ergopraxis 2020; 13(01): 44-45
DOI: 10.1055/a-1034-9252
Perspektiven
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Möglichkeiten und Chancen – Ergotherapie für Pferde

Yvonne Katzenberger
,
Ruth Katzenberger-Schmelcher
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Publication Date:
03 January 2020 (online)

 

Ergotherapie für Pferde? Was soll das denn sein? Ein neuer Hype, der völlig unnütz ist? Keineswegs. Andere Fachdisziplinen, die auf Tiere und insbesondere Pferde übertragen wurden (wie die Pferdephysiotherapie), sind mittlerweile anerkannt. Ebenso sollte es mit der Ergotherapie sein.


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Nun ist ein Pferd selbstredend kein Mensch, und schon allein aus diesem Grund lassen sich nicht alle Definitionen, Grundannahmen und Konzepte von dem einen in das andere Fachgebiet übertragen. Übertragen heißt jedoch nicht, alles eins zu eins auf gleiche Art und Weise anzuwenden. Selbstverständlich sind Modifikationen notwendig, und an mancher Stelle ist noch nicht einmal eine modifizierte Anwendung möglich. Das betrifft übrigens nicht nur die Ergotherapie, sondern auch die Physiotherapie, Osteopathie etc. Dennoch lässt sich ein Fachgebiet abstecken, das sich als Ergotherapie für Pferde definieren lässt.

Es geht darum, die Handlungsfähigkeit des Pferdes zu verbessern.

Angelehnt an die Definition des DVE verstehen wir Ergotherapie für Pferde wie folgt: Ergotherapie für Pferde oder Pferdeergotherapie unterstützt und begleitet Pferde jeden Alters und jeder Rasse, die in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt oder von Einschränkung bedroht sind. Ziel ist, sie bei der Durchführung von für ihre Gesundheit bzw. für ihren Besitzer bedeutungsvolle Betätigungen im Pferdealltag zu stärken. Hierbei dienen spezifische Aktivitäten, Umweltanpassung und Beratungen des Besitzers dazu, dem Pferd die Handlungsfähigkeit in seinem vom Besitzer vorgegebenen Alltag und eine Verbesserung seiner Lebensqualität zu ermöglichen.

In der Ergotherapie für Pferde geht es also darum, die Handlungsfähigkeit des Pferdes und damit den Pferdealltag zu verbessern. Oftmals geraten Pferde in Angst- und Stresssituationen, weil ihr Besitzer gerade in Trainingssituationen etwas abverlangt, das dem Pferd unmöglich oder nur schwer möglich ist. Auch die Lebensumgebung des Pferdes kann mit vielen Stressoren belastet sein. Diese Situationen zu erkennen, zu analysieren und entsprechend therapeutisch zu intervenieren ist Aufgabe des Ergotherapeuten für Pferde. Wo genau Verbesserungen notwendig oder wünschenswert sind, ist in enger Kommunikation mit dem Pferdebesitzer zu eruieren.

Anatomische Ähnlichkeiten

Die Grundprinzipien der nervalen Informationsvermittlung funktionieren bei Pferd und Mensch gleich. Pferde verfügen über Sensoren/Rezeptoren – zum Beispiel Merkel-Zellen, Ruffini- und Vater-Pacini-Körperchen oder Golgi-Sehnen-Rezeptoren, die Reize aus der Umwelt wahrnehmen. Pferde verfügen ebenso wie Menschen sowohl über ein Vestibularorgan als auch über drei Basissinne. Egal, wie man der SI gegenübersteht: Unstrittig bleibt doch, dass die Basissinne gefördert werden können. Genauso, wie etwa propriozeptives Training beim Menschen möglich ist, ist dies auch beim Pferd der Fall. Und auch wenn es keine motorbetriebenen Schaukeln für Pferde gibt, so gibt es doch für Pferde geeignete Wippen, Balancebalken und -teller sowie weitere Tools, die einen entsprechenden sensorischen Input liefern können. Die Förderung der SI bildet aber nur eine Säule der Ergotherapie für Pferde.

Der Pferdebesitzer soll bedeutungsvolle Betätigungen ausführen.


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Modifizierte Klientenzentrierung

Nun kann ein Pferd natürlich nicht sprechen und uns sagen, in welchen Betätigungsbereichen es Verbesserungen wünscht. Dennoch ist ein modifizierter klientenzentrierter Ansatz möglich und sinnvoll: Vor allem diejenigen Personen, die mit dem Pferd hauptsächlich umgehen (Besitzer, Reitbeteiligung, Reitschüler, Stallbesitzer etc.), spielen eine entscheidende Rolle für eine weitere Säule der Ergotherapie für Pferde: die betätigungs- und klientenzentrierte Beschäftigung mit dem Pferd.

  • Welche Aktivitäten möchte der Pferdebesitzer mit seinem Pferd genau ausführen?

  • Wo gibt es Probleme?

  • Wie viel Zeit kann der Pferdebesitzer im Alltag tatsächlich für sein Pferd aufwenden?

  • Wie sieht der Alltag des Pferdes eigentlich genau aus?

  • Wo liegen die Ressourcen des Pferdes, des Pferdebesitzers und der Stallumgebung?

  • Kann das vorhandene Trainingsequipment adaptiert werden?

  • Ist es möglich, in Absprache mit den verantwortlichen Personen den Stallbereich zu optimieren?

Es geht nämlich nicht darum, was der Therapeut mit dem Pferd erreichen kann. Vielmehr soll der Pferdebesitzer (oder derjenige, der maßgeblich über das Pferd bestimmt) unter Berücksichtigung der oben genannten Punkte für sich und sein Pferd bedeutungsvolle und zweckdienliche Betätigungen ausführen können. Eine der Grundfragen lautet damit: Was kann und will der Pferdebesitzer erreichen, um die Handlungsfähigkeit des Pferdes zu erweitern, Ressourcen (wieder) zu entdecken und dafür zu sorgen, dass das Pferd mit seinem Alltag, seiner Umwelt und seinem vom Besitzer bestimmten Betätigungsbereich besser zurechtkommt?

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Wippen, die speziell für Pferde angefertigt werden (hier in der Version einer Zweibeinwippe), finden ebenso wie Balancierscheiben oder Stabilitätstrainer Einsatz in der Therapie.
Abb.: K. Oborny, Thieme Gruppe

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Ablauf der Therapie

In einer ausführlichen Anamnese und Befundung wird also nicht nur das Pferd an sich begutachtet, vielmehr werden sowohl das gesamte Lebensumfeld des Pferdes als auch die Möglichkeiten des Pferdebesitzers ganzheitlich betrachtet.

In der Anamnese werden neben den Angaben zum Pferd (zum Beispiel Geschlecht, Alter, Rasse) auch die Haltungsform (zum Beispiel Offenstall-, Boxenhaltung, Herdenkonstellation, Weidezeit) und Angaben zum Training (zum Beispiel Trainingsart, zeitlicher Rahmen, der für Training zur Verfügung steht) abgefragt. Ebenso wird abgefragt, ob das Pferd Vorerkrankungen, eine chronische Krankheit oder eine aktuelle tierärztliche Diagnose hat und ob das Pferd im Sinne einer multiprofessionellen Betreuung von Fachleuten anderer Disziplinen behandelt wird.

Die Befundung ist aufgeteilt in freies Beobachten, die Adspektion im Stand, das Vorführen des Pferdes sowie in gezielte Beobachtungen. Beim freien Beobachten dokumentiert der Therapeut das Verhalten des Pferdes in Alltagshandlungen, die der Besitzer ausführt (wie verhält sich das Pferd zum Beispiel, sobald sich der Pferdebesitzer nähert, er es aufhalftert, aus dem Stall führt?). Bei der Adspektion im Stand und dem Vorführen des Pferdes werden Körperfunktionsaspekte dokumentiert (zum Beispiel Futterzustand, Bemuskelung, Taktreinheit der Tritte, Symmetrie der Bewegungen). Bei den gezielten Beobachtungen dienen spezielle Übungen der Ermittlung der Qualität der Wahrnehmungsverarbeitung über die drei unterschiedlichen Basissinne.

Bei allen beobachtenden Verfahren ist sich der Therapeut darüber im Klaren, dass Beobachtungen subjektiven Deutungen unterliegen und deshalb eine grundsätzliche Fehleranfälligkeit besteht. Daher muss er sowohl bei der Anamnese als auch bei der Befundung auf objektiv beobachtbares Verhalten sowohl des Pferdes als auch des Besitzers achten und dies dokumentieren.

Nach der Anamnese und der Befundung werden die Wünsche des Pferdebesitzers als überprüfbare und vor allem realistische Ziele formuliert, die sich an objektiv beobachtbaren Items messen lassen. Diese Ziele werden gemeinsam mit dem Pferdebesitzer nach einer vorher festgelegten Terminierung kontrolliert.

Wurde das Ziel erreicht, wird ggf. ein neues Ziel festgelegt. Hier sind vor allem folgende Fragen zu berücksichtigen:

  • Welche objektiv beobachtbaren Körperfunktionen haben sich verändert?

  • Was ist im Lebensumfeld des Pferdes weiter adaptierbar?

  • Was kann der Pferdebesitzer selbst durchführen?

  • Wie viel Zeit soll der Therapeut weiter investieren?

Die ergotherapeutische Behandlung eines Pferdes erfordert ein hohes Maß an Kreativität, Umstellungs- und Reaktionsfähigkeit sowie Empathie für den Pferdebesitzer. Der Therapeut muss immer auf die individuellen Gegebenheiten und die Vorlieben von Pferdebesitzer und Pferd eingehen. Der Pferdebesitzer lernt, besser auf die Reaktionen seines Pferdes zu achten und genauer zu beobachten. Letztendlich sollen Pferdebesitzer und Pferd ihren gemeinsamen Alltag stress- und sorgenfrei miteinander verbringen können.

Pferdebesitzer und Pferd sollen ihren Alltag stressfrei verbringen.

Und unter diesen Gesichtspunkten ist die Ergotherapie für Pferde sicherlich kein unnützer Hype, sondern eine Form der Tiertherapie, die Verbesserungen für Pferd und Mensch mit sich bringt.


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Wippen, die speziell für Pferde angefertigt werden (hier in der Version einer Zweibeinwippe), finden ebenso wie Balancierscheiben oder Stabilitätstrainer Einsatz in der Therapie.
Abb.: K. Oborny, Thieme Gruppe