physiopraxis 2020; 18(01): 56-57
DOI: 10.1055/a-1028-3791
Perspektiven
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Willkommen, Digitalisierung! – Chancen für die Physiotherapie

Shari Langemak
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
20. Dezember 2019 (online)

 

„Digital versorgt – gesünder vernetzt“ lautet der Slogan des Digitale-Versorgung-Gesetzes, das Gesundheitsminister Jens Spahn 2019 auf den Weg gebracht hat. Aber stimmt das? Führt Digitalisierung zu einer besseren Versorgung? Dr. Shari Langemak gibt Einblicke in die Veränderungen, die Apps und Telerehabilitation mit sich bringen. Ihr Appell an alle Physiotherapeuten: Nutzt die Digitalisierung!


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Dr. Shari Langemak

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Dr. Shari Langemak ist Ärztin und Digital-Health-Strategin. Als Director Innovation der cereneo Schweiz AG und als CEO der RelearnLabs GmbH setzt sie sich dafür ein, dass digitale Innovationen schnellstmöglich bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen ankommen.

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Wearables
wie das Sensorsystem 8sense, sind tragbare Computer-systeme, die Verhalten oder physiologische Parameter wie die Herzfrequenz messen.Abb.: 8sense

Digitalisierung zum Wohle des Patienten – das ist spätestens seit Mai 2019 ein Thema, mit dem sich alle Gesundheitsdienstleister auseinandersetzen müssen. Denn da verkündete Bundesgesundheitsminister Jens Spahn seine Pläne für das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG). Dazu gehört, dass Ärzte künftig digitale Gesundheitsanwendungen verschreiben können. Krankenkassen sollen in naher Zukunft somit genauso selbstverständlich die Kosten für Gesundheits-Apps wie für Medikamente oder Physiotherapie übernehmen.

Während Politik und Gesundheitsdienstleister lange Zeit an der Wirksamkeit dieser neuen Therapieoptionen zweifelten und vor möglichen Gefahren warnten, ist jetzt fast überall ein neuer Optimismus zu spüren. Mit der rasanten Weiterentwicklung des Digital-Health-Sektors und der steigenden Akzeptanz unter den Patienten entfalten Gesundheits-Apps ihr tatsächliches Potenzial: Sie unterstützen einen patientenzentrierten Behandlungsansatz, der Patienten kontinuierlich begleitet und so nicht nur die Genesung fördert, sondern auch Folgeerkrankungen verhindern kann.

In der Rehabilitation bedeutet das vor allem, dass Patienten dazu ermutigt werden, sich mehr zu bewegen und mehr zu trainieren – auch außerhalb der Praxis. Der digitale Schrittzähler ist nur eines der Tools, die Patienten darin unterstützen, dieses Ziel zu erreichen. Mittlerweile gibt es aber auch Sensoren, die nicht nur die Quantität der Bewegungen, sondern zunehmend auch ihre Qualität aufzeichnen und bewerten können. Sensorgebundene Systeme wie Gait Up und videogebundene Systeme wie Lindera ermöglichen zunehmend bessere Bewegungsanalysen auch außerhalb des Ganglabors. Derartige Systeme werden immer präziser und einfacher in der Anwendung. Beides ist entscheidend für den Einsatz beim Eigentraining zu Hause. Zudem könnten Sensoren, die dauerhaft als Wearable getragen werden, kontinuierliches Feedback im Alltag geben. So hat Gait Up mit dem Physilog 5 Sensor jüngst damit begonnen, Bewegungstracking für den Alltag anzubieten. Ein anderes Beispiel ist das Start-up 8sense, das sich auf Patienten mit Rückenschmerzen spezialisiert hat. Ihr Wearable unterstützt den Nutzer dabei, eine gesunde Haltung im Alltag einzunehmen. Derartige Sensoren sind natürlich nur erfolgversprechend, wenn sie regelmäßig getragen werden – ein maßgebliches Problem im Bereich der Heimanwendung. Die meisten Sensoren für die Anwendung zu Hause schließen deshalb eine patientenfokussierte App mit ein, die Patienten ein direktes Feedback gibt, den Behandlungsfortschritt dokumentiert und so die Adhärenz steigert.

Apps zur Sekundärprävention

Apps sind aber auch für die Sekundärprävention hilfreich, zum Beispiel für Patienten nach einem Schlaganfall. Bei ihnen liegen nicht selten Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Übergewicht oder Diabetes vor, die allein, ohne Unterstützung von außen, oft schwer zu kontrollieren sind. Digitale Coaches wie das Start-up Omada Health helfen hier, indem sie die Lebensstiländerung aktiv begleiten. Derartige Programme klären Patienten über die Risiken eines ungesunden Lebensstils auf, dokumentieren den Therapieverlauf und motivieren sie dazu, ungesunde Angewohnheiten langfristig abzulegen. Ein Coaching, das in der ärztlichen oder physiotherapeutischen Praxis aufgrund des Zeitmangels oft zu kurz kommt.


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Digitale Rehabilitation

Natürlich werden Therapeuten und Ärzte durch Apps und Sensoren nicht ersetzt – ganz im Gegenteil. Die digitalen Systeme sinnvoll einzusetzen, funktioniert nur mit einer professionellen Begleitung. Und damit wachsen die Verantwortung und das Aufgabenspektrum der Therapeuten. Künftige Therapiekonzepte werden sich nicht mehr auf das Training in der Praxis allein konzentrieren, sondern die digitale Rehabilitation zu Hause miteinschließen. Dazu gehört zum Beispiel, dass Therapeuten ihre Patienten anleiten, wie sie die digitalen Systeme verwenden, dass sie die Sensordaten auswerten und ein digital gestütztes Trainingsprogramm für ein Heimtraining erstellen. Bei Letzteren unterscheidet man zwei Arten: Übungen, die der Patient selbstständig, möglicherweise unterstützt durch Sensoren-Feedback und Videoanleitung, ausführt und die telemedizinische Rehabilitation, bei der ein Physiotherapeut live zum Training zugeschaltet wird.


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Chancen der Telemedizin

In Deutschland etablieren sich zunehmend die telemedizinischen Anwendungen. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass in den vergangenen zwei Jahren gesetzliche Hürden beseitigt wurden, allen voran der Beschluss zur Lockerung des Fernbehandlungsverbots durch den Deutschen Ärztetag 2018. Patienten können auch eine Videochat-Beratung erhalten, wenn sie den Arzt noch nie zuvor gesehen haben.

Entsprechend gibt es nun Unternehmen, die eine Videosprechstunde mit Ärzten oder anderen Gesundheitsdienstleistern etablieren wollen. Start-ups wie Teleclinic oder Kinderheldin fokussieren sich dabei vor allem auf die Videochat-Beratung zu nicht bedrohlichen Beschwerden. Regelgerechte Kassenleistung ist dieser Service noch nicht, da Start-ups bislang mit den Krankenkassen einzeln über die Kostenübernahme verhandeln müssen. Somit können bisher nur Patienten bestimmter Versicherungen Telemedizin kostenfrei nutzen, andere müssen die Leistung als Selbstzahler übernehmen. Mit dem DVG könnte sich das bald ändern.

Auch für die ambulante Rehabilitation versprechen telemedizinische Anwendungen viel Potenzial. In Zeiten, in denen Fachkräfte rar sind und viele ältere Patienten über einen längeren Zeitraum eine Reha benötigen, kann die Telerehabilitation helfen, Versorgungslücken zu schließen und Outcomes zu verbessern. Dieses Ziel verfolgt zum Beispiel unser deutsches Start-up RelearnLabs, in dem wir mit cereneo – Center for Neurology & Rehabilitation in Vitznau in der Schweiz – zusammenarbeiten. Patienten nach Schlaganfall und Schädel-Hirn-Trauma sollen hier neben der ambulanten Rehabilitation ein zusätzliches telemedizinisches Training zu Hause erhalten.

Wichtig ist dabei, dass die Telerehabilitation immer in ein Gesamtkonzept eingebunden ist. Nur wenn das Training in der Praxis und das Training zu Hause aufeinander abgestimmt sind, erzielt man bestmögliche Therapieerfolge. Daher müssen sich auch Physiotherapeuten zunehmend mit digitalen Innovationen wie Telerehabilitation und Tracking auseinandersetzen, an ihrer stetigen Weiterentwicklung mitwirken und den individuellen Erfolg ihres Einsatzes bewerten. Ein grundsätzliches technisches Verständnis sowie die Bereitschaft, sich fortwährend weiterzubilden, sind dafür essenziell.


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Änderung des Arbeitsalltags

Was zunächst vor allem nach Mehrarbeit klingt, kann künftig die Zufriedenheit verbessern. Digitale Services wie die Telemedizin werden schon bald Teil der Regelversorgung werden, und bieten somit eine weitere Möglichkeit zur Abrechnung. Zudem können die Analyse von Sensordaten und das Training via Videocall von zu Hause aus erfolgen und geben Therapeuten so mehr Freiheit bei der Arbeitszeitgestaltung. Mit dem Vorstoß von Gesundheitsminister Spahn und dem damit verbundenen Einzug digitaler Therapien in die deutsche Versorgungslandschaft könnte sich also nicht nur der Arbeitsalltag von Ärzten, sondern auch von Physiotherapeuten schrittweise verändern.


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Wearables
wie das Sensorsystem 8sense, sind tragbare Computer-systeme, die Verhalten oder physiologische Parameter wie die Herzfrequenz messen.Abb.: 8sense