Kollmann TR.
et al.
Vaccination strategies to enhance immunity in neonates.
Science 2020;
368: 612-615
DOI:
10.1126/science.aaz9447
Die Annahme, Neugeborene sprächen generell schlechter auf Impfungen an, ist nicht
richtig, erläutern die Forscher. Trotz prinzipiell guter Impfantworten im Neugeborenenalter
decken die verfügbaren Impfstoffe allerdings viele Erreger schwerer Neugeboreneninfektionen
(z. B. Staphylokokken, Escherichia coli, Ureaplasmen, B-Streptokokken, RSV) nicht
ab. Zudem dauert es nach einer Impfung nicht selten mehrere Wochen, bis das junge
Immunsystem eine erregerspezifische Immunität aufgebaut hat, so dass in den ersten
Tagen und Wochen eine Schutzwirkung gegenüber den meisten Pathogenen fehlt. Angesichts
dessen muss nach alternativen Strategien zur Stärkung der Immunantwort in den ersten
Lebenswochen gesucht werden, meinen die Wissenschaftler. Ihrer Einschätzung nach stellt
das System „Mutter-Kind“ als immunologische Einheit hierfür einen vielversprechenden
Ansatzpunkt dar: Beispielsweise mit einem Booster-Effekt der Immunantwort durch nicht-pathogenspezifische
Ansätze und/oder durch Unterstützung des Transfers pathogenspezifischer maternaler
Immunfaktoren.
In der Neonatalperiode verabreichte Lebendvakzinen wie die BCG- oder die orale Poliovakzine
schützen nicht nur vor dem jeweiligen Impfpathogen, sondern vermitteln darüberhinausgehend
einen breiten Schutz gegenüber weiteren Erregern, berichten Kollmann, Marchant und
Way. Beispielsweise sinkt nach Verabreichung beider Impfstoffe post partum die neonatale
Mortalität deutlich. Diese nicht-pathogenspezifische Immunität tritt dabei offenbar
bereits innerhalb weniger Tage nach der Impfung ein und beruht vermutlich unter anderem
auf kreuzreaktiven T-Zellen sowie der Aktivierung angeborener Immunkomponenten. In
welchem Zeitfenster das Immunsystem empfänglich für diese Effekte ist, sei jedoch
unklar. Eine weitere Möglichkeit, Neugeborene vor Infektionen zu schützen, stellt
nach Einschätzung der Wissenschaftler die Nutzung des Nestschutzes dar: Passiv auf
das Neugeborene übertragene maternale Antikörper, beispielsweise nach Tetanus- oder
Influenzaimpfung während der Schwangerschaft, überbrücken den Zeitraum, in welchem
Infektionen einen schweren Verlauf nehmen. Selbst die in der Schwangerschaft kontraindizierten
attenuierten Lebendvakzinen sind, wie aus Untersuchungen nach versehentlicher Gabe
hervorgeht, im Wesentlichen als sicher einzustufen. Insgesamt scheint die Fitness
des kindlichen Immunsystems, also seine Widerstandsfähigkeit gegenüber Erregern, von
den immunologischen Erfahrungen der Mutter abzuhängen. Dabei scheint beispielsweise
das Vorhandensein maternaler Antikörper im Allgemeinen die kindliche Immunantwort
auf eine Impfung günstig zu beeinflussen. Ein optimaler Schutz gegenüber Infektionserregern
schließt daher möglicherweise die neonatale Immunisierung unter dem Schutz der maternalen
Immunität ein.
Neonatale Infektionen stellen sowohl unter dem Aspekt der Pathogene als auch des Immunsystems
eine komplexe Problematik dar, so die Autoren. Um Neugeborene bestmöglich gegen ein
breites Erregerspektrum schützen zu können, sind ihrer Einschätzung nach Impfstrategien
notwendig, welche das immunologische System „Mutter-Kind“ als Ganzes nutzen: Eine
kombinierte Vakzinierung der Mütter und ihrer Neugeborenen kann vermutlich sowohl
eine pathogen- als auch eine nicht-pathogenspezifische Immunität zu induzieren.
Dr. Judith Lorenz, Künzell
Nestschutz als aktive Immunisierung nach dem Konzept des idiotypischen Netzwerks.
Quelle: Zemlin M. Entwicklung des Immunsystems. In: Hübler A, Jorch G, Hrsg. Neonatologie.
2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2019. doi:10.1055/b-006-149522