zum Einstieg jeder Einheit findet die Gruppe aus einem Themenpool das Stundenthema,
zum Beispiel „Positive Dinge in meinem Alltag“. Gedanken und Meinungen dazu diskutieren
die Klienten stets im Plenum. Anschließend notiert jeder in seinem Recovery-Heft,
was das Thema für ihn bedeutet. Am Ende jeder Stunde gibt es genügend Raum für die
Reflexionsarbeit. Hierbei sind besonders die Fragen nach den positiven Eindrücken
der Stunde wichtig und was sich die Teilnehmer mitnehmen. Die Positivität und Ressourcenorientierung
haben im Empowerment einen hohen Stellenwert. Daher sollen die Klienten die Einheit
mit einer guten Rückmeldung verlassen.
In dieser Empowerment-Gruppe kommen keine handwerklichen Medien zum Einsatz, und ich
als Ergotherapeut gebe relativ wenig Struktur vor. Der Fokus liegt auf Gesprächen
und dem Erfahrungsaustausch der Teilnehmer. Sie bestimmen die Dynamik und Kommunikation
der Gruppe.
Klienten unterstützen sich gegenseitig
Klienten unterstützen sich gegenseitig
Während der gesamten Zeit steht der gegenseitige Austausch im Mittelpunkt. Die Klienten
sollen als Experten auftreten und mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen andere unterstützen.
Dies ist ein zentraler Punkt des Empowerments. Ich als Therapeut trete dabei in den
Hintergrund und bin in der Rolle des Coaches beratend tätig.
Meine Wortmeldungen beschränken sich auf punktuelle Unterstützungen bei der gegenseitigen
Kommunikation. Oder ich helfe bei komplizierten Themen durch bildhafte Sprache: „Stellen
Sie sich vor, Ihr Leben ist eine Zugfahrt und Ihre erlebte Krise ist eine Notbremsung.
In Ihrem Abteil liegen plötzlich alle Gepäckstücke durcheinander und alle Personen,
die mit Ihnen auf der Reise waren, ebenso. Um weiterfahren zu können, müssen Sie zunächst
Ordnung in Ihr Abteil bringen. Dazu fragen Sie sich, welche Gepäckstücke jetzt besonders
wichtig für Sie sind und welchen Ballast Sie momentan zurücklassen können. Genauso
stellen Sie sich diese Frage bei Ihren Mitreisenden: Wer ist für mich zurzeit ein
förderlicher Mitfahrer und wer muss erst mal aussteigen? Vergessen Sie nicht, dass
Personen später, wenn der Zug wieder stabil fährt, zusteigen dürfen.“
Das Recovery-Heft umfasst zehn Seiten, auf denen Klienten unter anderem ihre Motivatoren
für die Therapie, Ziele für den Tagesklinikaufenthalt oder positive Situationen aus
ihrem Alltag notieren. Das Heft begleitet sie während ihrer gesamten Behandlung.
Abb.: A. Behringer
Das Wichtigste in der Empowerment-Gruppe ist die kontinuierliche Reflexion. Diese
Aufgabe liegt nicht nur beim Therapeuten, sondern auch bei den Gruppenmitgliedern.
Sie erarbeiten die theoretischen Grundlagen, um Unsicherheiten zu klären und neue
Strategien zu entwickeln. Es hat sich gezeigt, dass es für manche Klienten schwierig
ist, plötzlich mit einer Gruppe anstatt mit einem Therapeuten zu kommunizieren. Dies
ist zugleich eine Herausforderung für mich als Therapeut, sie dazu zu bringen, mich
als gleichberechtigtes Mitglied wahrzunehmen und nicht als Gruppenleiter.
Information ist der Schlüssel
Information ist der Schlüssel
Klienten mit psychischen Erkrankungen zeigen bezüglich ihres Zustandes häufig ein
Schwarz-Weiß-Denken: Entweder sind sie krank oder gesund. Dieses birgt die Gefahr,
dass sie kleine Fortschritte nicht erkennen und annehmen. Häufig haben sie einen sehr
kritischen und defizitorientierten Blick, wodurch eine negative Denkweise auf ihr
Selbstbild entsteht (Selbststigmatisierung). Deshalb ist es wichtig, sie über ihre
Diagnose und mögliche Genesungswege zu informieren. Ein weiteres Ziel des Gruppenangebots
ist es, den Klienten zu vermitteln, dass sie neben ihren Symptomen auch noch Mensch
sind und dass sie nicht nur aus ihrer Erkrankung bestehen. Hierbei erarbeite ich mit
den Gruppenteilnehmern auch den Begriff der Salutogenese. Wir setzen uns mit gesundheitsfördernden
Faktoren auseinander und besprechen, wie die Klienten diese Faktoren in den Alltag
integrieren können.
Nachdem ich sie ausreichend über ihre Erkrankung informiert habe, müssen die Klienten
genügend Raum haben, um eigene Entscheidungen zu fällen. Natürlich heißt das nicht,
dass wir Therapeuten jeden Entschluss einfach akzeptieren. Es muss unsere professionelle
Haltung sein, Klienten bei der Entscheidungsfindung und Planung ihrer Veränderungen
zu unterstützen und, wenn von ihnen erlaubt, auch konstruktive Kritik anzubringen.
Erst wenn sie bereit sind, aus eigener Entscheidung heraus zu handeln, wirkt die Therapie
nachhaltig.
Therapie ist nachhaltig, wenn Klienten ihre Entscheidungen selbstbestimmt treffen.
Grenzen des Empowerments
Verfolgt man in der Ergotherapie den Empowerment-Ansatz, ist damit nicht gemeint,
dass man als Fachperson keine Entscheidungen treffen soll und alles dem Klienten überlässt.
Der Wunsch nach Mit- oder Selbstbestimmung ist bei jedem Menschen anders ausgeprägt
[1]. Nicht alle Klienten möchten für sich selbst entscheiden. Das kann verschiedene
Gründe haben: Alter, Herkunft, bisherige Therapieerfahrungen, Zufriedenheit und viele
mehr. Wichtig ist, dass keine Haltung entsteht, die dem Klienten suggeriert „Du kannst
machen, was du willst“, denn letztlich wird er dann alleine gelassen. Der Behandler
muss sich immer wieder fragen, ob er die richtige Balance zwischen Verantwortungsübernahme
und dem Wunsch nach Selbstbestimmung findet.
Vorbilder aus anderen Ländern
Vorbilder aus anderen Ländern
Ich bin der Meinung, dass sich ein Wandel in der psychiatrischen Klinik immer stärker
vollzieht und defizitorientierte Systematiken aufbrechen. Leider beginnen in Deutschland
viele Kliniken erst damit. Es gibt europäische Beispiele, die uns zeigen, wie Empowerment/Recovery
im Berufsalltag aussehen könnte. Darunter sind verschiedene Konzepte, bei denen Klienten
stark in den Behandlungsalltag eingebunden sind und somit eng mit den Fachpersonen
zusammenarbeiten.
Hierzu zählt beispielsweise die Station Lüthi einer allgemeinpsychiatrischen Aufnahmestation
der Universitären Psychiatrischen Dienste in Bern. Dort entstand unter anderem ein
Ansatz, der Klienten in die klinische Arbeit und die kontinuierliche Reflexion der
Mitarbeiter einbezieht. Das geschieht zum Beispiel in Form von Trialogen (Behandler
– Klient – Angehörige). Außerdem nehmen sie als Klientenvertretungen an Teambesprechungen
teil.
Auch in England gibt es große berufspolitische Projekte, um den Empowerment-Ansatz
zu fördern. So wurde 2011 „ImROC” (Implementing Recovery through Organizational Change)
ins Leben gerufen. Dabei handelt es sich um ein nationales Projekt, in dem eine recoveryorientierte
Haltung der Mitarbeitenden in psychosozialen Einrichtungen durch Schulungen und Workshops
gefördert wird. Einen großen Teil trägt die EX-IN-Bewegung bei (ERGOPRAXIS 2/12, S.
36): Betroffene, die mit ihrer Symptomatik einen stabilen Umgang gefunden haben, sind
als Mitarbeiter an Kliniken angestellt, um zum Beispiel in Teamsitzungen als Experten
ihrer Erkrankung zu fungieren. Sie sind sozusagen „das Ohr des Klienten“ in der Besprechung
und leiten auch Therapieeinheiten an.
Selbstwert und Selbstbewusstsein der Klienten gesteigert
Selbstwert und Selbstbewusstsein der Klienten gesteigert
Durch den Einsatz des Empowerment-Ansatzes habe ich die Erfahrung gemacht, dass Klienten
dankbar und offener im Austausch sind. Sie berichten davon, dass sie aktiver geworden
sind, weil sie sich mehr zutrauen. Leider können diese Aussagen noch nicht wissenschaftlich
belegt werden. Aber alleine die Rückmeldung, dass Klienten durch die Bearbeitung ihrer
Stärken aktiver werden, zeigt eine positive Entwicklung ihres Selbstbewusstseins und
des Selbstwerts.
Empowerment beginnt im Kleinen bei jedem Einzelnen, sie ist die Haltung, mit der wir
Klienten begegnen. Es braucht professionell Tätige, die sich auf die Lebensbereiche
des Gegenübers einlassen und eine Gleichberechtigung zwischen Professionellen und
Betroffenen zulassen [8]. Je mehr sie diese Haltung annehmen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich die
Haltung auch auf politischen Ebenen ändert. Schaut man nach England, so sind dort
Recovery-Ansätze in den Richtlinien zur psychischen Gesundheit und somit auch das
Klienten-Empowerment in den entsprechenden Strategiepapieren verankert. Eine solche
Entwicklung wäre auch für Deutschland wünschenswert.