Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/a-1033-9736
Kopfschmerz News der DMKG
Publication History
Publication Date:
02 April 2020 (online)
- Erfahrungen von Patienten mit neu aufgetretenem täglichem Kopfschmerz
- Wirksamkeit von Lasmiditan bei unzureichender Wirkung von Triptanen
- Wirkung von Erenumab auf humane Gefäße
- Nackenschmerz bei Migräne
- Literatur
Erfahrungen von Patienten mit neu aufgetretenem täglichem Kopfschmerz
*** Palacios-Ceña D, Talavera B, Gómez-Mayordomo V, et al. The Day My Life Changed: A Qualitative Study of the Experiences of Patients With New Daily Persistent Headache. Headache 2020; doi: 10.1111/head.13712
Zusammenfassung
Palacios-Cena et al. erfassten in ihrer Studie mit qualitativen Methoden die Erfahrungen von 18 Patienten mit neu aufgetretenem täglichem Kopfschmerz (engl. New Daily Persistent Headache; NDPH). NDPH gehört zu den primären Kopfschmerzerkrankungen, ist durch einen plötzlichen, erinnerbaren Beginn mit von Anfang an täglichen Kopfschmerzen gekennzeichnet, und kann über Jahre oder Jahrzehnte bestehen. Von den Symptomen kann NDPH der Migräne oder dem Spannungskopfschmerz ähneln, sodass jeweils entsprechende, jedoch oft wenig wirksame Therapieoptionen gewählt werden. Eine hohe Komorbidität mit psychischen Störungen ist ersichtlich, sodass psychologische Faktoren berücksichtigt werden sollten. Die Patienten der Studie hatten ein mittleres Alter von 45 Jahren und litten seit 2 bis fast 21 Jahren an NDPH (Mittel 6 Jahre); sekundäre Kopfschmerzen waren ausgeschlossen. Daten wurden mittels Interviewverfahren sowie Zeichnungen der Patienten erhoben. Datenreduktion führte zu 3 Themen, die bei den Patienten eine bedeutsame Rolle spielen:
Ursprung der Erkrankung und Antwortsuche: Alle Patienten konnten Zeitpunkt und Ort des ersten Auftretens benennen, bei allen gab es vorausgehende Ereignisse bzw. bestimmte Auslösefaktoren (z. B. Wurzelbehandlung, Infektion, Stress). Dies wurde beschrieben, „als wurde ein Schalter umgelegt“; allerdings gab es keinen donnerschlagartigen Charakter. Zwei Drittel sahen den Grund bei sich selbst, z. B. dass sie sich zu viel abverlangen, zu leistungsorientiert sind, zu viel Stress oder Konflikte haben. Alle konnten verstärkende Faktoren berichten.
Schmerzcharakteristika: Diese waren sehr variabel, der Schmerz an sich wurde als konstant vorhanden, wenn auch mit fluktuierender Intensität beschrieben, als fortwährender Begleiter, der aber nicht vorhersagbar scheint. Begleitsymptome (z. B. Übelkeit, Stand- und Gangunsicherheit) seien teilweise schlimmer als der Schmerz. Zu Beginn wurde der Schmerz als Gefahr wahrgenommen, nach und nach als unsichtbarer Begleiter, den andere Menschen allerdings nicht wahrnehmen könnten.
Einfluss aufs tägliche Leben: Knapp die Hälfte der Patienten fühlte sich stark beeinträchtigt, sie würden Hobbys, Arbeit, etc. einschränken. Die Normalität sei nicht mehr gegeben, die meisten gingen aber einer Arbeit nach, um dadurch Normalität zu realisieren. Einige Patienten fühlten weniger Lebensfreude, viele suchten Einsamkeit. 4 Patienten berichteten von Suizidgedanken; diese hatten auch in einer Depressionsskala hohe Werte.
Kommentar
Die Studien weist einige Limitationen auf, so sind Aussagen nur an einer kleinen spanischen Stichprobe erhoben worden, eine Kontrollgruppe fehlt gänzlich. Teilweise gibt es Unterschiede zu anderen Arbeiten. Es stellt sich dem Leser die Frage, was er trotz dieser Probleme – welche die Autoren auch eingestehen – für Schlussfolgerungen ziehen sollte. Zunächst findet er Daten zu einer relativ heterogenen Gruppe an Patienten, die unter NDPH leiden und deutliche Beeinträchtigungen im Alltag haben. Dies kann im diagnostischen Vorgehen berücksichtigt werden, nach suizidalen Gedanken sollte gefragt werden. Interessant sind die tabellarisch dargestellten Beschreibungen der Patienten. Einige Aspekte sind aus psychotherapeutischer Sicht wichtig; beispielsweise, dass jeder der Patienten auslösende und aufrechterhaltende Faktoren berichtet, sie oft bei sich selbst eine Mitschuld sehen, sich zurückziehen und depressive Tendenzen zeigen. Da die Behandlung des NDPH nach wie vor schwierig ist und immer eine Herausforderung darstellt, könnten bei diesen Patienten psychologische Methoden hilfreich sein. Durch Verhaltens- bzw. Problemanalyse könnte dem Patienten ein Modell seiner individuellen Erkrankung aufgezeigt werden und an bestimmten Punkten therapeutisch angesetzt werden. Da ein Teil über Stress oder Konflikte als Auslöser bzw. Verstärker berichtete, wären Stressmanagements angeraten, dies könnte auch die oftmals überhöhten Leistungserwartungen in den Blick nehmen. Auch Lebensstilmodifikationen könnten versucht werden (mehr Auszeiten, Ausdauersport). Da viele Patienten ein Problem darin sahen, dass andere ihre Schmerzen nicht wahrnehmen können, wären hier Kommunikationsstrategien im Umgang mit Angehörigen und Arbeitskollegen sinnvoll. Aufzupassen ist immer, dass Patienten mit NDPH über die Gefahr von Selbstmedikation und dadurch möglicherweise resultierenden Medikamentenübergebrauchskopfschmerz aufgeklärt werden.
Thomas Dresler, Tübingen
Wirksamkeit von Lasmiditan bei unzureichender Wirkung von Triptanen
*** Knievel K, Buchanan AS, Lombard L, et al. Lasmiditan for the acute treatment of migraine: Subgroup analyses by prior response to triptans. Cephalalgia 2020; 40(1): 19–27
Der 5-HT-1F-Agonist Lasmiditan ist in der Akuttherapie der Migräne auch dann wirksam, wenn Triptane zuvor nicht oder unzureichend wirksam waren.
Hintergrund
Lasmiditan ist ein „Ditan“, also ein direkter Agonist am 5-HT1F-Rezeptor, und in der Akuttherapie der Migräne wirksam. Sowohl Lasmiditan als auch Triptane, welche primär an 5-HT1B/D-Rezeptoren binden, wirken auf die CGRP-Freisetzung im trigeminovaskulären System [1]. Die hohe Lipophilie von Lasmiditan legt eine stärkere zentrale Bindung nahe, die die typischen dosiabhängigen Nebenwirkungen mit Schwindel (15 %), Parästhesien (6 %) und Somnolenz (6 %) erklärt [2]. Im Gegensatz zu Triptanen weist Lasmiditan, zumindest im in vivo Tier- und ex vivo humanen Modell, keine vasokonstriktiven Eigenschaften auf [1]. Subgruppenanalysen der Phase-III-Zulassungsstudien (SAMURAI, SPARTAN), welche zu ca. 80 % Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren (CVRF) untersuchten, konnten jenseits eines Trends zu mehr Palpitationen in der Lasmiditan-Gruppe keine signifikante Häufung kardiovaskulärer Ereignissen finden. Auf Grundlage dieser Daten wurde Lasmiditan im Oktober 2019 von der FDA ohne für Triptane typische Kontraindikationen zur Akuttherapie von Migräneattacken zugelassen. Unklar war, ob sich die Wirksamkeit der Substanzklassen unterscheiden könnte. Knievel et al. untersuchten daher in der Post-hoc-Subgruppenanalyse, ob sich das Ansprechen der Migräneattacken auf Lasmiditan abhängig vom vorherigen Ansprechen auf Triptane in SAMURAI und SPARTAN unterschied.
Zusammenfassung
In SAMURAI und SPARTAN wurden Patienten mit episodischer Migräne eingeschlossen und gebeten, ihre Migräneattacken innerhalb von 4 Stunden zu behandeln. Es erfolgte eine Randomisierung zu Placebo, 50 mg (nur SPARTAN), 100 mg oder 200 mg Lasmiditan. Der primäre Endpunkt war Kopfschmerzfreiheit nach 2 Stunden für 200 mg Lasmiditan vs. Placebo. Dieser wurde bei ~30 % (SAMURAI) bzw. ~40 % (SPARTAN) der Patienten erreicht. Dieses Ergebnis und weitere sekundäre Endpunkte wurden in vordefinierten Subgruppen hinsichtlich der vorherigen Triptanerfahrung und -wirksamkeit untersucht. Triptanerfahrene Patienten wurden gebeten die Wirksamkeit der letzten Triptaneinnahme, unabhängig davon wie lange diese her war, als „gut“ („Responder“) oder „schlecht/keine“ („unzureichende Responder“) zu bewerten. Übrige Patienten galten als triptannaiv.
Es wurden 3981 Patienten untersucht. 45 % davon hatten wenigstens ein Triptan in der Vergangenheit versucht, wovon 31 % unzureichende Responder waren. Der primäre Endpunkt für Lasmiditan wurde sowohl bei Triptan-Respondern (35 %) als auch unzureichenden Respondern (32 %) erreicht. Auch in den anderen Dosierungen gab es keinen statistischen Wirksamkeitsunterschied abhängig vom Ansprechen auf Triptane. Als sekundärer Endpunkt wurde die Freiheit vom am stärksten beeinträchtigenden Symptom nach 2 Stunden ausgewertet. In allen Dosisgruppen war die Ansprechrate wiederum unabhängig von der Triptanwirksamkeit (Responder bzw. unzureichende Responder; 200 mg: 45 % bzw. 47 %). Als letzter Endpunkt wurde Kopfschmerzfreiheit nach 2 Stunden ausgewertet, welcher sich ebenfalls für keine Dosigruppe von Lasmiditan abhängig von der Triptanwirksamkeit statistisch unterschied (Triptan-Responder bzw. unzureichende Responder: 66 % bzw. 62 % der Patienten bei 200 mg). Die Ergebnisse der 100-mg- und 200-mg-Gruppe waren in allen Endpunkten (primär und sekundär) bei triptannaiven Patienten mit jenen mit Triptanerfahrung vergleichbar und gegenüber Placebo statistisch überlegen. Nebenwirkungen unterschieden sich nicht abhängig von der vorherigen Triptaneinnahme oder -wirksamkeit.
Kommentar
Etwa 30–40 % der Migränepatienten haben eine unzureichende Wirksamkeit von Triptanen oder tolerieren die Einnahme nicht. Die Ergebnisse dieser Studie sind daher motivierend, da bei diesen Patienten mit Lasmiditan in ca. 30 % der Fälle eine Schmerzfreiheit und ca. 60 % der Fälle eine Besserung nach 2 Stunden erreichbar scheint. Triptannaive Patienten profitieren in gleicher Weise. Letztere Gruppe beinhaltet auch Patienten mit Kontraindikationen für Triptane, dies wurde aber mit Verweis auf die geringe statistische Power nicht gesondert ausgewertet.
Einschränkend ist zu erwähnen, dass nur ein Vergleich gegen den historischen Gebrauch von Triptanen unternommen wurde. So ist unklar, welche und wie viele Triptane versucht wurden, wie groß das Intervall zur letzten Einnahme eines Triptans war und ob möglicherweise Einnahme- bzw. Resorptionsprobleme das unzureichende Ansprechen der Triptane bedingten. Somit dürfen die Ergebnisse nur mit Vorsicht und nicht als direkter Vergleich zu Triptanen interpretiert werden. Dennoch erscheint auf dieser Grundlage ein Therapieversuch bei unzureichendem Ansprechen auf Triptane gerechtfertigt. Zudem ist Lasmiditan unstrittig für Patienten mit schwerer Migräne, bei denen Triptane kontraindiziert sind, eine lang ersehnte und wichtige Therapieoption. Man darf nicht vergessen, dass es für diese Patienten meist keine hinreichende Akuttherapie gibt. Weiterhin unklar ist, ob und wie Patienten während (möglicherweise isolierter oder prolongierter) Auren und Patienten mit hemiplegischer Migräne von Lasmiditan profitieren könnten, da auch bei diesen Gruppen Sicherheitsbedenken bzw. Kontraindikationen für Triptane existieren.
Hinsichtlich Interessenkonflikte ist zu erwähnen, dass 7 von 9 Autoren Mitarbeiter von Eli Lilly and Company sind oder waren.
Robert Fleischmann, Greifswald
Wirkung von Erenumab auf humane Gefäße
**** Rubio-Beltrán E, Labastida-Ramírez A, Haanes KA, et al. Characterisation of vasodilatory responses in the presence of the CGRP receptor antibody erenumab in human isolated arteries. Cephalalgia 2019; 39(14): 1735–1744
Erenumab hemmt die CGRP-vermittelte Vasodilatation in humanen meningealen und kardialen Arterien.
Hintergrund
Calcitonin Gene-related Peptide (CGRP) ist der stärkste bekannte Vasodilatator im menschlichen Körper. Insofern stellte sich in den Phase-II- und III-Studien der CGRP-(Rezeptor-)Antikörper die Frage, ob die Inhibition von CGRP zu kardiovaskulären Nebenwirkungen führen könnte. Diese traten jedoch gleich häufig in der Verum- und Placebogruppe auf, allerdings stellten kardiovaskuläre Vorerkrankungen ein Ausschlusskriterium dar. Bei Patienten mit stabiler Angina pectoris, die 30 Minuten vor einem Belastungs-EKGs 140 mg Erenumab intravenös erhielten, zeigte sich kein Effekt auf die Dauer bis zum Auftreten von AP-Beschwerden oder ST-Streckensenkung [1]. Die Studie wurde aber für die Auswahl der Studienteilnehmer (78 % männlich) und den fehlenden Nachweis einer effektiven CGRP-Blockade kritisiert. Es wurde argumentiert, dass kardiale Ischämien bei Frauen häufiger durch distale Koronararterien bedingt sind, die stark unter der Kontrolle von CGRP stehen, die Angina pectoris bei Männern dagegen überwiegend durch Stenosen der proximalen Koronararterien, auf die CGRP nur einen begrenzten Einfluss hat [2].
Zusammenfassung
In der vorliegenden Studie wurde der inhibitorische Effekt von Erenumab auf die Vasodilatation durch αCGRP in der A. meningea media, den proximalen und distalen Koronararterien und der A. mammaria interna untersucht. Die Meningealarterien stammten von 6 Patienten (2 männlich; 49 ± 8 Jahre), die im Rahmen einer neurochirurgischen Operation eine Trepanation erhielten. Die Koronararterien stammten von 6 Organspendern (2 männlich; 52 ± 5 Jahre), die aufgrund einer nicht kardiologischen Erkrankung verstarben und die inneren Brustarterien stammten von 10 männlichen Patienten (72 ± 2 Jahre), die sich einer Bypass-Operation unterzogen.
Es wurden Segmente aller 3 Arterien mit Erenumab (1µM) oder Vehikel (Kontrolle) inkubiert und eine Konzentrationswirkungskurve nach Zugabe von αCGRP in verschiedenen Konzentrationen (0,1nM-1µM) erstellt, d. h. es wurde die Vasodilatation durch αCGRP auf Erenumab-vorbehandelte und unbehandelte Arterien verglichen. In gleicher Weise wurde eine Konzentrationswirkungskurve für die Gabe von Dihydroergotamin (DHE) in Erenumab-vorbehandelten und unbehandelten Arterien erstellt. An der A. mammaria interna wurde außerdem die Wirkung von anderen Vasodilatatoren (Acetylcholin, Nitroprussid-Natrium, PACAP, VIP, Nicardipin) untersucht. Es konnte gezeigt werden, dass αCGRP bei Erenumab-vorbehandelten Arterien im Vergleich zu unbehandelten Arterien zu signifikant weniger Vasodilatation in der A. meningea media, der distalen Koronararterie und der inneren Brustarterie führt. In der proximalen Koronararterie konnte kein signifikanter Unterschied festgestellt werden. Weiterhin wurde festgestellt, dass die CGRP-bedingte Vasodilatation in der distalen Koronararterie im Vergleich zur A. mammaria interna signifikant höher ist, nicht aber im Vergleich zur A. meningea media. Die Vasodilatation durch Acetylcholin, Nitroprussid-Natrium, VIP, PACAP und Nicardipin wurde durch Vorbehandlung mit Erenumab nicht signifikant verändert, genauso wenig wie die Vasokonstriktion durch Dihydroergotamin.
Kommentar
Die Studie ist für unser Verständnis der Wirkung von CGRP-(Rezeptor)-Antikörpern bei Migräne interessant, da gezeigt wurde, dass Erenumab eine CGRP-induzierte Vasodilatation in der A. meningea media inhibieren kann. Auf dieser Grundlage wurde gemutmaßt, dass der therapeutische Effekt des Antikörpers auf diesem peripheren Wirkmechanismus beruht. Allerdings sollte diese Schlussfolgerung nur vorsichtig gezogen werden, da eine Vasodilatation in spontanen Migräneattacken nicht sicher nachgewiesen werden konnte und der genaue Wirkort der Antikörper nicht verstanden ist. Aufgrund der vasodilatatorischen Wirkung des CGRP ist die kardiovaskuläre Sicherheit eine wichtige Frage in der Therapie mit CGRP-(Rezeptor-)Antikörpern. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Erenumab zwar die Vasodilatation durch CGRP inhibieren kann, aber keinen Einfluss auf die Vasodilatation durch andere Substanzen bzw. auf die Vasokonstriktion durch Dihydroergotamin zeigt, was den CGRP-spezifischen Effekt von Erenumab bestätigt.
Im Editorial wird diskutiert, dass die basale CGRP-Freisetzung wahrscheinlich keine relevante Gefäßwirkung hat, die vermehrte Freisetzung aber in Migräneattacken und in kardiovaskulären Ischämien relevant ist (bei letzteren protektiv) [3]. Die fehlenden kardiovaskulären Nebenwirkungen von Erenumab sprechen aber für eine multifaktorielle Regulation der Koronarien mit Back-up-Mechanismen im Fall der CGRP-Hemmung, möglicherweise durch andere Peptide wie Adrenomedullin. Diesbezüglich wird es weitere Studien brauchen, um die genauen Mechanismen zu verstehen.
Katharina Kamm, München
Nackenschmerz bei Migräne
*** Hvedstrup J, Kolding LT, Younis S, et al. Ictal neck pain investigated in the interictal state – a search for the origin of pain. Cephalalgia 2019; doi: 10.1177/0333102419896369.
Migränepatienten mit iktalem Nackenschmerz unterscheiden sich phänotypisch von Migränepatienten ohne iktalen Nackenschmerz, auch interiktal in der Empfindlichkeit der Nackenmuskulatur.
Hintergrund
Migräne wird bei 63 % der Patienten von Nackenschmerzen begleitet. Es gibt Hypothesen, dass diese Nackenbeschwerden zum Migränebild beitragen oder sich diese Form der Migräne phänotypisch von anderen Migränetypen unterscheidet. Es ist anzunehmen, dass sensorische Schwellen sich bei Migränepatienten innerhalb und außerhalb einer Migräneattacke unterscheiden. Es ist unklar, ob Patienten, die iktal (d. h. während der Migräneattacke) von Nackenschmerzen berichten, sich phänotypisch bezüglich empfindlicher Nackenmuskeln auch interiktal (außerhalb der Attacke) von Migränepatienten ohne Nackenschmerz unterscheiden. Solche Unterschiede könnten auf lokale Veränderungen oder eine zentrale Sensibilisierung zurückzuführen sein. Ziel der Arbeit war es, mittels sensorischer Tests phänotypische Unterschiede von Migränepatienten zu erfassen.
Zusammenfassung
Am dänischen Kopfschmerzzentrum wurden 100 Migräne-Patienten rekrutiert, davon hatten 52 iktale Nackenschmerzen und 48 nicht. Zusätzlich wurden 46 passende Kontrollprobanden ohne Migräne eingeschlossen. Ausgeschlossen wurden Patienten, wenn sie 48 h nach der Untersuchung eine Attacke hatten, 24 h zuvor Schmerzmedikamente oder 48 h zuvor Opiate oder Triptane eingenommen hatten, oder 48 h zuvor die Muskeln des Oberkörpers trainiert hatten. Weitere Ausschlusskriterien waren Verletzungen oder Vorerkrankungen der Halswirbelsäule oder Schulter sowie Medikamentenübergebrauchskopfschmerz.
Es wurden teilstrukturierte Interviews durchgeführt, um die Kopfschmerzen und Begleitsymptome zu erfassen und ein Gesamtscore für empfindliche Palpationspunkte erstellt (Total Tenderness Score, TTS). Der TTS wird über Palpationspunkte generiert, die zum einen dem Innervationsgebiet des N. trigeminus und zum anderen dem Innervationsgebiet der oberen zervikalen Nervenwurzeln zuzuordnen sind. Weiterhin wurde eine lokale Punktzahl für die Empfindlichkeit des M. trapezius pars descendens erstellt (Local tenderness score, LTS). Lateral vom Prozessus spinosus C5 wurde die Stimulus-Reaktions-Funktion auf Druck mit sieben unterschiedlichen Druckintensitäten erhoben. Patienten bewerteten den Schmerz, der durch den jeweiligen Druck entstand auf einer Visuellen-Analog-Skala. Hierdurch sollte eine zentrale Sensibilisierung festgestellt werden. Zusätzliche wurden Hitzeschmerzschwellen und die Kälteschmerzschwellen an der Hand und der Stirn erhoben, stark erniedrigte bzw. erhöhte Werte wurden als Allodynie gewertet. Ab dem Tag der Untersuchung wurde ein 7-tägiges Kopfschmerztagebuch geführt.
Die Gruppe mit iktalen Nackenschmerzen unterschied sich von der Gruppe ohne iktale Nackenschmerzen signifikant in einer höheren interiktalen Druckempfindlichkeit im Nacken und am proximalen M. trapezius, nicht aber im Bereich des N. trigeminus oder des distalen M. trapezius. Eine erhöhte Druckempfindlichkeit im Versorgungsgebiet des N. trigeminus war ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Migräneattacke in den nächsten 2 Tagen. Patienten mit chronischer Migräne zeigten im Vergleich zu episodischer Migräne eine höhere Druckempfindlichkeit im trigeminalen Bereich, aber nicht im Nacken. Die Höhe des Gesamt-Scores des TTS korrelierte mit dem Vorhandensein einer Allodynie und der Kopfschmerzfrequenz.
Kommentar
Die Studie findet eine erhöhte Druckempfindlichkeit der Nackenmuskulatur in der interikalen Phase bei Migräne-Patienten mit im Vergleich zu ohne iktalen Nackenschmerzen. Die Studie ist die erste, die darüber hinaus eine höhere Druckempfindlichkeit der trigeminal versorgten Muskulatur als Risikofaktor einer bevorstehenden Attacke beschreibt. Dies könnte allerdings zurück zu führen sein auf eine reduzierte Druckschmerzschwelle in der pre-iktalen Phase. Damit wäre dies weniger als Risikofaktor zu verstehen, der einen kausalen Zusammenhang vermuten lässt, als eher bereits ein Zustand der preiktalen Phase [1].
Zu kritisieren ist, dass 54 % der gesunden Probanden eine Allodynie aufwiesen und sich damit nicht von den Migränegruppen unterschieden. Möglich wäre, dass die Definition der Schmerzschelle für Allodynie aus der Literatur für die Population der vorliegenden Studie nicht adäquat gewählt war. Beide Migränegruppen unterschieden sich bezüglich der Stimulus-Reaktions-Kurve auf Druckreize im Nacken signifikant von den Gesunden. Diese wird von den Autoren als Zeichen für eine zentrale Sensibilisierung bezeichnet. Allerdings war die Allodynie nicht signifikant erhöht, sodass sich kein klares Bild ergibt. In dieser Studie wurde Allodynie über thermische Schwellen bestimmt, während die weiteren Untersuchungen sich auf Druckempfindlichkeit beziehen.
Letztlich bestätigt die Studie die hohe Prävalenz von iktalem Nackenschmerz bei der Migräne, lässt aber keine endgültige Aussage darüber zu, ob die iktalen Nackenschmerzen auf einer peripheren oder zentralen Sensibilisierung beruhen.
Annika Schwarz, Kerstin Lüdtke, Lübeck
INFORMATION
***** |
Exzellente Arbeit, die bahnbrechende Neuerungen beinhaltet oder eine ausgezeichnete Übersicht bietet |
**** |
Gute experimentelle oder klinische Studie |
*** |
Gute Studie mit allerdings etwas geringerem Innovationscharakter |
** |
Studie von geringerem klinischen oder experimentellen Interesse und leichteren methodischen Mängeln |
* |
Studie oder Übersicht mit deutlichen methodischen oder inhaltlichen Mängeln |
Die Kopfschmerz-News werden betreut von: Priv.-Doz. Dr. Ruth Ruscheweyh, Klinik und Poliklinik für Neurologie, Klinikum der Universität München, Marchioninistr. 15, 81377 München, Tel. 089/440073907, ruth.ruscheweyh@med.uni-muenchen.de
Die Besprechungen und Bewertungen der Artikel stellen die Einschätzung des jeweiligen Autors dar, nicht eine offizielle Bewertung durch die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft.
-
Literatur
- 1 Labastida-Ramirez A, Rubio-Beltran E, Haanes KA. et al Pain 2020.
- 2 Krege JH, Rizzoli PB, Liffick E. et al Cephalalgia 2019; 39 (08) 957-66
- 3 Depre C. et al Headache 2018; 58 (05) 715-723
- 4 Maassen van den Brink A. et al Is Headache 2018; 58 (08) 1257-1258
- 5 Messlinger K, Maassen Van Den Brink A. Cephalalgia 2019; 39: 1731
- 6 Peng K-P, May A. Pain 2019; 160: 1494-1501
-
Literatur
- 1 Labastida-Ramirez A, Rubio-Beltran E, Haanes KA. et al Pain 2020.
- 2 Krege JH, Rizzoli PB, Liffick E. et al Cephalalgia 2019; 39 (08) 957-66
- 3 Depre C. et al Headache 2018; 58 (05) 715-723
- 4 Maassen van den Brink A. et al Is Headache 2018; 58 (08) 1257-1258
- 5 Messlinger K, Maassen Van Den Brink A. Cephalalgia 2019; 39: 1731
- 6 Peng K-P, May A. Pain 2019; 160: 1494-1501