Fallbeispiel
Einsatzmeldung
Es ist kurz vor 24 Uhr an einem sommerlichen Freitagabend, als die Besatzung des RTW
zu einem Einfamilienhaus in das nahe gelegene Wohngebiet gerufen wird. Die Leitstelle
meldet eine jugendliche Patientin mit akuter Atemnot.
An der Tür wartet bereits eine junge Frau und bringt das Team aufgeregt in das großzügige
Wohnzimmer im Erdgeschoss. Auf dem Weg erzählt sie, sie habe gemeinsam mit ein paar
„Mädels“ gefeiert und die letzte Staffel von „Game of Thrones“ angeschaut. Ihre Eltern
seien auf einer Städtetour in London. Der Abend sei ganz ruhig verlaufen, bis ihre
Freundin plötzlich über Schwindel und zunehmende Atemnot geklagt habe. Die Symptome
hätten rasch zugenommen und die Freundin habe sich nicht mehr beruhigen lassen. Daraufhin
habe sie den Rettungsdienst verständigt.
Situation vor Ort
Auf einem Sessel sitzt vornübergebeugt die junge Patientin. Sie wird von ihrer besten
Freundin betreut. Die Patientin atmet schnell und tief, die Hände scheinen verkrampft.
Um sie herum stehen 4 weitere jugendliche Frauen und sind sehr aufgeregt.
Um etwas Ruhe in die Situation zu bringen, werden die jungen Frauen gebeten, in der
Küche des Hauses zu warten. Die beste Freundin bleibt auf Wunsch der Patientin bei
ihr. Die Anamnese gestaltet sich schwierig, da die Patientin sehr ängstlich wirkt
und von Weinkrämpfen geschüttelt wird. Beiden Kollegen fällt ein intensiv aromatischer,
süßlicher Geruch im Wohnzimmer auf. Da sich das Team seit langen Jahren gut kennt,
genügt ein kurzer Blickkontakt, das Deuten auf die Nase und beide wissen Bescheid.
Fremdanamnese
Während sich eine Kollegin um die Patientin kümmert, erhebt der Kollege bei der besten
Freundin eine Fremdanamnese. Er nutzt dazu das SAMPLER+S-Schema.
S-ymptome
Die Patientin heißt Anna und ist 16 Jahre alt. Sie habe heute zum ersten Mal geraucht.
Nach ein paar tiefen Inhalationen habe sie dann plötzlich über Schwindel geklagt.
Gemeinsam hätten sie versucht, Anna zu beruhigen. Diese sei aber immer panischer geworden.
Immer wieder habe sie gesagt, sie bekomme keine Luft mehr. Dabei habe sie tief und
schnell geatmet. Die Symptome hätten dann rasch zugenommen, Anna habe zudem über ein
Taubheitsgefühl im Lippenbereich und später über Krämpfe in den Händen geklagt. Alle
Bemühungen, Anna zu beruhigen, seien fehlgeschlagen. Seit einigen Minuten wimmere
und weine sie nur noch.
A-llergien
Es sind keine Allergien bekannt.
M-edikamente
Eine regelmäßige Einnahme von Medikamenten ist der Freundin ebenfalls nicht bekannt.
Auf Nachfrage gibt sie an, Anna nehme regelmäßig die Antibabypille. Die Patientin
nickt bestätigend.
P-atientengeschichte
Von Vorerkrankungen weiß die Freundin nichts.
L-etzte Mahlzeit, …
Bei dem Fest habe Anna gemeinsam mit den anderen ein paar Stücke von der selbstgemachten
Pizza gegessen. Das sei ungefähr 2 Stunden her. Auch hätten sie über den Abend ein
paar Gläschen Prosecco getrunken.
E-reignis
Der Kollege kommt noch einmal auf das Rauchen der Zigaretten zu sprechen. Die beste
Freundin gibt sich wortkarg. Erst nach erneuter Nachfrage und dem Ansprechen auf den
Geruch nach Marihuana räumt sie ein, sie hätten heute Abend gemeinsam „gekifft“. Anna
habe noch nie in ihrem Leben geraucht, aber heute habe sie unbedingt probieren wollen.
Es seien allerdings nur wenige Inhalationen gewesen – dann habe schon der Schwindel
eingesetzt. Bei den anderen sei alles normal gewesen, nur Anna habe so stark reagiert.
R-isikofaktoren
Keine bekannt.
S-chwangerschaft
Auf die Frage nach einer Schwangerschaft schüttelt Anna den Kopf.
ABCDE-Schema
Während sich der Kollege um die Fremdanamnese kümmert, verschafft sich die Kollegin
einen kurzen Überblick über die Vitalwerte. Dazu nutzt sie das ABCDE-Schema.
A-irway
Die Atemwege sind frei. Lediglich das Sprechen bereitet der Patientin Schwierigkeiten.
Ein dezenter alkoholischer Foetor ist wahrnehmbar.
B-reathing
Die Atmung ist mit einer Atemfrequenz von über 40 Atemzügen pro Minute sehr schnell.
Die Atemzüge sind regelmäßig und tief. Der Brustkorb hebt und senkt sich seitengleich.
Beidseits ist ein unauffälliges vesikuläres Atemgeräusch zu hören. Die angelegte Pulsoxymetrie
zeigt einen SpO2 von 98 %. Die Kollegin versucht, beruhigend auf Anna einzuwirken, und leitet sie
zum langsamen Atmen an.
C-irculation
Der periphere Puls an der Arteria radialis ist gut tastbar und mit einer Frequenz
von 120 Schlägen pro Minute leicht tachykard. Die Rekapillarisierungzeit des Nagelbetts
liegt unter 2 Sekunden. Der Blutdruck ist mit 110/70 mm Hg unauffällig.
D-isability
Anna ist wach und ansprechbar und wirkt neurologisch unauffällig. Ihre Pupillen sind
isokor und mittelweit, sie reagieren prompt auf Licht. Das Blutzuckertestgerät zeigt
einen BZ von 130 mg/dl.
E-xposure
Aufgrund der Situation wird die Patientin für eine Inspektion nicht entkleidet. Die
Kollegin verschafft sich lediglich einen Überblick, achtet allerdings besonders auf
Hinweise für weiteren Drogenkonsum (z. B. Einstichstellen). Es finden sich außer dem
Taubheitsgefühl im Mundbereich und den verkrampften Handgelenken keine weiteren pathologischen
Befunde.
Eine Übersicht über rettungsdienstliche Merkhilfen und Akronyme haben wir für Sie
auf dem Plakat „Fit für den Einsatz? Das sollten Sie wissen!“ zusammengefasst. Vom
SSSS-Schema über die SAMPLER-Anamnese bis zum ABCDE-Schema bietet Ihnen das Plakat
eine gute Übersicht zur Vorbereitung auf Ihre Ergänzungsprüfung. Das Plakat können
Sie und Ihre Kollegen auf unserer Website bestellen.
10-für-10-Prinzip
(Quelle: CRM-Leitsätze nach Rall & Gaba in Millerʼs Anesthesia 7th edition)
Das Team nimmt sich kurz Zeit, die Untersuchungsergebnisse und die weiteren Maßnahmen
zu besprechen. Als Verdachtsdiagnose wird ein Hyperventilationssyndrom aufgrund einer
starken psychischen Erregung angenommen. Andere Differenzialdiagnosen für eine Hyperventilation
können entweder eindeutig ausgeschlossen werden (z. B. Hyperglykämie) oder sind nicht
wahrscheinlich (z. B. Leberinsuffizienz).
Therapie
Da die Patientin noch nicht auf die Beruhigung angesprochen hat, entscheidet sich
das Team für eine Rückatmung von Kohlendioxid. Dazu nutzt es eine Venturimaske (Sauerstoffmaske
mit Reservoir und Nichtrückatemventil). Für den Einsatz an der Patientin entfernt
es den Gummipad, der das Einströmen der Ausatemluft in das Reservoir verhindern soll
([Abb. 1]). Zur Beruhigung der Patientin wird ein Sauerstoff-Flow von 2 l pro Minute eingestellt.
Abb. 1 Umbau einer Venturimaske zur Hyperventilationsmaske.
Auch nach 5 Minuten bleiben die Symptome bestehen. Das Team beschließt, einen venösen
Zugang zu legen, und appliziert 1 mg Dormicum (Midazolam). Kurz darauf trifft der
Notarzt ein. Er entscheidet sich für eine Repetition von 1 mg Dormicum (Midazolam).
Die Symptome bessern sich zusehends und die Patientin wird in die Kinderklinik transportiert.
Der Algorithmus
Abweichend von den vorherigen Beiträgen kann das Team im beschriebenen Fall auf keinen
Standardalgorithmus zurückgreifen. Da diese sich in erster Linie mit der Anwendung
von erweiterten Maßnahmen durch Notfallsanitäter auseinandersetzen, gab es wohl noch
keinen Grund, für das Hyperventilationssyndrom einen separaten Algorithmus zu entwerfen.
Nicht selten reichen die Basismaßnahmen, wie beruhigender Zuspruch, Atemanleitung
und bei Bedarf Rückatmen, nicht aus, und es wird eine medikamentöse Sedierung notwendig.
Es bleibt abzuwarten, ob die Verantwortlichen in nächster Zeit die bestehenden Algorithmen
um den Algorithmus zur Behandlung eines Hyperventilationssyndroms ergänzen. In Ermangelung
eines Standardalgorithmus haben wir einen Musteralgorithmus entworfen, mit dem unser
Team arbeitet ([Abb. 2]).
Abb. 2 Musteralgorithmus Hyperventilationssyndrom.
Sollten Sie in Ihrem Rettungsdienstbereich ein abweichendes Konzept nutzen, strukturieren
Sie das Fallbeispiel anhand des bei Ihnen eingesetzten Algorithmus und arbeiten Sie
die Unterschiede heraus.
Marihuana
Sehr früh bemerkt das Team den aromatisch-süßlichen Geruch und vermutet, dass die
jungen Frauen Marihuana geraucht haben. Die Menge, die die Patientin nach Angaben
der besten Freundin inhaliert hat, ist augenscheinlich gering.
Die starke psychische Reaktion der Patientin lässt sich durch den Erstkonsum von Nikotin
und THC (Tetrahydrocannabinol) erklären. Während Nikotin bei der ersten Anwendung
Symptome wie Schwindel, Übelkeit oder eine Tachykardie verursachen kann, führt THC
zur Veränderung des Fühlens, Denkens und der Wahrnehmung der Konsumenten. Anwender
beschreiben zudem ein verändertes Körper- und Gemeinschaftserleben. In dem oben beschriebenen
Fall empfindet die junge Patientin diese Wirkungen als bedrohlich und beängstigend
und beginnt zu hyperventilieren.
Karpfenmund, Ameisenkribbeln und Pfötchenstellung
Mit anhaltender Hyperventilation beginnen die Symptome einer respiratorischen Alkalose
die Patienten zusätzlich zu verängstigen. Schnell geraten sie in einen Teufelskreis
aus zunehmender Angst, anhaltender Hyperventilation und sich verstärkenden Missempfindungen.
Das Team schickt aus diesem Grund die anderen Gäste in die Küche nebenan und versucht,
durch Entspannung der Situation und beruhigenden Zuspruch den Teufelskreis zu durchbrechen.
Bei der Atemanleitung des Patienten ist es wichtiger, das Atemzugvolumen (AZV) zu
reduzieren als die Atemfrequenz zu verlangsamen. Aufgrund des Totraumvolumens (ca.
2 ml/kg KG) kann auch bei einer vermeintlich schnellen Atmung und einem niederen AZV
dem verstärkten Abatmen von CO2 entgegengewirkt werden.
Differenzialdiagnose
Das sich manifestierende Problem beim Hyperventilationssyndrom ist das verstärkte
Abatmen von CO2 und damit verbunden die Entwicklung einer respiratorischen Alkalose. Vor dem Versuch
der Rückatmung von CO2 müssen zwingend organische Ursachen (z. B. diabetische Ketoazidose, SHT, Vergiftungen
etc.) ausgeschlossen werden.
Durch die strukturierte Anamneseerhebung mithilfe des SAMPLER+S-Schemas vermeidet
das Team diagnostische Fallgruben. Da Anna das Sprechen schwerfällt, interviewt der
Kollege die beste Freundin. Immer wieder versichert er sich zudem bei der Patientin,
die mit Nicken und Kopfschütteln reagiert.
Rückatmen
Für das Rückatmen nutzt das Team eine umgebaute Venturimaske. Vor dem rechtlichen
Hintergrund eines veränderten Medizinprodukts kann dies durchaus kritisch diskutiert
werden. Steht dem Team keine spezielle Hyperventilationsmaske zur Verfügung, ist dies
allemal zweckdienlicher als die Verwendung einer handelsüblichen Plastiktüte.
Zwar findet man in der Literatur immer wieder den Hinweis auf die Verwendung einer
Plastiktüte zur Rückatmung, doch birgt diese das Risiko, dass der Patient hypoxisch
werden kann – insbesondere dann, wenn die Tüte zu dicht geschlossen wird und sich
der Sauerstoffgehalt bei jedem Atemzug um etwa 4 % reduziert. Um eine drohende Hypoxie
zu vermeiden, muss darauf geachtet werden, regelmäßig Frischluft zuzuführen.
Die Gabe von Sauerstoff bei einem Hyperventilationssyndrom ist nicht kontraindiziert. Der Patient hat zwar einen Mangel an CO2, doch die Gabe von Sauerstoff verschärft die Situation nicht weiter. Im Gegenteil
kann die moderate Gabe von Sauerstoff den Patienten in seinem Gefühl einer Atemnot
nachhaltig beruhigen.
Mit dem Rückatmen von CO2 werden die physiologischen Reaktionen auf das fehlende CO2 langsam reduziert. Als Faustregel gilt: Die Symptome verschwinden etwa so schnell,
wie sie aufgetreten sind.
Sedierung
Da die Symptome nach 5 Minuten nicht zurückgegangen sind, beschließt das Team, die
Therapie medikamentös mit Midazolam zu unterstützen. Ein Transport in die Klinik mit
Überwachung ist aus diesem Grund in jedem Fall anzuraten. Im beschriebenen Fall ist
die Patientin zudem minderjährig, was einen Verbleib bei den ebenfalls minderjährigen
Freundinnen ausschließt.
Prüfungsfragen
NOTFALLMEDIZIN
Erläutern Sie den physiologischen Transport von CO2 im Blut. Beschreiben Sie die pathologischen Vorgänge bei einem Hyperventilationssyndrom
([Abb. 3]).
Abb. 3 Transport von CO2.
In den Mitochondrien der Zellen werden Nährstoffe zusammen mit Sauerstoff verstoffwechselt.
Neben dem Energieträger ATP und einer geringen Menge H2O entsteht als Abfallprodukt CO2. Das CO2 diffundiert in das Blutgefäßsystem und von dort in die Erythrozyten (90 %). 10 %
des CO2 werden im Plasma frei transportiert ([Abb. 3a]).
In Erythrozyten werden 20 % des CO2 direkt an das Hämoglobin gebunden. Die verbleibenden 70 % werden unterstützt durch
das Enzym Carbonanhydrase (CA) über das Zwischenprodukt H2CO3 (Kohlensäure) in HCO3
– (Bikarbonat) und H+ (Wasserstoffion) überführt. H+ wird als HHb am Hb (Hämoglobin) gepuffert. Rund ein Drittel des HCO3
– bindet direkt an das Hb, zwei Drittel werden aus den Erythrozyten ausgeschleust ([Abb. 3b]).
Das Ausschleusen von HCO3
– geschieht über die Zellmembran des Erythrozyten im Austausch gegen Cl– (Chlorid). Dieser Vorgang wird auch als Hamburger-Shift bezeichnet ([Abb. 3c]).
Im kapillaren Endstrombereich der Lungen kehrt sich der Vorgang wieder um. Am Ende
kann so das CO2 in die Lungen diffundieren und abgeatmet werden ([Abb. 3d]).
Bei einem Hyperventilationssyndrom wird mehr CO2 abgeatmet, als durch den Stoffwechsel entstehen kann. Das zusätzliche CO2 wird aus HCO3
– (Bikarbonat) und H+ (Wasserstoffion) gewonnen. Durch die Bindung des freien H+-Ions sinkt die Menge an H+ im Blut, der pH-Wert steigt (Alkalose) ([Abb. 4]).
Abb. 4 pH-Wert.
Anfangs wird der Verlust an H+ durch Abspaltung von H+ aus den Proteinpuffern ausgeglichen. Die nun freiwerdenden Bindungsstellen werden
durch freie Ca++-Ionen ersetzt. Diese beeinflussen an der Zellmembran der Muskelzellen den Einstrom
von Na+ und damit die Erregbarkeit der Zelle. Kommt es zu einem Ca++-Mangel, sind die Zellen leichter erregbar, und es kommt zu Muskelkontraktionen und
Krämpfen. Diesem Umstand sind die typischen Symptome wie Kribbel- und Taubheitsgefühl
und die Pfötchenstellung geschuldet.
Auf den ersten Blick erscheint die Gabe von Ca++ zielführend. Allerdings lindert diese nur die Symptome. Spätestens nach einer Normalisierung
des Zustands und damit verbunden des Säure-Basen-Haushalts muss sich der Patient mit
einem Überangebot an Ca++ herumschlagen.
Mögliche weitere Fragen:
-
Beschreiben Sie typische Symptome bei einem Hyperventilationssyndrom.
-
An welche Differenzialdiagnosen müssen Sie denken?
-
Beschreiben Sie mögliche Ursachen für eine metabolische Alkalose.
KOMMUNIKATION
Gerade beim Hyperventilationssyndrom kommt es rasch zu einer sich aufschaukelnden
Angst-Symptome-Spirale. Beschreiben Sie diesen Teufelskreis bezogen auf das obige
Fallbeispiel.
Im konkreten Fall interpretiert der Körper die körperlichen Symptome als Reaktion
auf den Erstkonsum von Nikotin und THC als Gefahr. Die Patientin kann die Symptome
nicht deuten und wird ängstlich. Das Gefühl der Angst verursacht einen Anstieg der
Atemfrequenz und der Atemtiefe. Es wird verstärkt CO2 abgeatmet und eine respiratorische Alkalose entsteht.
Anfangs sind die Symptome noch moderat (z. B. leichtes Kribbeln im Mundbereich), sie
werden allerdings von der Patientin als bedrohlich wahrgenommen. Die zusätzlichen
Symptome verstärken nun die Gedanken an eine latente Gefahr, die Angst nimmt weiter
zu, und es kommt zu einer sich aufschaukelnden Angst-Symptome-Spirale ([Abb. 5]).
Abb. 5 Teufelskreis bei Angstanfällen nach Margraf & Ruhmland (1996).
Mögliche weitere Fragen:
-
Beschreiben Sie mögliche Ängste der jungen Frauen, wenn die Polizei zu dem Einsatz
hinzugerufen wird.
-
Reflektieren Sie die Bedürfnisse der jungen Frauen.
RAHMENBEDINGUNGEN
Alle anwesenden jungen Frauen sind unter 18 Jahren. Setzen Sie sich kritisch mit der
besonderen Problematik für das Einsatzteam auseinander. Welche Möglichkeiten stehen
dem Team zur Verfügung?
In Deutschland gelten Personen unter 18 Jahren als minderjährig. Minderjährige haben
eingeschränkte Rechte und Pflichten und stehen unter besonderem gesetzlichem Schutz.
Im konkreten Fall befindet sich kein Erziehungsberechtigter am Einsatzort. Die anwesenden
Personen sind minderjährig, leicht alkoholisiert und haben Marihuana konsumiert.
Ein Hinzuziehen der Polizei allein aufgrund des Marihuanas ist nicht zwingend geboten.
Hier gilt es abzuwägen, welches Rechtsgut – Schweigepflicht versus Verhinderung einer
Straftat – schwerer wiegt. Viel problematischer erscheint es, die Jugendlichen unbetreut
zurückzulassen. Die weitere Betreuung durch mindestens einen volljährigen Erziehungsberechtigten
ist unumgänglich.
Für alle Beteiligten am günstigsten wäre die Verständigung der Eltern; ggf. ist ein
Elternteil bereit, die Betreuung bis zum Eintreffen der anderen zu übernehmen. Im
Zweifel muss die Polizei bis zur Klärung hinzugezogen werden.
Mögliche weitere Fragen:
-
Für den oben beschriebenen Fall steht kein gesonderter Algorithmus zur Verfügung.
Kann der Notfallsanitäter trotz der fehlenden SOPs Midazolam verabreichen? Begründen
Sie Ihre Antwort.
-
Das Team hat keine Hyperventilationsmaske zur Verfügung und nutzt daher eine leicht
veränderte Venturimaske. Welche rechtliche Problematik könnte dabei bestehen?
von Dr. med. Thomas Ahne, Facharzt für Anästhesiologie mit Zusatzbezeichnung Notfallmedizin
Ein Patient mit einem Hyperventilationssyndrom ist eine rettungsdienstliche Routinesituation.
Meiner Ansicht nach kann man hier gar nicht von einer richtigen Notfallsituation sprechen,
da keine Lebensbedrohung oder anhaltender gesundheitlicher Schaden befürchtet werden
muss. Dennoch ist das Ereignis sehr unangenehm für den Betroffenen bzw. die Betroffene
und erscheint für Laien bedrohlich, sodass ich einen Rettungsdiensteinsatz für vertretbar
halte.
Jedoch kann die Abarbeitung einer gemeldeten Hyperventilation auch eine große Herausforderung
darstellen, nämlich wenn die Verdachtsdiagnose nicht stimmt. Aufgrund der Prägung
durch das Einsatzstichwort fällt es nicht leicht, auch die Differenzialdiagnosen suffizient
auszuschließen bzw. das Syndrom lediglich als Symptom einer anderen, vielleicht schwerwiegenden
Erkrankung zu erkennen.
Im geschilderten Fall kam es im Umfeld der Patientin auch zum Konsum von Cannabis.
Dieser ist mittlerweile bei uns gesellschaftlich geduldet und daher weit verbreitet.
Auf dem Vormarsch sind jedoch ebenfalls verschiedenste synthetische Rauschmittel,
die oftmals auch verharmlost werden („legal highs“). Die potenziell bedrohlichen Auswirkungen
des Konsums dieser Substanzen können leicht unterschätzt werden. So kann schnell ein
Hyperventilationssyndrom als Erkrankungsbild missgedeutet werden, obwohl ein behandlungs-
oder zumindest überwachungspflichtiges Toxidrom besteht.
So oder so muss sich das Behandlungsteam darauf konzentrieren, den Einsatz sauber
abzuarbeiten, ohne sich den eigenen Bewertungs- und Wertvorstellungen zur Situation
hinzugeben. Die Notwendigkeit eines erneuten Rettungsdiensteinsatzes wäre noch das
kleinere Problem, aber eine durch die Missinterpretation entstehende Behandlungsverzögerung
mit Patientenschaden wäre eine wahre Katastrophe.
Häufig wird in solchen Situationen schnell der Wunsch nach einer Sedierung laut, was
in meinen Augen kritisch zu betrachten ist – denn dann ist auf jeden Fall eine Vorstellung
im Krankenhaus zur Überwachung nach Sedation notwendig, mit den daraus resultierenden
wirtschaftlichen Folgen (oftmals über 1000 €). Viel zielführender erscheinen mir da
doch die sichere Beherrschung der Basismaßnahmen und ein empathischer Umgang mit dem
Patienten bzw. der Patientin sowie den Umstehenden.