Nervenheilkunde 2020; 39(05): 271
DOI: 10.1055/a-1094-9437
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Nervenheilkunde

Zeitschrift für interdisziplinäre Fortbildung
Christos Ganos
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Publication Date:
05 May 2020 (online)

 
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Priv.-Doz. Dr. med. Christos Ganos Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie Charité – Universitätsmedizin Berlin

Gilles-de-la-Tourette-Syndrom: State of the Art

Das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom (GTS) ist eine facettenreiche Störung, die durch Tics charakterisiert ist. Tics, die wie Dystonie, Myoklonus, Chorea und Tremor zu den hyperkinetischen Bewegungsstörungen zählen, sind kurze Bewegungen oder Geräusche, die physiologischen Verhaltensmustern ähneln, jedoch repetitiv und irregulär ohne ersichtlichen Bezug zur aktuellen Situation auftreten. Darüber hinaus erfüllt die Mehrheit der Menschen mit GTS die klinischen Diagnosekriterien weiterer neuropsychiatrischer Störungen, am häufigsten von Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts- und/oder Zwangsstörungen, Angststörungen und Depression.

Seit der ursprünglichen Beschreibung von 9 Fällen durch Georges Gilles de la Tourette entfachte ein langer Disput über die bestimmenden klinischen Merkmale, die Pathophysiologie sowie die geeigneten Therapien für Betroffene. Die Kontroverse wurde lange durch Debatten über „organische“ gegenüber „psychogenen“ Ursachen von Tics aufrechterhalten, und überraschenderweise auch nach der Einführung wirksamer Pharmakotherapien seit Mitte des 20. Jahrhunderts immer noch fortgesetzt.

Angesichts der zentralen Rolle der deutschsprachigen Wissenschaftsgemeinschaft bei der Charakterisierung von Tic-Störungen sowie bei der Aufklärung der Pathophysiologie und der Anwendung innovativer Therapien präsentieren wir hier eine prägnante Artikelserie, um die Leserschaft der Nervenheilkunde auf den neuesten Stand verschiedener zentraler Aspekte des GTS zu bringen. Wir fokussieren uns zunächst auf die klinischen Merkmale von Tics und dem GTS sowie auf ihre Differenzialdiagnosen. Anschließend präsentieren wir pathophysiologische Modelle, evidenzbasierte Pharmakotherapien und Daten zur tiefen Hirnstimulation in der Behandlung therapierefraktärer Fälle. Zudem diskutieren wir die Rolle von Cannabinoiden in der Pathophysiologie und Behandlung von Tics. Ein CME-zertifizierter Beitrag fasst schließlich alle Artikel zusammen und bietet die Möglichkeit, neu angeeignetes Wissen zu überprüfen.

In seinem Vorwort zu Meige‘s und Feindel‘s Veröffentlichung über „Tics und ihre Behandlung“ im Jahr 1902 machte Édouard Brissaud auf die nicht wissenschaftliche Gewohnheit aufmerksam „Hierarchien zwischen medizinischen Problemen basierend auf der relativen Schwere der Symptome“ zu etablieren und hob hervor, dass „eine solche Aufteilung zwischen schweren und leichten Erkrankungen“ nicht zulässig sei. Tatsächlich bleiben Tics heutzutage in vielerlei Hinsicht eine medizinische Besonderheit, und ihre Behandlung wird häufig aufgrund der relativ harmlosen Natur der Bewegungsstörung und den oftmals herausfordernden neuropsychiatrischen Komorbiditäten vernachlässigt. Tics und ihre Begleiterscheinungen sind jedoch meist sehr zufriedenstellend zu behandeln, insbesondere in Zentren, die Expertise aus dem Feld der Bewegungsstörungen mit Kenntnissen und Fähigkeiten aus den benachbarten Bereichen der Psychiatrie und behavioralen Psychologie verbinden. Ich hoffe, diese Ausgabe kann dazu beitragen, das Wissen auf dem Gebiet der Tic-Störungen und des GTS umfassend zu erweitern und damit deren Diagnose und die für unsere Patienten dringend benötigte Therapie zu verbessern.

Christos Ganos, Berlin


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Priv.-Doz. Dr. med. Christos Ganos Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie Charité – Universitätsmedizin Berlin