Unter Epidemiologen gibt es den Ausspruch: „Wenn Sie eine Epidemie gesehen haben,
dann haben Sie eine Epidemie gesehen“ – also keineswegs alle, wie das bekannte Diktum
zum Schluss von nur einem Fall auf alle Fälle nahelegt. Denn Epidemien können, je
nach den Eigenschaften des Erregers und der (nicht nur menschlichen) Gesellschaft,
auf die er trifft, ganz unterschiedlich ablaufen. Weil beide – Erreger und betroffene
Population – sehr verschieden sein und unabhängig voneinander variieren können, multiplizieren
sich diese Verschiedenheiten. Dennoch kann man aus der Geschichte lernen, wenn nicht
über das Virus, dann wenigstens über uns selbst in Zeiten einer Pandemie. Zudem gibt
es wissenschaftliche Erkenntnisse zur Entstehung von Krankheit – physisch wie psychisch
– durch Stress, beim Einzelnen, aber auch in Paar-Gemeinschaften. In systematischer
Hinsicht folgt daraus, dass die Erkrankung von Vielen – Epidemie oder Pandemie – Stress
erzeugt und der wiederum krank macht. Hierdurch entstehen Teufelskreise und Widersprüche,
inmitten derer politische Entscheidungen gefällt werden müssen. Diese wiederum können
gar nicht unabhängig von kulturellen Gegebenheiten sein, was die Sache nochmals komplexer
macht.
Historisch: Mehr als 3000 Jahre Pocken, Pest und mehr
Historisch: Mehr als 3000 Jahre Pocken, Pest und mehr
Epidemien und Pandemien gab es im Laufe der Geschichte immer wieder. Die ersten wurden
schon vor der christlichen Zeitenwende vor etwa 3500 Jahren im alten Ägypten und Kleinasien
beschrieben. Auch im antiken Athen und Rom wurden mehrere zeitlich gut abgrenzbare
Epidemien mit damals pandemischen Ausmaßen beschrieben.[
1
] Man weiß bis heute nicht in allen Fällen, um welche Krankheit oder Krankheiten es
sich gehandelt haben mag, kann jedoch aus Beschreibungen, sofern sie detailreich genug
sind, Vermutungen ableiten. So handelte es sich bei der Antoninischen Pest (benannt
nach dem römischen Kaiser Marcus Aurelius Antoninus) vermutlich um die Pocken, d.
h. der Erreger war nicht ein Bakterium (Yersinia pestis), sondern ein Virus. Die zur
Zeit des oströmischen Kaisers Justinian (527–565) ausgebrochene Justinianischen Pest,
war dagegen tatsächlich eine, die von 541 bis 770 alle 15 bis 25 Jahre immer wieder
auftrat und an der insgesamt ein Viertel bis die Hälfte der Bevölkerung Roms verstarb
(▶[
Tab. 1
]).
Tab. 1
Epidemien in der Geschichte (unvollständige beispielhafte Übersicht, nach verschiedenen
Einträgen in Wikipedia).
Wann?
|
Wo?
|
Krankheit, Erreger
|
Kranke
|
Tote
|
etwa 1400 v. Chr.
|
Ägypten, Kleinasien
|
unbekannt
|
|
|
430–426 v. Chr.
|
Athen
|
unbekannt
|
|
bis zu 100 000
|
165–180 n. Chr.
|
Römisches Reich
|
wahrscheinlich Pocken-Virus
|
|
bis zu 10 Mio.
|
541–770 n. Chr.
|
Römisches Reich
|
Pest
|
|
|
1346–1353
|
„alte Welt“
|
Pest
|
|
etwa 25 Mio.
|
1494 – ca. 1550
|
Europa
|
Syphilis
|
|
|
1665–1666
|
England
|
Pest
|
|
100 000
|
1678–1679
|
Wien
|
Pest
|
|
12 000
|
1708–1714
|
Nord- und Osteuropa
|
Pest
|
|
1 Mio.
|
1813
|
Mainz
|
Fleckfieber
|
|
32 000
|
1817–1923
|
weltweit
|
Cholera
|
5 Pandemien
|
z. B. in Hamburg im Jahr 1892: 8605
|
1847–1848
|
Kanada
|
Typhus
|
|
20 000
|
1916
|
USA
|
Polio
|
|
> 6000
|
1918–1920
|
weltweit
|
Influenza (H1N1)
|
500 Mio.
|
50 Mio.
|
1957–1958
|
weltweit
|
Influenza (H2N2)
|
|
1–2 Mio.
|
1961–1990
|
weltweit
|
Cholera
|
|
mehrere Mio.
|
1968–1970
|
weltweit
|
Influenza (H3N2)
|
|
1 Mio.
|
1977–1978
|
weltweit
|
Influenza (H1N1)
|
|
500 000–700 000
|
seit 1980
|
weltweit
|
HIV
|
|
36 Mio.
|
2002–2003
|
weltweit
|
SARS-CoV
|
8096
|
774
|
seit 2004
|
weltweit
|
„Vogelgrippe“ Influenza (H5N1)
|
> 800
|
> 450
|
2009–2010
|
weltweit
|
„Schweinegrippe“ Influenza (H1N1)
|
|
> 18 000
|
2014–2016
|
Westafrika
|
Ebola-Virus
|
28 639
|
11 314
|
2015–2016
|
Südamerika
|
Zika-Virus
|
in Brasilien von 2015 bis 2018 ca. 400 000
|
|
ab April 2017
|
Jemen
|
Cholera
|
> 1,7 Mio.
|
> 3400
|
ab 2018
|
Kongo, Uganda
|
Ebola-Virus
|
3414
|
2237
|
ab 2020
|
weltweit
|
SARS-CoV-2
|
3 584 118
|
25 156[
*
]
|
* Quelle: Johns-Hopkins Dashboard; Stand: 5.5.2020, 6:32 Uhr.
Sie wird auch als „erste Pandemie“ bezeichnet, denn sie reichte vom westlichen Mittelmeerraum
(Spanien) bis Kleinasien, Syrien, Mesopotamien und Persien im Osten und im Norden
bis ins heutige Frankreich und Deutschland (Rheinland und Bayern). Man hat hierzu
nicht nur die Berichte der damaligen Geschichtsschreiber, sondern mittlerweile auch
naturwissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse. So wurde im Jahr 2005 im American Journal
of Physical Anthropology die Entdeckung von Erbsubstanz des Erregers der Pest – dem
Bakterium Yersinia pestis – bei 2 ausgegrabenen Skeletten (wahrscheinlich Mutter und
Kind) in Aschheim nordöstlich von München publiziert [34].
Gerade in jüngster Zeit häufen sich Forschungsberichte zur Genetik und Ausbreitung
des Pest-Erregers mit Hilfe der Untersuchung genetischen Materials von beispielsweise
Knochenfunden, die von Ausgrabungsstätten stammen. So publizierten deutsche Wissenschaftler
zusammen mit internationalen Kollegen eine Untersuchung von menschlichen Überresten
aus 21 archäologischen Grabungsstätten in Österreich, Großbritannien, Deutschland,
Frankreich und Spanien auf das Vorhandensein von Erbsubstanz des Pest-Erregers und
rekonstruierten dessen Mutationen und damit dessen Evolution während der Justinianischen
Pandemie, also während der Jahre 541 bis 750 nach Christus [35].
Die Pest im Mittelalter wurde auch als „Schwarzer Tod“ bezeichnet. Es gab in Europa
immer wieder Ausbrüche in verschiedenen Regionen, von denen wir nicht zuletzt aufgrund
literarischer Zeugnisse wissen: Boccaccios berühmtes „Dekameron“ ist eine Sammlung
von 100 Novellen, die zwischen 1349 und 1353 entstanden ist. Die Rahmenhandlung spielt
in einem Landhaus in den Hügeln von Florenz, in das 7 Frauen und 3 junge Männer vor
der Pest flüchten, die im Frühjahr und Sommer des Jahres 1348 in der Toskana wütete.
Die Beschreibung der Pest in Florenz ist beklemmend realistisch und dient noch bis
heute als historische Quelle über diese Epidemie. Fünfhundert Jahre später erscheint
Alessandro Manzonis „Die Brautleute“, dessen Handlung sich vor dem Hintergrund der
verheerenden Pest in der Stadt Mailand im Jahr 1630 abspielt. Auch dort findet man
bewegende Beschreibungen der Epidemie.
Betrachtet man die Übersicht in der Tabelle etwas genauer, dann fällt auf, dass es
im Verlauf der Geschichte sowohl weltweite Pandemien relativ kleinen als auch lokale
Epidemien relativ großen Ausmaßes gegeben hat. Der Cholera-Ausbruch im Jemen seit
2016 ist Teil der siebten Cholera-Pandemie und gilt als die weltweit größte bekannte
Cholera-Epidemie der Geschichte. Das Zika-Virus wurde im Jahr 1947 in einer Forschungsstation
im Zika-Wald in Uganda isoliert und beim Menschen erstmals 1952 in Uganda und Tansania
nachgewiesen. Seitdem breitete es sich symptomlos in Afrika und Asien weiträumig aus.
Man konnte dies nur durch entsprechende Tests feststellen, weil bis zum Jahr 2007
weniger als 15 Infektionen beim Menschen bekannt waren. Erst als es sich über den
Pazifik nach Südamerika ausgebreitet hatte, gab es dort 2015/2016 eine Zika-Virus-Epidemie
mit grippeartiger Symptomatik. Bekannt wurde das Virus dadurch, dass es bei schwangeren
Frauen schwere Schädigungen des Fötus verursachen kann.
Die mit geschätzten 500 Millionen Infizierten weltweit größte Pandemie gab es vor
gut 100 Jahren und verlief von 1918 bis 1920 in 3 Wellen. Sie wurde „Spanische Grippe“
genannt, weil die ersten Nachrichten über die Seuche aus Spanien kamen. Dies wiederum
lag nicht an der Verbreitung des Virus, das vermutlich seinen Ausgangspunkt in den
USA hatte, sondern daran, dass Spanien im Ersten Weltkrieg ein neutrales Land war
und daher die – bei Kriegsparteien übliche – Zensur der Presse nicht so stark ausgeprägt
war. So kam es, dass im Frühling des Jahres 1918 Berichte über die Krankheit in Spanien
nicht wie in anderen Ländern unterdrückt wurden. Nachdem Anfang Sommer in Spanien
berichtet wurde, dass eine vergleichbare Krankheit ansonsten in ganz Europa nicht
beobachtet worden war, setzte sich international ab Mitte Sommer 1918 die Bezeichnung
„Spanische Grippe“ zunehmend durch. Besonders die kriegsführenden Regierungen förderten
das, um die tatsächliche Verbreitung auch im jeweils eigenen Land zu vertuschen.
Man sieht schon an dieser kurzen Darstellung, dass das Geschehen nicht nur von Krankheitserregern
– Influenza-Viren des Typs H1N1 – bestimmt wird, sondern vor allem auch von den Gegebenheiten
in den menschlichen Gesellschaften, in denen sich die Erreger ausbreiten. Hungersnöte,
Kriege, Truppenbewegungen oder andere soziologische bzw. ökonomische Faktoren können
als soziokultureller Hintergrund, Auslöser oder sogar als Ursache von Pandemien interpretiert
werden. Das trifft für alle Pandemien zu, die eine komplexe Geschichte haben.
Mit der Spanischen Grippe war etwa ein Drittel der damaligen Weltbevölkerung infiziert,
wovon mindestens 10 % (50 Millionen Menschen) verstarben. Zum Vergleich: Im ersten
Weltkrieg starben 17 Millionen Menschen. Die Sterblichkeit war bei Kindern unter 5
Jahren, bei 20- bis 40-Jährigen und bei über 65-Jährigen besonders hoch. Das gab es
bei keiner anderen Pandemie. Wie bereits erwähnt, trat die Spanische Grippe in 3 Wellen
auf: Die erste Ausbreitungswelle im Frühjahr 1918 wies keine deutlich erhöhte Todesrate
auf. Erst während der Herbstwelle 1918 und der dritten Welle im Frühjahr 1919 stieg
die Rate der Sterbefälle deutlich an.
Eine Variante des Subtyps H1N1 verursachte in den Jahren 1977/1978 den Ausbruch der
Russischen Grippe. Die „Vogelgrippe“ des Jahres 2004 wurde von Influenza-Viren des
Subtyps H5N1 und die „Schweinegrippe“ des Jahres 2009 wiederum durch eine Variante
von H1N1 verursacht. Die Asiatische Grippe (1957, Subtyp H2N2) und die Hongkong-Grippe
(1968, Subtyp H3N2) basierten auf anderen Subtypen.
Systematisch: Stress macht krank …
Systematisch: Stress macht krank …
Im Gegensatz zu Bakterien, Würmern oder anderen Parasiten replizieren sich Viren nicht
selbst. Strenggenommen „leben“ Viren ja auch gar nicht, sie betreiben keinen Stoffwechsel
(wie Bakterien oder Pflanzen) und bewegen sich nicht (wie Tiere). Es sind „tote“ Baupläne,
die ein Lebewesen mit all dessen metabolischer Maschinerie brauchen, um irgendeinen
Effekt zu haben. Dieses Lebewesen baut dann mit dem Virus-Bauplan neue Viren, d. h.
vermehrt die Zahl der Baupläne (die Pläne selbst hingegen tun nichts). Was auch immer
geschieht, wenn ein für Menschen pathogenes Virus einen Menschen infiziert, wird vom
Menschen bewerkstelligt. Das Virus liefert nur den Plan; es ist nichts anderes als
der Plan mit etwas Verpackungsmaterial drum herum. Der Umsetzer, der Virenbauer, ist
der Mensch. Daher hängt es auch ganz entscheidend vom Menschen ab, was geschieht,
wenn ein Virus ihn befällt.
Ob ein Mensch beispielsweise eine Erkältung bekommt, wenn man Viren, die Schnupfen
verursachen, in dessen Nase einbringt, hängt sehr stark von diesem Menschen ab. Denn
nur etwa ein Drittel aller Menschen, die man im Experiment mit Schnupfen-Viren zu
infizieren versucht, entwickelt auch tatsächlich eine Infektion der oberen Atemwege
(Schnupfen) – bei den anderen zwei Dritteln geschieht nichts! Wie kann das sein? Mit
dieser Frage hat sich der US-amerikanische Psychologe Sheldon Cohen mit einigen Kollegen
über Jahrzehnte hinweg im Rahmen des „Common Cold Projekts“ beschäftigt [5]–[13]. Sie führten ihre Untersuchungen nicht mit SARS-CoV-2, aber unter anderem auch mit
Corona-Viren durch, die Erkältungen verursachen (nicht jedoch Covid-19).
Der Leser wird sich wundern, was Wissenschaftler so alles anstellen, um verlässliches
Wissen über die Entstehung von Krankheiten zu erhalten. Bei Cohen war das Neue an
seiner Forschungsmethode, dass er freiwillige Probanden zunächst nach derzeitigem
Stress befragte, dann mit Erkältungsviren infizierte, die Erkältungen hervorrufen,
um dann nachsehen zu können, wer infiziert wurde und auch Symptome entwickelte und
ob das mit dem zuvor erlebten Stress in Zusammenhang steht.
In der ersten von 5 größeren Studien [13], die im renommierten New England Journal of Medicine publiziert wurde, verabreichte
er an insgesamt 394 gesunden Probanden Nasentropfen, die jeweils eines von 5 Erkältungsviren
enthielten: Rhinovirus Typ 2, 9 oder 14, respiratorisches Syncytialvirus oder Coronavirus
Typ 229E. Weitere 26 Probanden erhielten Nasentropfen, die nur Kochsalz enthielten.
Danach wurden alle Teilnehmer in Quarantäne geschickt und das Auftreten einer Erkältung
wurde anhand der Symptomatik und einer zugleich nachgewiesenen Virusinfektion festgestellt.
Hierbei wurde eine klare Abhängigkeit sowohl des Auftretens von Atemwegsinfektionen
als auch von Erkältungen vom vorher bestehenden Stress-Niveau gefunden. Mit zunehmendem
Grad der psychischen Belastung stiegen die Infektionen von 74 % bis 90 % aller Probanden
an. Klinisch wurde Schnupfen bei 27 % bis 47 % der Probanden gefunden (▶[
Abb. 1
]).
Abb. 1 Zunahme der relativen Häufigkeit (in Prozent), eine Erkältung zu bekommen, in Abhängigkeit
vom erlebten psychologischen Stress (nach Daten aus [13]).
Diese Effekte wurden nicht durch das Alter, Geschlecht, Gewicht, die Ausbildung oder
den Allergiestatus der Probanden hervorgerufen, und ebenso wenig durch die Jahreszeit,
in der die Untersuchungen erfolgten, die Anzahl der in einem Haushalt zusammen in
Quarantäne untergebrachten Personen und deren Infektionsstatus, und auch nicht durch
den virusspezifischen Antikörperstatus vor Beginn der Studie beeinflusst. Darüber
hinaus war der beobachtete Zusammenhang für alle 5 Viren-Typen ähnlich, wenn auch
die Häufigkeit, mit der ein Schnupfen auftrat, zwischen den Viren unterschiedlich
war: von 23,3 % bei Rhinoviren Typ 2 bis 61,2 % bei Coronaviren.
Mehrere potenzielle Stress-Krankheits-Mediatoren, darunter Rauchen, Alkoholkonsum,
Bewegung, Diät, Schlafqualität, die Anzahl weißer Blutkörperchen und die Gesamt-Immunglobulinkonzentration,
konnten den Zusammenhang zwischen Stress und Krankheit nicht erklären. Auch Persönlichkeitsvariablen
hatten keinen Einfluss. Daraus leiteten die Autoren einen klaren „dosisabhängigen“
Einfluss von psychologischem Stress auf das Risiko für akute infektiöse Atemwegserkrankungen
im Sinne einer Erhöhung ab, die eher auf erhöhte Infektionsraten als auf eine erhöhte
Häufigkeit von Symptomen nach der Infektion zurückzuführen war.
In einer weiteren bekannten und hochrangig publizierten experimentellen Studie an
276 gesunden Probanden (151 Frauen) im Alter von 18 bis 55 Jahren wurde erneut untersucht,
ob und wie unser Sozialleben die Anfälligkeit gegenüber einem ganz normalen Schnupfen
beeinflusst [10]. Hierzu wurden die Teilnehmer zunächst nach ihrem sozialen Netzwerk befragt, wobei
12 Typen sozialer Beziehungen einzeln betrachtet wurden: (1.) Partner, (2.) Eltern,
(3.) Schwiegereltern, (4.) Kinder, (5.) andere nahe Familienmitglieder, (6.) Nachbarn,
(7.) Freunde, (8.) Berufskollegen, (9.) Klassenkameraden, (10.) Kollegen im Bereich
freiwilliger/ehrenamtlicher Hilfe, (11.) Mitglieder von Vereinen oder beruflichen
Organisationen und (12.) Mitglieder von Religionsgemeinschaften. Sofern man mit einer
anderen Person aus einer dieser 12 Beziehungstypen innerhalb der vergangenen 2 Wochen
gesprochen (d. h. persönlichen Kontakt gehabt oder telefoniert) hatte, wurde ein Punkt
vergeben, sodass die maximale Anzahl von Punkten, die ein Proband erhalten konnte,
bei 12 lag.
Neben diesem Maß für die Verschiedenheit der Sozialkontakte einer Person (Netzwerk-Diversifikation)
wurde auch die Anzahl der Personen je Beziehungstypus erfasst (z. B. 2 Eltern, 3 Kinder,
1 Nachbar und 5 Freunde) und damit die Größe des sozialen Netzwerks einer Person.
Dann wurde jeder Proband für eine Woche in Quarantäne genommen und und für einen weiteren
Tag beobachtet, um eine bestehende Erkältung auszuschließen und noch andere medizinisch-diagnostische
Arbeiten durchzuführen. Im Anschluß erfolgte dann die Infektion mit 2 Typen von Erkältungsviren,
die in Form von Nasentropfen appliziert wurden. Man steckte also jeden Teilnehmer
mit einem Erkältungsvirus an, weswegen jeder Teilnehmer auch 800 US-Dollar (!) für
die Teilnahme erhielt (das macht 220 800 US$ Probandengelder!). Dann wurde abgewartet
und Erkältungssymptome wurde objektiv erfasst. Zudem wurden die Probanden nach subjektiv
erlebten Symptomen von Krankheit befragt.
Es zeigte sich dabei ein klarer Zusammenhang zwischen der Diversifikation der sozialen
Kontakte einer Person und der Wahrscheinlichkeit, eine Erkältung zu bekommen (▶[
Abb. 2
]). Die Zahl der Personen im sozialen Netzwerk hatte demgegenüber keine entsprechende
Auswirkung. Auch weitere Kontrollvariablen konnten die Auswirkungen der sozialen Beziehungen
auf das Auftreten einer Erkältung nicht oder nur zu einem sehr kleinen Teil erklären
– im Gegenteil: Der Zusammenhang zwischen sozialem Netzwerk und Erkältung wurde nach
Einbeziehung der Kontrollvariablen eher noch größer.
Abb. 2 Häufigkeit des Auftretens einer Erkältung nach Infektion durch Erkältungsviren auf
die Nasenschleimhaut von Probanden in Abhängigkeit von deren sozialem Netzwerk (Mittelwerte
und Standardfehler). Der Effekt der Diversifikation des sozialen Netzwerks – in der
Abbildung gruppiert nach der Anzahl der unterschiedlichen sozialen Beziehungen in
„niedrig“ (1–3), „mittel“ (4–5) und „hoch“ (≥ 6) – war statistisch bedeutsam (nach
Daten aus [10]).
Es könnte nun sein, dass der beschriebene Effekt eine ganz einfache Erklärung hat:
Wer viele unterschiedliche Sozialkontakte hat, ist auch mit größerer Wahrscheinlichkeit
schon früher mit dem Erkältungsvirus in Kontakt gekommen und könnte genau deswegen
eine höhere Immunität besitzen. Für diese Vermutung könnte auch die Tatsache sprechen,
dass der Persönlichkeitsfaktor Extraversion den gleichen Effekt hatte: Je extravertierter
ein Proband war, desto niedriger war seine Wahrscheinlichkeit, eine Erkältung zu bekommen.
Allerdings hingen beide Variablen zusammen (extravertierte Menschen haben diversifiziertere
Sozialkontakte), und der Persönlichkeitsfaktor Extraversion erklärte in entsprechenden
statistischen Analysen den Zusammenhang zwischen Netzwerk-Diversifikation und dem
Auftreten einer Erkältung nicht. Das spricht eher gegen die Erklärung des Zusammenhangs
als Ausdruck einer bereits vorliegenden Immunität.
Völlig ausschließen konnte man diese Erklärung dadurch, dass man bei allen Probanden
vor Beginn der Studie den Serostatus untersuchte, d. h. in deren Blut nach Antikörpern
gegenüber dem verabreichten Virus suchte. Hierbei ergaben sich keine Unterschiede
im Verteilungsmuster des Erkrankens sero-positiver und sero-negativer Probanden, auf
die in ▶[
Abb. 2
] dargestellten 3 Gruppen. Auch der Typ des Virus hatte keinen Einfluss. Die Bedeutung
dieses Befundes für die Interpretation ihrer Ergebnisse wird von den Autoren klar
hervorgehoben: „Von besonderem Interesse für die Interpretation unserer Daten ist,
dass die Netzwerk-Diversität und die Infektionsraten mit der Erkältung gleich über
beide Virus-Typen und über die (vor der Infektion gemessene) sero-positiven und sero-negativen
Probanden sind“ [8]. Die Unterschiede zwischen den Gruppen lagen also nicht an unterschiedlicher vorher
bestehender Immunität, d. h. daran, dass einsame Menschen weniger Kontakt mit anderen
hatten und daher in geringerem Maße immunisiert waren. Vielmehr zeigen diese Ergebnisse,
dass die geringere Anzahl sozialer Verbindungen zur vermehrten Anfälligkeit für Infektionen
führte.
Man hatte zu Beginn auch die Konzentrationen von Adrenalin und Noradrenalin im Blut
gemessen. Teilte man die Gesamtgruppe in diejenigen mit überdurchschnittlichen und
diejenigen mit unterdurchschnittlichen Werten ein, ergab sich bei beiden Stresshormonen,
dass für Personen mit überdurchschnittlichen Konzentrationen das Risiko eines Schnupfens
höher lag. Dieses Ergebnis spricht sehr für die Interpretation der Befunde dahingehend,
dass Stress eine Verminderung der Immunabwehr zur Folge hat. Da man zudem bei 99 %
der Probanden eine Infektion tatsächlich nachgewiesen hatte (nicht alle Infizierten
zeigten jedoch Symptome einer Erkältung), bleibt kaum eine andere Erklärung (vor allem
für die Gruppe der im Hinblick auf das zur Infektion verwendete Virus sero-negativer
Probanden) übrig als die, dass ein breit gefächertes soziales Netz das Risiko vermindert,
einen Schnupfen oder andere Infektionskrankheiten zu bekommen. Ganz konkret war das
relative Risiko, einen Schnupfen zu bekommen, in der Gruppe mit weniger als 3 sozialen
Bezügen 4,2-fach größer als in der Gruppe mit 6 oder mehr sozialen Bezügen.
Das Alter, Geschlecht, die Jahreszeit (Frühjahr oder Herbst), das Körpergewicht (Body
Mass Index, BMI) und der Bildungsgrad der Teilnehmer hatte wie in der ersten Studie
dagegen keinen Einfluss auf die Erkältungssymptome. Und obwohl Rauchen, schlechter
Schlaf, Alkoholabstinenz, geringe Vitamin-C-Einnahme mit der Nahrung und Introvertiertheit
mit einer erhöhten Anfälligkeit, eine Erkältung zu bekommen, einhergingen, konnten
diese Faktoren allein den Zusammenhang zwischen dem breiter gefächerten sozialen Netz
und dem verminderten Risiko, einen Schnupfen zu bekommen, nicht erklären. Auch 3 weitere
Studien zeigten, dass ein Virus für sich allein keine ausreichende Ursache für eine
Infektion der oberen Atemwege ist. Chronischer Stress – insbesondere länger als einen
Monat anhaltende Beziehungsprobleme (Trennung, Scheidung) oder Probleme am Arbeitsplatz
(geringe Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit) – erhöht jedoch das Infektionsrisiko
deutlich (▶[
Abb. 3
]).
Abb. 3 Einfluss der Dauer des Stressors (Probleme in der Partner-Beziehung oder im Hinblick
auf die Arbeit) in Monaten auf das relative Risiko einer Erkältung im Vergleich zu
keinem Stressor (dessen relatives Risiko mit 1 gleichgesetzt ist). Man sieht deutlich
die Dosisabhängigkeit des Effekts (Erkältung nach Infektion mit einem Virus) von der
Dauer des Stressors (nach Daten aus [10]).
Die Annahme, dass das Virus die Hauptursache für eine Erkältung ist, und psychosoziale
Faktoren lediglich die Auswirkungen des Erregers geringfügig beeinflussen, wird also
durch diese Untersuchungsergebnisse widerlegt. Zwar gibt es keinen Schnupfen ohne
Virus, aber es gibt kaum Schnupfen ohne Stress, d. h. ohne eine Verminderung der Abwehrkräfte.
Es geht hier nicht um vage oder gar metaphorische Zusammenhänge, sondern vielmehr
um reale Wahrscheinlichkeiten, mit denen biologisch nachvollziehbare Sachverhalte
beschrieben werden. Im Lichte dieser und weiterer Erkenntnisse kommentierte die Präsidentin
der US-amerikanischen Psychologischen Gesellschaft (American Psychological Society,
APS) die Corona-Krise im Mai-Juni-Heft des Verbandsorgans APS Observer [15] wie folgt:
„Wenn psychologische Faktoren ursächlich zu Atemwegserkrankungen beitragen, dann könnte
wissenschaftliche Forschung zu diesen Faktoren direkt für Ärzte, Epidemiologen und
Virologen an der Front der COVID-19-Pandemie bedeutsam sein. Diese Forschung könnte
tatsächlich genauso wichtig sein wie die stärker biologisch ausgerichtete Forschung,
die heutzutage die Titelseiten der großen Zeitungen füllt. Die Zementierung einer
gar nicht existierenden Grenze zwischen Körper und Geist, Leib und Seele, in den Köpfen
der Leute schwächt unser Verständnis von Krankheit, und so ist es tragisch (und offen
gestanden ärgerlich), dass die Entscheidungsträger in diesem sich entfaltenden Drama
und die Medien, die darüber berichten, einen blinden Fleck für Forschung haben, die
diese Grenze auflöst“ [15].
Halten wir fest: Psychologische Faktoren spielen bei Infektionskrankheiten eine große
Rolle. Zwar wissen wir noch nicht, ob Befunde aus dem Common Cold Project auf eine
Atemwegsinfektion durch das COVID-19-Virus verallgemeinert werden können. Aber ein
Teil der Experimente wurden mit Corona-Viren gemacht, die Atemwegserkrankungen verursachen.
Zwar wurde nicht mit dem Virus SARS-CoV-2 experimentiert, denn es gab ihn vor 20 bis
30 Jahren noch nicht. Zudem hätte man diese Experimente wegen der Gefährlichkeit der
von ihm verursachten Krankheit Covid-19 auch nicht gemacht. Dennoch sind die Ergebnisse
von Cohen und Mitarbeitern sowohl für die Corona-Pandemie als auch für die Maßnahmen
zu deren Eindämmung von großer Bedeutung. Denn sie betreffen nicht in erster Linie
das Virus, sondern uns! Chronischer Stress macht uns anfälliger für die unterschiedlichsten
Viren, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass diese Tatsache über uns für Infektionen
mit dem neuen Corona-Virus SARS-CoV-2 nicht zutreffen.
Dies gilt auch für Forschungsergebnisse, die darauf hindeuten, dass chronischer Stress
die Wirksamkeit von Impfstoffen zur Bekämpfung von Infektionen beeinträchtigen kann
[19], [27], [32]. Ganz grundsätzlich produziert bei einer aktiven Impfung das Immunsystem des Körpers
Antikörper gegen einen neuen Virusstamm. Man erreicht dies durch Verabreichung abgeschwächter
bzw. veränderter Viren des neuen Stamms. Der Körper produziert dann gegen diese „Antigene“
Antikörper, was natürlich ein funktionierendes Immunsystem voraussetzt. Ist es geschwächt,
ist die Impfreaktion beeinträchtigt, wie Metaanalysen gezeigt haben [36]. Leider sind die Zusammenhänge zwischen Immunsystem und psychologischem Stress trotz
intensiver Studien noch nicht völlig geklärt. Aber wir wissen, dass soziale Integration
(Familie, Freunde, Arbeitskollegen, Nachbarn, Vereinskameraden, Religionsgemeinschaft)
und soziale Unterstützung (d. h. Menschen, die man kennt und die einem in Schwierigkeiten
auch tatsächlich helfen) Gesundheit und Widerstandskraft gegenüber Infektionen verstärken,
wohingegen soziale Isolation und das Erleben von Einsamkeit das Gegenteil bewirken.
Nach allem, was wir aus sehr vielen Untersuchungen wissen, sind Menschen in der frühen
Kindheit und während der Zeit der Adoleszenz in besonderer Weise durch psychologischen
Stress gefährdet. So führt Armut während der ersten tausend Tage des Lebens – gemessen
vom Zeitpunkt der Entstehung einer befruchteten menschlichen Eizelle bis zum zweiten
Geburtstag des Kindes – nicht nur zu einer Verminderung des körperlichen Wachstums
(man spricht im Englischen von „Stunting“, zu Deutsch: „Wachstumsstörung“ oder „Verkümmerung“),
sondern auch zu einer Beeinträchtigung der Gehirnentwicklung und zu einer stärkeren
Reaktion auf Stress beim Kind, was bis in dessen Erwachsenenalter anhalten kann. Ganz
konkret konnte man zeigen: Je mehr Jahre während der (vor allem frühen) Kindheit die
Eltern schon Eigentümer eines Hauses waren, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit,
dass man die (mittlerweile erwachsenen) Kinder mit einem Erkältungsvirus anstecken
konnte und sie Erkältungssymptome aufwiesen (▶[
Abb. 4
]).
Abb. 4 Häufigkeit von Infektionen (links) und manifesten Erkältungen (Symptome) bei erwachsenen
Kindern in Abhängigkeit davon, für wie viele Jahre die Eltern zur Zeit von deren Kindheit
ein eigenes Haus besaßen (nach Daten aus [5]).
Regierungen, medizinische Versorger und Wissenschaftler haben sich im Verlauf der
Corona-Krise vielfach damit befasst, die Kurve abzuflachen (d. h. die Zahl der Infizierten
zu vermindern), um die medizinischen Versorger nicht zu überfordern (▶[
Abb. 5
]). Dies geschah in manchen Gegenden (Bergamo, Madrid, Elsass, New York), was dazu
führte, dass nicht für alle Kranken genügend Intensivbetten und Beatmungsgeräte zur
Verfügung standen. Daher sind Menschen gestorben, die möglicherweise hätten gerettet
werden können. Da weder ein Medikament noch eine Impfung gegen das Corona-Virus existieren,
beschränken sich die möglichen Maßnahmen auf nicht pharmakologische Interventionen
wie Verbote von Menschenansammlungen, Tragen von Schutzmasken, Ausgangsbeschränkungen,
die Schließung von Bildungseinrichtungen, vielen Geschäften, Büros und Firmen.
Abb. 5 Das Prinzip der Abflachung der Kurve, die die Anzahl behandlungsbedürftiger Fälle
über die Zeit beschreibt („Flattening the curve“). Steigt die Zahl der Fälle rasch,
so übersteigt sie die Zahl der zur Verfügung stehenden Intensivbetten bzw. Beatmungsgeräte.
Alle Fälle, die zwischen roter und blauer Kurve liegen, können also nicht behandelt
werden (und können dadurch versterben). Je langsamer die Epidemie verläuft, desto
eher verläuft die Anzahl der Fälle immer unter der Kapazität (grüne Kurve). Dadurch
wird vermieden, dass für behandlungsbedürftige Patienten aus Kapazitätsgründen keine
Behandlung erfolgen kann. Der Nachteil ist eine längere Dauer der Epidemie.
Diese Maßnahmen erwiesen sich in vielen Ländern als wirksam, insbesondere in Deutschland,
wo sie etwas früher als anderswo erfolgten und den Verlauf der Pandemie deutlich abgemildert
haben. Am Fehlen eines Intensivbetts ist hierzulande niemand gestorben.
… und Epidemien machen Stress
… und Epidemien machen Stress
Wenn sich Paare bei der Hochzeit gegenseitig versprechen, „in guten wie in schlechten
Zeiten“ zusammenzubleiben, dann denken sie – wenn sie überhaupt darüber nachdenken,
was mit „schlechten Zeiten“ gemeint ist – wahrscheinlich eher nicht daran, was das
Auftreten einer Pandemie für ihre Beziehung bedeuten könnte. Sie sind damit nicht
allein, denn auch die Wissenschaft hat diese Frage nicht untersucht, wie eine kurze
entsprechende Literaturrecherche zeigte. Die Auswirkungen anderer, ähnlicher Stressfaktoren,
wie beispielsweise Naturkatastrophen oder Terrorakte, waren jedoch bereits Gegenstand
der wissenschaftlichen Forschung, sodass man zumindest Anhaltspunkte hat, um Vermutungen
zu äußern.
Bei der Mehrheit der wissenschaftlichen Untersuchungen zu den Auswirkungen von Stress
wurden Variablen untersucht, die sich auf das Individuum beziehen: Depressionen und
posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) kommen nach Katastrophen vermehrt vor,
vor allem im ersten Jahr danach [25]. Noch längerfristiger auftretende Folgen können chronische Verstimmungen wie Dysthymie
oder „Burnout“, Alkoholismus (oder andere Formen der Sucht) sowie vielerlei Entwicklungsstörungen
im Kindes- und Jugendalter sein. All diese Phänomene im Bereich der Psychopathologie
einer Einzelperson wurden und werden im Zusammenhang mit Stress diskutiert. Wie stark
soziale Isolation das Leben treffen kann, vermag die Schilderung einer Betroffenen
vielleicht besser als jede wissenschaftliche Studie zu psychopathologischer Symptomatologie
zu illustrieren (Kasten).
Der Gesichtspunkt, dass Menschen ganz grundsätzlich soziale Wesen sind und Psychopathologie
nahezu jeder Form sich immer auch im Sozialverhalten ausdrückt, ist in dieser Sicht
eine sekundäre Folge der (primären) psychischen Störung des Einzelnen. Versteht man
jedoch den Menschen ganz grundsätzlich als Gemeinschaftswesen, der ohne die Gemeinschaft
– ähnlich wie andere Gemeinschaftswesen (betrachten wir eine einzelne Ameise oder
Biene!) – nicht lebensfähig ist, dann wird der Blick frei für die Auswirkungen von
Stress direkt auf das Miteinander und damit auf die Kommunikation zwischen (mindestens
2) Menschen. Und das wiederum ist untersucht.
In funktionierenden Paarbeziehungen akzeptieren sich die Partner gegenseitig, haben
füreinander Verständnis und erleben sich gegenseitig als verständnisvoll, unterstützend
und um den anderen bemüht. Stress von außen – beispielsweise bei der Arbeit, durch
Arbeitslosigkeit oder wirtschaftliche Schwierigkeiten – kann dem Partner erschweren,
auf die Bedürfnisse des anderen einzugehen. Denn in solchen Situationen des externen
Stresses ändert sich bei vielen Menschen das Verhalten bei der Kommunikation: Sie
neigen zu vermehrter Kritik bzw. zu übertriebenem, rechtfertigendem Argumentieren.
Wenn dann noch wechselseitige Schuldzuweisungen hinzukommen oder die Sorgen des anderen
nicht ernst genommen werden, leidet die Paarbeziehung und die Unzufriedenheit mit
ihr nimmt zu [4]. So wundert es nicht, dass die Scheidungsraten nach Wirtschaftskrisen, Kriegen oder
Naturkatastrophen aufgrund der damit verbundenen, nahezu jeden betreffende wirtschaftlichen
Verluste ansteigen, wie man schon seit längerer Zeit weiß [22], [30], [33].
„Entschuldigen Sie, dass ich noch atme.“
Die allein in ihrem Haus lebende Amerikanerin Gloria Jackson aus Minnesota beschreibt
ihre Gedanken und Gefühle in der sozialen Isolation, wie man sie vielleicht nicht
besser beschreien kann [38].
„Ein Tag kann sich ewig hinziehen, wenn man vollkommen allein und isoliert ist. Ich
schlafe, so lange ich kann. Ich versuche, nicht auf die Uhr zu schauen. Ich gehe auf
Facebook und lese darüber, wie dieses Land auf vielfache Weise zur Hölle fährt. Ich
schalte den Fernseher ein, um ein bisschen Gerede zu hören. Fast 7 Wochen ist es her,
das ich Zeit mit einer wirklichen, lebendigen Person verbracht habe. Ich habe in dieser
Zeit niemanden berührt oder auch nur angesehen, und ich fange an, leichtsinnig zu
werden.
Ich bin 75 Jahre alt. Mit meinem Asthma, meiner Fibromyalgie und meiner Autoimmunerkrankung
bin ich mehr als genug beschäftigt. Für mich besteht der beste Weg zu überleben darin,
in meinem Haus zu sitzen, egal wie viele Wochen oder Monate es dauern wird. [… Computerspiele,
Bücher…] Ich weiß, dass die mir noch verbleibende Zeit eigentlich kostbar sein sollte;
aber gerade probiere ich jeden Trick aus, den ich kenne, um Zeit zu verschwenden.
Negative Gedanken schleichen sich so ein, ich werde mürrisch. Für meine Wutanfälle
und depressiven Phasen könnte ich mich ohrfeigen. – Aber anderen Menschen geht es
ja noch viel schlechter. Klar doch!
Ich bitte Gott um Vergebung dafür, dass ich so empfinde, aber er hat mich schließlich
zu dem gemacht, was ich bin. Mit Religion bin ich fertig. Früher war ich ein Optimist,
aber jetzt nicht mehr.
Ich war noch nie so wütend, und das ist ein sehr hässliches Gefühl. […] Facebook zieht
mich runter, und von einem Beitrag zum nächsten, noch verrückteren Beitrag herunterscrollend
schreie ich meinen Computer an. [Vizepräsident] Mike Pence war gerade hier in Minnesota
und besuchte Patienten in der Mayo-Klinik – ohne eine Maske zu tragen. „Wirklich?
Wie arrogant kann man eigentlich sein?“ Ein anderer postet Bilder von Menschen, die
sich am kalifornischen Strand wie Ölsardinen drängeln. „Ihr Idioten! Kümmert ihr euch
wirklich nur noch um euch selbst?“ Unser Präsident empfiehlt, sich Desinfektions-
oder Bleichmittel zu injizieren. „Nein danke, aber fangen Sie doch bitte selber an
sich zu vergiften.“ Ärzte müssen Müllsäcke tragen, weil sie keine Kittel mehr haben.
Noch immer haben wir nicht genügend Tests. Die meisten Toten sind über 70 und haben
Vorerkrankungen. „Das beruhigt mich jetzt aber sehr! Wen interessiert das überhaupt
noch?“ Irgendein Börsenmakler meint, dass die älteren Menschen aus Angst dieses Land
bei der Wiedereröffnung behindern, wo es doch ihre patriotische Pflicht sei, ihr Leben
für die Wirtschaft zu opfern. „Entschuldigen Sie, dass ich ihrem Finanzportfolio Schaden
zufüge. Entschuldigung Sie, dass ich noch atme.“
Das macht mich wütend. Ich habe mein Leben lang für die Regierung gearbeitet und mich
um Kriegsveteranen gekümmert. Ich habe meine Kinder alleine erzogen, meine Exmänner
auch. Für die Rechte von Frauen habe ich auf den Straßen protestiert. Ich bezahle
Steuern und die Flagge weht vor meinem Haus, weil ich ein Patriot bin, ganz gleich
wie tief Amerika noch fällt. Bin ich für dieses Land in den Augen der anderen nur
noch eine Last? Bin ich entbehrlich? Störe ich die anderen nur noch?
Dieses Land ist mittlerweile völlig anders als das, in das ich einwanderte. […] In
meiner Jugend war Amerika in allem führend. Als ich jung war, in allem führend. […]
Wir bauten mitten im kalten Winter eine 2000 km lange Autobahn durch die Rocky Mountains.
Wir taten, was wir wollten, nur um zu zeigen, dass wir das können. So zumindest fühlte
es sich damals an. Ein Jahr, nachdem ich mit 18 den Schulabschluss geschafft hatte,
verdiente ich schon mehr als meine Eltern. So ging das damals – aufwärts, aufwärts,
aufwärts.
Und was ist jetzt? Wir sind gemein. Wir sind egoistisch. Wir sind dickköpfig und zuweilen
sogar inkompetent. Das ist das Gesicht, das wir der Welt von uns zeigen. Es scheint
fast, als hätten andere Länder Mitleid mit uns. Neuseeland und Südkorea haben das
Virus nach einigen Wochen besiegt. Wir hatten erst Tausende und mittlerweile Zehntausende
von Toten – da sind wir offenbar jetzt führend in der Welt. […]
Hier gibt es keine Führung und keine Solidarität, jeder macht was er will und kämpft
für sich selbst. Das bedeutet, dass die Schwachen am meisten verlieren: Minderheiten,
Arme, Kranke, Einwanderer, Ältere. Wir sind diejenigen, die sich von dem Virus nie
erholen und sterben werden. Das ist die Wahrheit über unser Land. Ich hätte es eigentlich
schon früher wissen müssen.
Ich mag mich nicht so fühlen.“
Das muss nicht so sein. Wenn Paare gut kommunizieren und sich so zueinander verhalten,
wie es für langfristig erfolgreiche Paare typisch ist, dann überhören sie gelegentliche
Kritik einfach, vergeben ein verletzendes Wort oder eine entsprechende Tat und nehmen,
wenn es darauf ankommt, rasch die Perspektive des Partners ein. Wenn man erst einmal
die Welt mit dessen Augen betrachtet, treten Schuldzuweisungen, Feindseligkeit oder
gar Verachtung erst gar nicht auf. Wenn man diese negativen Verhaltensweisen vermeidet,
ist das schon die halbe Miete. Die andere Hälfte sind positive Erlebnisse, d. h. gemeinsame
stressfreie Aktivitäten, wie z. B. gemeinsam kochen, essen, ein Projekt durchführen,
sich mit Freunden treffen oder – auch das kann hier klar gesagt werden – gemeinsamer
Sex [17]. Was bedeutet das alles für den Einfluss von Epidemien auf Paarbeziehungen?
Zunächst einmal zeigten die Befunde hierzu, dass die Art des Stressors durchaus einen
Einfluss auf dessen Effekt auf die Paarbeziehung hat, wie Daten zu Scheidungs-, Heirats-
und Geburtenraten zeigen. Nach dem Hurrikan Hugo zum Beispiel stiegen die Scheidungs-,
Heirats- und Geburtenraten im folgenden Jahr in den am stärksten vom Hurrikan betroffenen
Gebieten im Vergleich zu den nicht betroffenen Gebieten an [6]. Andererseits gingen die Scheidungsraten nach dem Bombenanschlag in Oklahoma City
im Jahr 1995 und den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zurück [6], [23]. Der Grund dafür liegt möglicherweise in der unterschiedlichen Art, wie diese Katastrophen
auf uns wirken: Die Terroranschläge waren mit erheblichen Verlusten an Menschenleben
sowie mit Unsicherheit und Angst vor künftigen Anschlägen verbunden. Angesichts solcher
Bedrohungen suchen Menschen physische Nähe, Sicherheit und auch Trost bei nahestehenden
Menschen. Dies könnte erklären, warum sich Paare nach den Terroranschlägen einander
zuwandten und sich weniger scheiden ließen. Der Hurrikan Hugo in der Karibik und dem
südöstlichen Teil der USA vom September 1989 gilt als eine der verheerendsten Naturkatastrophen
in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Dennoch hatte er nur eine vergleichbar
kleine Zahl von Todesopfern zur Folge, wobei die Angaben nach unterschiedlichen Quellen
von 49 über 56 bis 76 schwanken. Aber mit über 10 Milliarden US$ Schäden und Zehntausenden
zerstörter Häuser und Wohnungen erforderte er einen langen Wiederaufbau, was eine
chronische Belastung für Ehen und Familien darstellte. In dem Jahr nach Hugo kam es
zu beidem, einem Anstieg der Eheschließungen (Bedürfnis nach Nähe und Trost) und der
Scheidungsraten (chronischer Stress) in den vom Wirbelsturm betroffenen Gebieten.
Epidemien sind zunächst einmal eine Form von externem Stress für Paare und Familien.
Die Bedrohung kann dabei ganz unterschiedlich sein, entweder eher „abstrakt“ in dem
Sinn, dass man sich beim Nachdenken über mögliche Auswirkungen auf einen selbst ängstigt;
oder ganz konkret, wenn man selbst erkrankt, arbeitslos wird oder finanzielle Verluste
erleidet. Wie Epidemien oder gar Pandemien sich auf Paarbeziehungen auswirken, lässt
sich daher nicht verallgemeinernd sagen. Es dürfte vielmehr stark von den spezifischen
Kontextbedingungen abhängen.
Interessanterweise weist die aktuelle Pandemie mit SARS-CoV-2 sowohl Merkmale von
Naturkatastrophen auf (langer Zeitraum, d. h. chronische Belastung, Lockdown mit Wirtschaftskrise
und Arbeitslosigkeit) als auch Merkmale von Terroranschlägen (Tausende von Todesfällen
in vielen Ländern, chronische Unsicherheit und Angst). Das eine geht mit einer Zunahme
von Scheidungen einher, das andere mit einem Rückgang. Was in einem bestimmten Land
(und aus welchem Grund) jeweils überwogen hat, wird wahrscheinlich noch Generationen
von Sozialwissenschaftlern beschäftigen.
Für den Einzelfall lässt sich aus alldem jedoch ableiten, dass Paare, die in der Lage
sind, während der Corona-Krise eine gute Kommunikation aufrechtzuerhalten und sich
gegenseitig zu unterstützen und aufeinander einzugehen, wahrscheinlich zusammenbleiben
werden und sich möglicherweise hinterher mehr verbunden fühlen als zuvor, weil sie
„den Sturm“ überstanden haben. Bei Paaren mit vorbestehenden Kommunikationsschwierigkeiten
und geringem Vermögen der gegenseitigen Unterstützung könnte die Krise jedoch zum
Tropfen werden, der das Fass zum Überlaufen bzw. zum Stein, der die Trennung ins Rollen,
bringt. Hinzu kommt leider, dass einkommensschwache Paare ein generell höheres Risiko
für Eheprobleme haben und tatsächlich höhere Scheidungsraten aufweisen [24], da ihr Stress-Niveau durch ökonomische Härten höher liegt.
Wie erwähnt sind soziale Distanzierung und das Verbleiben zu Hause der Schlüssel zur
Verringerung der Übertragung der Krankheit Covid-19. Diese Maßnahmen, die ja prinzipiell
zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung getroffen werden, haben leider zugleich
negative Auswirkungen auf die Volksgesundheit. Denn erstens führt soziale Isolation
zum Erleben von Einsamkeit, was für sich genommen bereits nachgewiesenermaßen Stress
auslöst (und die Konzentration von Stresshormonen im Blut ansteigen lässt [37]) und das Immunsystem schwächt. Zum Zweiten bedeuten Lockdown, Isolation und Ausgangsbeschränkungen
eine deutliche, zusätzliche Belastung für Paare und Familien. Die wirtschaftlichen
Folgen der Pandemie (bzw. unserer Reaktion auf sie) – Arbeitslosigkeit, Unsicherheit,
Armut – wirken ebenfalls in die gleiche Richtung, d. h. sie schwächen das Immunsystem
nachweislich. Nun ist es aber genau dieses Immunsystem, das uns vor der Krankheit
schützt (▶[
Abb. 6
]). Je länger die Maßnahmen und Beeinträchtigungen dauern, desto größer sind ihre
Auswirkungen. Wir befinden uns damit gerade dadurch, dass wir alles richtig gemacht
haben, in einer sehr schwierigen Situation: Unsere Maßnahmen schützen uns vor Krankheit
und schwächen zugleich unseren natürlichen Schutz vor der Krankheit.
Abb. 6 Der Teufelskreis der Epidemie ohne Therapie: Die Ausbreitung des Erregers kann nur
mit Distanzierung gebremst werden. Dies führt zu Einsamkeit und Stress und dieser
wiederum beeinträchtigt unsere Abwehrkräfte.
So betrachtet erweist sich auch die „Lockerung“ des Lockdown als Balanceakt: Wenn
es gut läuft, dann haben wir genug Distanz gegen die Ausbreitung und genug Nähe für
unser Immunsystem. Wenn es schlecht läuft, treffen mehr Erreger auf eine schwächere
Abwehr und die „zweite Welle“ wird zur Katastrophe.
Damit es nicht so kommt, ist ein gutes und genaues Verständnis unserer Psychologie
mindestens genauso wichtig wie ein Verständnis von Virologie. Psychologische Betreuung
– Abbau von Stress, Verringerung der Einsamkeit und allgemein die Bewältigung der
emotionalen Erfahrungen – kann wie das Abstandhalten und Maskentragen dazu beitragen,
die Kurve abzuflachen. Viele Menschen, darunter auch viele Wissenschaftler, klammern
sich an den Glauben an einen biologischen Determinismus sowie einfache, einheitliche
Ursachen: Das Virus SARS-CoV-2 ist die Ursache der Krankheit Covid-19. Alle anderen
Faktoren (psychologische, soziale, wirtschaftliche) sind „weich“ und wirken allenfalls
modulierend.
Diese Sicht der Dinge ist faktisch falsch, denn Menschen sterben schneller an einer
Infektion, wenn sie unter Bedingungen leben, die chronischen Stress und andere psychologische
Ursachen begünstigen, die eine Infektion wahrscheinlicher machen.
Politik: Föderalismus versus Flickenteppich
Politik: Föderalismus versus Flickenteppich
Die einen nennen es Föderalismus, die anderen sprechen von Flickenteppich. Fakt ist,
dass die Bundesländer mit Bezug auf die Corona-Pandemie durchaus unterschiedliche
Strategien und Verordnungen implementierten. In Baden-Württemberg waren die Regeln
der „Kontaktsperre“ weniger streng als die bayerischen „Ausgangsbeschränkungen“. Weil
ich in Ulm (Baden-Württemberg) an der Grenze zu Bayern (Neu-Ulm, auf der anderen Seite
der Donau) wohne, konnte ich miterleben, was das bedeutete: Vom 23.3. bis zum 20.4.
waren die Baumärkte in Bayern zu, in Baden-Württemberg dagegen offen. Das führte zu
langen Schlangen vor den Ulmer Baumärkten. Auch war es in Baden-Württemberg erlaubt,
zu zweit in 1,5 m Abstand mit einer „fremden“ Person unterwegs zu sein, in Bayern
dagegen nicht. Die bayerische Polizei verscheuchte im Englischen Garten sogar Leute,
die alleine auf der Wiese ein Sonnenbad nahmen oder auf einer Parkbank saßen und ein
Buch lasen. Dies führte dazu, dass die Bayern scharenweise über die Donau nach Baden-Württemberg
kamen, Bücher lasen, auf den Donauwiesen lagen oder sogar gemeinsam mit einem Freund
ihren Spaziergang – eben am „anderen“, gegenüberliegenden Donauufer – machten.
Eine Nachfrage des SWR beim bayerischen Polizeipräsidium Schwaben ergab weiterhin,
dass ein Württemberger grundsätzlich durchaus einen Ausflug ins bayerische Allgäu
machen dürfe, denn die bayerische Verordnung gelte in erster Linie für die Bayern,
wenn auch die Fußgänger bei ihrer Rückkehr über eine der Donaubrücken meines Wissens
nicht polizeilich kontrolliert wurden. Umgekehrt war der Fall ohnehin klar: „Wenn
man aus Ulm, also Baden-Württemberg, ins Bayerische fährt, dann ist die Fahrt kurioserweise
nicht unter Strafe gestellt“, erklärte das Polizeipräsidium am 3. April 2020. Umgekehrt
erging es dem Bayern, der in einem Ulmer Baumarkt etwas Sand einkaufte, bei seiner
Rückkehr über die Donau angehalten wurde und 800 € Strafe zahlen musste. Die Bayern
mussten sich also auch außerhalb Bayerns an die bayerischen Regeln halten.
Unterschiede gab es in diesem Zeitraum auch für Motorradfahrer: In Baden-Württemberg
war das Motorradfahren durchaus erlaubt, wohingegen in Bayern ein Motorradfahrer nur
dann unterwegs sein durfte, wenn er für die Fahrt triftige Gründe hatte – Einkaufen,
Arbeit oder Arzt. Reine Ausflugsfahrten waren verboten. Man muss sich schon fragen:
warum eigentlich? Wenn ein Motorradfahrer den Abstand von einem Meter und 50 Zentimetern
nicht einhält, dürfte er aus anderen Gründen als der Corona-Pandemie mit viel höherer
Wahrscheinlichkeit nicht sehr lange leben.
Ein für uns Deutsche spätestens seit dem Mauerfall vor gut 30 Jahren sehr stark gewöhnungsbedürftiger
Umgang mit den innerdeutschen Landesgrenzen wurde auch im Norden der Republik gepflegt:
Hamburger, die bei ihrem Spaziergang im Norden der Stadt die – völlig unbekannte und
auch unsichtbare – Landesgrenze zu Schleswig-Holstein überschritten, wurden von der
Landespolizei abgefangen und wieder zurückgeschickt, weil das Land seine Grenzen nach
Süden dicht gemacht hatte. Umgekehrt durften die Schleswig-Holsteiner jedoch – vollkommen
unbehelligt von der Hamburger Polizei – nach Hamburg zum Einkaufen fahren.
Noch uneinheitlicher, weil noch viel schwieriger, als die Maßnahmen gegen die Ausbreitung
des Virus ist deren Rücknahme. Dies erleben wir seit Anfang Mai. Die systematischen
Ursachen hierfür sind schon kompliziert genug. Die politischen Gegebenheiten machen
das Ganze zu einem kaum zu überschauenden Chaos.
Zugleich ist richtig, dass es große Unterschiede zwischen den Bundesländern gibt,
weswegen nicht überall alle Maßnahmen gleich notwendig oder gleich sinnvoll sind.
Hier ist eine besonnene Politik wirklich gefragt, die nicht beständig die Menschen
verunsichert, sondern klare Handlungsanweisungen gibt, begründet und kommuniziert.
Man mag sich ja über tägliche Corona-Sonder-Extra-Spezial-Sendungen im Fernsehen lustig
machen, aber andererseits: Was ist denn die Alternative? Wären die Zyniker denn mit
Desinformation (wie in den USA) oder einfach gar keiner Information (wie in einigen
despotisch geführten Ländern) eher zufrieden?
Kultur
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte in seiner Rede anlässlich des Geburtstagskonzerts
der Berliner Philharmoniker am 1. Mai 2020 in Berlin u. a. das Folgende „Kunst und
Kultur, die wir gemeinsam erleben können, sind keine verzichtbaren Nebensachen. Das
erfahren wir gerade in diesen Tagen wieder neu. Stärker als vielleicht sonst schätzen
wir das, was wir vermissen: Kunst und Kultur sind, in einem sehr buchstäblichen Sinn,
Lebensmittel.“
Man kann das nicht oft genug sagen, denn Kunst und Kultur sind eben nicht Beiwerk,
das man auch weglassen kann, solange man nur genug zu essen hat und die Wirtschaft
brummt. Kultur ist auch viel mehr als nur ein Besuch im Theater oder Museum. Es ist
vielmehr das, was uns zum Menschen macht, was wir der nächsten Generation vermitteln
und vor allem vermitteln wollen, was uns antreibt und was unser Leben mit Sinn erfüllt.
Das hat sehr viel mit Gemeinschaft zu tun, die wir zum Leben ebenso brauchen wie die
Luft zum Atmen und das Wasser zum Trinken. Wenn Schulen jetzt nicht mehr als Gemeinschaft
der Lernenden existieren, fehlt ihnen mehr als nur eine gute Erklärung hier und dort.
Und sowohl den Schülern als auch den Lehrern ist dies unmittelbar klar.
Vor 4 Wochen schrieb ich an gleicher Stelle gleich zu Anfang, dass ich noch nie ein
Editorial mit dem Wissen geschrieben habe, dass es veraltet sein würde, wenn es erscheint.
Dies scheint mir – nun als Reflektion am Ende – heute nicht minder der Fall zu sein.
Aber Gedanken reifen, und in Krisenzeiten tun sie das schneller: Klang es vor 4 Wochen
noch zynisch, wenn man darüber nachgedacht hat, welche positiven Auswirkungen die
Corona-Krise haben könnte – insbesondere für die Bewältigung der nächsten, viel größeren
Krise unser Klima betreffend –, so werden solcherlei Gedanken mittlerweile vielfach
und ohne Scheu geäußert: Wir wollen nicht zurück zum Zustand vor der Krise; wir sollten
mit öffentlichen Geldern nur stützen, was nachhaltig ist; und wir sollten Lehren aus
der Krise ziehen, beispielsweise für ein resilienteres Gesundheits- und vielleicht
sogar Wirtschaftssystem. Wer dafür noch im Februar argumentiert hätte, wäre verlacht
worden. Heute „liegt das auf der Hand“. Es ist schon erstaunlich, was eine Krise bewerkstelligen
kann!
Wenn ich heute mein Editorial zur Krise von vor 4 Wochen lese, das gerade erschienen
ist, fällt mir zweierlei auf, nämlich, wie schnell sich das Ziel unserer Bemühungen
bewegt und wie viel Glück wir dennoch gerade hierzulande in diesen 4 Wochen gehabt
haben. Musste man vor 4 Wochen noch dafür kämpfen, endlich den Mut zu haben, etwas
zu tun und nicht nichts, wie die Engländer oder die USA, so muss man heute dafür kämpfen,
den Mut zu haben, die Maßnahmen auch wieder zu lockern. Nicht nur das Corona-Virus,
sondern die gesamte Corona-Pandemie ist ein „Moving Target“, ein Ziel, das sich permanent
bewegt, und diese hohe Dynamik des Gesamtprozesses macht es schwer, zu einem gegebenen
Zeitpunkt die richtigen Entscheidungen zu treffen und zugleich leicht, hinterher klug
zu reden, was man hätte anders machen können.
Alle Welt beneidet Deutschland darum, wie es uns in der Krise geht. Für das bevölkerungsreichste
Land in Europa haben wir vergleichsweise wenig Infektionen, sehr wenige Tote und die
Lage insgesamt deutlich besser im Griff als unsere Nachbarn. Das bedeutet auch, dass
trotz der Schwierigkeit der Entscheidungen zumindest einige wichtige davon sehr gut
gewesen sein müssen – viel besser als die von Boris Johnson oder Donald Trump. Eine
Wissenschaftlerin als Kanzlerin kann definitiv nicht geschadet haben. Und mehr Wissenschaft
– das könnte die Lehre aus dem Land der Dichter und Denker an seine Nachbarn sein
– schadet nie.