Der Schmerzpatient 2020; 3(02): 79-87
DOI: 10.1055/a-1099-7350
Schwerpunkt
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Learning how to learn: Wie aus ‚Explain Pain‘ praktikables Wissen wird

Martina Egan Moog
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Martina Egan Moog
65 Bridge Street
Port Melbourne, VIC, 3207
Australien   

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Publication Date:
14 April 2020 (online)

 

Trotz bester Intention und höchster Motivation führt eine fundierte Edukation nicht bei jedem Patienten zur Schmerzlinderung und höheren Belastbarkeit. Therapeuten bezweifeln dann ihre neurophysiologischen Kenntnisse, stellen ihre pädagogischen Fähigkeiten infrage, oder sie bemängeln die Lernwilligkeit und Aufnahmefähigkeit des Patienten. Die pädagogische Psychologie offenbart versteckte Lernbarrieren und hilft bei der Umsetzung gehirn-gerechter Lernstrategien. In hartnäckigen Fällen werden festgefahrene Gedankengebäude geduldig belagert und mit Empathie, Suggestion und Raffinesse eingenommen.


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In ‚Explain Pain Supercharged‘ propagieren David Butler und Lorimer Moseley, dass die therapeutische Aufklärungsarbeit nützliches und anwendbares Wissen vermitteln sollte. Gewinnt ein Schmerzpatient neue Erkenntnisse, können seine Schmerzen gelindert und seine Belastbarkeit im Alltag gesteigert werden [1]. Diesem Anspruch gerecht zu werden, ist nicht immer einfach.

Questionnaires Um den Lernerfolg eines Patienten zu messen, bieten sich diverse Fragebogen an ([Tab. 1]). Im Optimalfall zeigen die Questionnaires eine positive Veränderung auf dem ‚Neurophysiology of Pain Questionnaire‘ in Korrelation mit einer subjektiv verbesserten Selbst- bzw. Schmerzwirksamkeit des Patienten, einer Steigerung seiner Funktionalität sowie einer Reduktion des emotionalen Leidens und der schmerzhaften Belastung im Alltag [2].

Tab. 1 Lizenzfreie Fragebogen zur Erfassung des neurophysiologischen Wissens eines Patienten und seiner Selbsteinschätzung.

Fragebogen

Abkürzung

Inhalt des Tests

Neurophysiology of Pain Questionnaire [2]

NPQ

neurophysiologisches Wissen

Patient-Specific Functional Scale [3]

PSFS

subjektive Selbsteinschätzung zur Funktion

Fragebogen zur Erfassung schmerzbezogener Selbstwirksamkeit [4]

FESS

subjektive Selbsteinschätzung zur Selbstwirksamkeit

Depression Anxiety Stress Scale [5]

DASS21-G

subjektive Selbsteinschätzung des emotionalen Leidens

Brief Pain Inventory Short-form [6]

BPI-SF

subjektive Selbsteinschätzung zur schmerzhaften Belastung im Alltag

Pädagogik vs. Andragogik

Pädagogik bedeutet ursprünglich „Erziehungskunst“. Heute bezieht sich der Begriff allein auf die Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen. Dementgegen beschäftigt sich die Andragogik mit der Erwachsenenbildung [7]. Für eine erfolgreiche Edukation im Erwachsenenalter sind folgende Aspekte ausschlaggebend [8], [9]:

  • Fördern des Verständnisses, warum Erwachsene lernen sollen:

    • Anknüpfen des neuen Wissens an die Alltagsrealität

  • Respektieren des Selbstkonzepts:

    • Erwachsene leben selbstbestimmt und eigenverantwortlich.

    • Erwachsene haben ihre eigene Art, um handelnd und reflektierend zu lernen.

  • Anknüpfen des Lernstoffs an Gelerntes:

    • Erwachsene bringen mehr Lebenserfahrung und Probleme in den Lernprozess ein.

  • Beurteilen der Lernbereitschaft bzw. des Stadiums der Verhaltensänderung:

    • Steigern der Lernmotivation durch Vorteile für Gegenwart und Zukunft

  • Aufbauen der zu erlernenden Kompetenzen auf individuelle Ziele und Motivationen:

    • Interne und externe Motivation (z. B. beruflich, soziale Rolle)


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Konzeptionelle Veränderung

Die Wissensvermittlung zielt auf eine konzeptionelle Veränderung des Lernenden ab. Dabei ist entscheidend, wer neue Informationen vermittelt, welche Botschaft weitergegeben wird, wer der Lernende ist, und in welcher Umgebung das Lernen stattfindet. Diese Variablen sollten miteinander harmonieren, damit eine Edukation erfolgreich ist ([Abb. 1], [Tab. 2]).

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Abb. 1 Variablen einer konzeptionellen Veränderung [1] (vgl. [Tab. 2]). (Quelle: NOI-Group: ‚Explain Pain Supercharged‘.)

Tab. 2 Variablen einer konzeptionellen Veränderung.

Variable

Erklärung

Aspekte

Lernender

Person, welche sich auf eine konzeptionelle Veränderung einlässt

  • Gesundheitskompetenz

  • Emotionale Belastung

  • Lerntyp:

    • visuell

    • auditiv

    • kinästhetisch

  • Innere Haltung/Mentalität:

    • statisch: „Fixed Mindset“

    • dynamisch: „Growth Mindset“

Sender/Botschafter

Person, welche die konzeptionelle Veränderung fazilitiert

  • Auftreten (bescheiden, sympathisch, empathisch etc.)

  • fundierte Kenntnisse zum biopsychosozialen Modell und zur Physiologie

  • Fähigkeit, Wissen über therapeutische Erzählungen oder Metaphern zu transportieren

  • Beruf- und Lebenserfahrung

  • Bereitschaft, den Lernenden als selbstständigen und gleichberechtigten Partner zu respektieren

Botschaft

Information und deren Vermittlung

  • Verwenden von „Change talk“ ([Tab. 3])

  • Verknüpfen neuer Informationen mit:

    • Werten/Zielen

    • positiven Veränderungen in Gegenwart und Zukunft

Kontext

physische, soziale und psychologische Umgebung

  • Erstkontakt in:

    • privater Praxis

    • stationärer Schmerzklinik

  • Zeit für die Konsultation

  • Vorerfahrungen mit Therapien und Therapeuten

Um beziehungsorientiert zu unterrichten, ist es wichtig, die Lernziele als Kompetenzen zu formulieren und die subjektive Wahrnehmung des Lernenden, seine Lebenserfahrung und sein Selbstkonzept in den Lernprozess miteinzubeziehen.

Definition

Konzeptionelle Veränderung

Unter einer konzeptionellen Veränderung versteht man die Veränderung bestehender gedanklicher Vorstellungen. Dieser Prozess ist kognitiv anspruchsvoll, zeitintensiv und im naturwissenschaftlichen Bereich oftmals schwierig. Gemäß der Theorie des ‚Conceptual Change‘ wird eine konzeptionelle Veränderung gefördert, wenn

  • der Lernende unzufrieden ist mit seiner bisherigen Vorstellung,

  • die neue Vorstellung verständlich und überzeugend ist, und wenn

  • die neue Vorstellung subjektiv betrachtet eine positive Konsequenz hat [10].

Fixed Mindset vs. Growth Mindset

Der Glaube des Lernenden an seine Entwicklungsfähigkeit ist die Voraussetzung für die tatsächlich stattfindende Entwicklung. Eine statische innere Haltung wird als „Fixed Mindset“, eine dynamische Mentalität als „Growth Mindset“ bezeichnet [11].

Fixed Mindset Für Personen mit „Fixed Mindset“ sind die Dinge so, wie sie sind. Dies kann bspw. die Überzeugung sein, dass Menschen aufgrund ihrer angeborenen Intelligenz vieles nicht verstehen oder beeinflussen können. Der statische Lerntyp unterliegt folglich einer „externen Kontrollüberzeugung“. Er neigt dazu, sich eher über Leistung zu definieren, will Fehler vermeiden und sucht die Schuld bei anderen.

Growth Mindset Lernende mit „Growth Mindset“ sind überzeugt, dass eine Entwicklung jederzeit möglich ist. In ihren Augen kann sich menschliche Intelligenz fortwährend weiterentwickeln. Der dynamische Lerntyp zeigt eine hohe Bereitschaft, Herausforderungen anzunehmen und Erfolge oder Misserfolge als Erfahrungen bzw. Lernmöglichkeiten zu verbuchen.


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Change Talk

Eine wesentliche Variable des Botschafters ist seine Fähigkeit zur Gesprächsführung. Der „Change Talk“ nutzt verschiedene Strategien, um eine Verhaltensänderung zu bewirken ([Tab. 3]).

Tab. 3 Strategien des „Change Talk“.

Aspekt

Formulierung bzw. rhetorische Taktik

Validierung

  • „Das muss schlimm für Sie gewesen sein, als…“

  • „Ich kann mir vorstellen, dass…“

Reflexives Zuhören/Spiegeln

  • „Sie wirken besorgt, wenn Sie das erzählen…“

  • „Wundern Sie sich, ob…?“

  • „Es hört sich so an, als ob…?“

  • „Habe ich es richtig verstanden, dass…?“

Motivierende Gesprächsführung

  • Bekräftigen der Motivation und Hoffnung auf Veränderung

  • Verdeutlichen der Widersprüche zwischen aktuellem Verhalten und wichtigen Zielen und Werten

Hypnotische Sprache [12]

  • „Vielleicht fällt Ihnen auf, dass…“

  • „Ich wundere mich, dass…“

  • „Ich habe schon mal gehört, dass….“

  • „In der Zukunft werden Sie womöglich erstaunt sein, wie…“

Therapeutisches Geschichtenerzählen

  • „Ich hatte einen Patienten mit ähnlichen Problemen. Diesem hat es geholfen, wenn…“

Fördern positiver Zukunftsperspektiven [13]

  • Erstellen phantasievoller und positiver Zukunftsszenarien als Vorrausetzung, um Ziele formulieren zu können


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Therapeutisches Geschichtenerzählen

Als Gesprächsstrategie eignet sich das therapeutische Geschichtenerzählen. Seit jeher wird das „Story Telling“ in vielen Kulturen genutzt, um Lebensweisheiten, neue Perspektiven und Alltagsideen in Geschichten, Metaphern oder Gleichnissen zu transportieren [14]. Geschichten sind Modelle der Wirklichkeit. Sie konzentrieren sich auf das Wesentliche, ohne sich in Detailwissen zu verlieren. Eine spannende, unterhaltsame und interessante Geschichte klingt häufig nach und kann dadurch eher angenommen werden und in ihrer Fülle zum Nach- und Umdenken anregen.


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Aufklärungsbedarf des Patienten

Der individuelle Aufklärungsbedarf eines Patienten ist anhand seiner bestehenden gedanklichen Vorstellungen zu ermitteln. Eine Edukation wird dann therapeutisch sinnvoll, wenn die Vorstellungen hinsichtlich eines Problems – im vorliegenden Kontext ist dies der Schmerz – nicht hilfreich oder fehlerhaft sind.

  • „Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen.“

    (Epiktet)

Reiz – Emotion – Verhalten Der römische Philosoph Epiktet wird gern zitiert, um den Zusammenhang zwischen Reiz, Emotion und Verhalten zu erklären. Jeder Reiz wird vom Gehirn auf Grundlage bisheriger Erfahrungen und vorhandener Informationen bewertet. Diese Interpretation führt zu emotionalen Reaktionen, physiologischen Veränderungen (z. B. im Hormonsystem, Vegetativum) und einem logisch daraus resultierenden Verhalten. Bei chronischen Schmerzpatienten können nicht hilfreiche oder fehlerhafte Kognitionen mit emotionalen Belastungen und dysfunktionalen Verhaltens- und Bewegungsmustern verbunden sein.

Fehlvorstellungen

Die Lernenden bzw. die Patienten zeigen in der Regel unterschiedlich stark ausgeprägte Stufen von Fehlvorstellungen ([Abb. 2]).

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Abb. 2 Schematische Neuromatrix mit verschiedenen Stufen von Fehlvorstellungen [1]. Je festgefahrener falsche Vorstellungen sind, desto stärker sind die kortikalen Verknüpfungen: fehlende Informationen, einzelne falsche Vorstellungen, nicht hilfreiches Gedankengebäude sowie festgefahrene Fehlvorstellungen. (Quelle: NOI-Group: ‚Explain Pain Supercharged‘.)

Fehlende Informationen

Fehlen einem Patienten relevante Informationen zum Verständnis seines Problems bzw. seiner Schmerzen, kann er mit der Thematik nicht selbstständig und eigenverantwortlich umgehen und seine Ressourcen weder erkennen noch nutzen.

Beratung In diesem Fall fungiert der Botschafter als Berater und Informationsvermittler, um ein selbstständiges lösungsorientiertes oder beruhigendes Denken anzuregen. Demgemäß vermittelt er bspw. das richtige Verhalten nach einer akuten Verletzung.


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Einzelne Fehlvorstellungen

Ein Patient kommt relativ gut mit seinen Schmerzen klar, hat jedoch einzelne fehlerhafte Vorstellungen entwickelt – sei es durch Interaktionen mit im Gesundheitswesen tätigen Personen, aus dem privaten Umfeld heraus oder durch falsche Informationen im Internet. Typisches Beispiel ist die Interpretation bildgebender Untersuchungsverfahren.

Korrektur Werden einzelne Fehlinformationen erkannt, können sie respektvoll vom Botschafter hinterfragt und sodann mit fundierten, glaubwürdigen Informationen korrigiert bzw. ersetzt werden.


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Viele zusammenhängende Fehlvorstellungen

Durch externe Rückmeldungen oder sensorische oder emotionale Erlebnisse verfestigen sich viele Fehlvorstellungen und fügen sich zum starren und nicht hilfreichen Gedankengebäude. Die einzelnen Vorstellungen sind logisch verknüpft und beeinflussen das Alltagsverhalten des Patienten oder seine Zukunftsperspektiven. So kann eine Bandscheibenvorwölbung auf dem MRT-Befund als Ursache lange bestehender Rückenschmerzen interpretiert werden und zur Annahme verleiten, dass das Bücken, Heben oder Tragen zur Verschlimmerung der Läsion führt.

Aufklärungsarbeit Nachdem einzelne Fehlvorstellungen erkannt, hinterfragt und neue Informationen zur Verfügung gestellt wurden, besteht die Aufklärungsinteraktion darin, den Lernenden mittels motivierender Gesprächsführung zum selbstständigen Erkennen biopsychosozialer und neurophysiologischer Zusammenhänge zu verhelfen. Die Edukation kann hier nun nicht mehr nur frontal erfolgen. Stattdessen muss das Gedankenkonstrukt mit Geduld belagert und geschickt durch die Hintertüre eingenommen werden.


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Festgefahrene Fehlvorstellungen

Das fehlgeleitete Gedankengebäude bestimmt hier das Leben, die Identität sowie die soziale Rolle des Patienten. Jeder Versuch eines Therapeuten, dieses Konstrukt zu hinterfragen, wird als Bedrohung und Unwahrheit empfunden.

Empathie und Suggestion Werden einzelne Fehlvorstellungen kritisiert, stellt dies die Qualifikation des Botschafters infrage. Dies würde die therapeutische Beziehung massiv belasten oder gar auflösen. Infolgedessen bedarf es zunächst eines empathischen Verständnisses für die Ängste des Patienten, welche mit dem Loslassen seiner Gedankenkonstrukte verbunden sind. Durch die Kunst der Suggestion werden Widerstände zu neuen Ideen reduziert. Dies gibt dem Patienten die Illusion der Entscheidung. Folglich können korrigierende Informationen nur schrittweise auf eine suggestive, indirekte Art vermittelt werden. Dies erfordert viel Geschick und eine Menge Geduld.


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Individuelle Wissensvermittlung

An den Grad der Fehlvorstellungen eines Patienten werden die Inhalte sowie die Vorgehensweise der therapeutischen Aufklärung angepasst ([Tab. 4]):

Tab. 4 Anpassen der Wissensvermittlung an den Aufklärungsbedarf des Patienten.

Stufe der Fehlvorstellung

Äußerungen und Gedankengänge des Lernenden bzw. des Patienten

Geeignete Lernmethoden

Fehlende bzw. unvollständige Informationen

  • „Ich verstehe nicht, wieso…“

  • „Mir hat niemand erklärt, warum…“

  • „Ich wundere mich, weshalb…“

  • Explizites Lernen bzw. Informationsvermittlung

  • Informationslücken füllen

  • Informationen erweitern

Einzelne Fehlvorstellungen

  • „Mir wurde erklärt, dass…“

  • „Stimmt es nicht, dass…“

  • „Im Internet steht aber, dass…“

  • Explizites Lernen

  • Hinterfragen bestehender Vorstellungen

  • Vergleichen mit alternativen Vorstellungen

  • Aufbauen neuer Vorstellungen

Viele zusammenhängende Fehlvorstellungen

  • Verknüpfen von Gründen mit Konsequenzen („weil/wegen…“)

  • Interpretation von Schmerz als linearer/kausaler Prozess (Ursache – Wirkung)

  • Verbinden sich gegenseitig bestätigender Einzelaspekte zum subjektiv logischen Gedankengebäude

  • Gedankengebäude als Sicherheit und Orientierungshilfe für das alltägliche Verhalten

  • Explizites Lernen

  • Implizites Lernen

  • Abtragen einzelner Fehlinformationen

  • Aufgreifen und Weiterentwickeln vorhandener Vorstellungen

  • Aufbauen belastbarer Vorstellungen und Reflektieren über ursprüngliche Vorstellungen

  • Herausarbeiten alternativer emergenter Schemata

  • Fördern der Motivation

Festgefahrene Fehlvorstellungen

  • Prognostische Aussagen

  • „Ich kann nie mehr wieder…“

  • „Mein Chirurg sagt, dass…“

  • „Mir wurde von mehreren Seiten bestätigt, dass…“

  • „Das mag zwar bei anderen Patienten so sein, doch bei mir ist es anders.“

  • Implizites Lernen

  • Erweitern des Wissens innerhalb des bestehenden Konzeptes

  • Bewusstmachen, was, trotz Schmerzen möglich ist und bereits erfolgreich realisiert wurde

  • Konsequentes Anbieten von Wissen

  • Zeit und Geduld

Gehirn-gerechtes Lernen

Der Ausdruck „gehirn-gerecht“ bedeutet „der natürlichen Arbeitsweise des Gehirns entsprechend“. Für das Lernen nutzte Vera Birkenbihl den Begriff „Neurodidaktik“ [15].

Vergleiche im Wissensnetz Von Natur aus ist das menschliche Gehirn mit Vergleichen beschäftigt. Im Kortex wird jede neue Information bzw. jeder unbekannte Reiz mit ähnlichen oder bekannten Informationen verglichen. Daraus ergibt sich die Frage, ob der Reiz ungefährlich ist oder aber eine potentielle Gefahrenquelle darstellt. Dieses Vergleichen und Abwägen vollzieht sich im bestehenden „Wissensnetz“ des Gehirns [16].

Fliege im Spinnennetz

Birkenbihl verglich eine neue Information bzw. einen unbekannten Reiz mit einer Fliege und das bestehende Wissen mit einem Spinnennetz [17]. Eine neue Information bleibt wie eine Fliege im Netz der Spinne kleben bzw. im Gehirn gespeichert, wenn sie an etwas Ähnliches oder Bekanntes anknüpft. Findet die Information keinerlei Vergleichsmöglichkeit im Wissensnetz, geht sie zumeist verloren.

Positive Konsequenzen Der Inhalt der Edukation wird für einen lernenden Patienten besonders attraktiv, wenn er überzeugt wird, dass die neuen Informationen ihm bei der Lösung seines Problems helfen können oder wenn sie positive Konsequenzen und Gefühle erzeugen. Die neue Information sollte für den Patienten „wesentlich“ sein, d. h. etwas über das „Wesen“ seines Problems aussagen: Handelt es sich um etwas Neues, Ähnliches oder Bekanntes bzw. droht eine Gefahr? Gleichzeitig sollte die Neuinformation dem Patienten eine Antwort auf seine Frage geben, warum und wie es zur augenblicklichen Situation kommen konnte.

Lern- und Sinneskanäle

Für die Edukation sollten die vielfältigen Möglichkeiten des Gehirns genutzt werden. Der Kortex arbeitet nicht nur exakt, analysiert Situationen und steuert komplexe Bewegungsabläufe; er ist auch chaotisch und anarchistisch, phantasievoll und kreativ und genießt dabei unterschiedlichste Dinge und Situationen. Für die edukative Praxis bedeutet diese Vielfältigkeit, neue Informationen auf unterschiedlichste Art und Weise und über verschiedene Sinneskanäle zu präsentieren, um dadurch das Wissensnetz zu verdichten.

Individualität Menschen lernen über verschiedene Lern- und Sinneskanäle. Für eine patientenspezifische Edukation muss abgeklärt werden, über welche Sinneskanäle der Lernende den Lernstoff am besten aufnimmt und abspeichert. Das Aufnehmen und Abspeichern neuer Informationen geschieht allerdings nicht immer über dieselben Kanäle.


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Edukationskanäle

Jedes Individuum verfügt über mindestens fünf Sinneskanäle. Die Schmerzedukation fokussiert auf den visuellen, auditiven und kinästhetischen Sinn und unterscheidet demgemäß drei Lerntypen [17]([Tab. 5]).

Tab. 5 Lerntypen.

Visueller Lerntyp

Auditiver Lerntyp

Kinästhetischer Lerntyp

  • muss sehen, um zu „überblicken“

  • Lernen durch:

    • Filme (YouTube-Clips)

    • Lernposter

    • farbige Darstellungen, Mindmaps etc.

  • muss hören, um zu „verstehen

  • Lernen durch:

    • Hörbücher

    • Diskussionen

    • Unterhaltungen

  • muss anfassen, um zu „begreifen“

  • Lernen durch:

    • körperliches Erfahren und Bewegen

    • Karteikarten

    • gute Lernatmosphäre und Stimmung beim Lernen


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Multimedia

Die ‚Multimedia learning hypothesis‘ von Richard Mayer verspricht den größten Lernerfolg durch das Nutzen von Multimedia [18]. Mayers These beruht u. a. auf der Annahme, dass Multimedia gleichzeitig verschiedene Lern- bzw. Speicherkanäle anspricht und dadurch die kognitive Belastung in jedem Kanal begrenzt wird. Dies fördert neue kortikale Verknüpfungen sowie die Aufmerksamkeitsfähigkeit [19].

Merke

Tipps für das multimediale Lernen

Das ‚Cambridge Handbook to Multimedia Learning‘ gibt sieben Tipps für das erfolgreiche Lernen mit Multimedia [20]. Demnach lernen Menschen besser, wenn

  1. sie neue Informationen mit eigenen Worten formulieren,

  2. sie während des Lesens eine zusammenfassende Grafik anlegen,

  3. Wörter und Bilder anstatt nur Text genutzt werden,

  4. Wörter und Bilder simultan präsentiert werden,

  5. Illustrationen und begleitende Beschreibungen zur Verfügung stehen,

  6. Animationen verwendet werden und wenn

  7. multimediale Informationen im lockeren Plauderton artikuliert werden.

Praxis-Transfer Viele der Ratschläge aus dem ‚Cambridge Handbook to Multimedia Learning‘ lassen sich gut im Praxisalltag nutzen – vorausgesetzt ein Therapeut ist bereit, mit seinem Patienten ein Gespräch über die Neurophysiologie des Gehirns oder die Schmerzphysiologie anzubahnen und nicht nur Handzettel, Bücher oder Internet-Links weiterzugeben. Der persönliche Austausch mit dem Therapeuten eröffnet einem Patienten die Möglichkeit, relevante Zeichnungen anzufertigen oder einen lehrreichen YouTube-Clip gemeinsam anzusehen und zu besprechen.


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Selbstreguliertes Lernen

Das ‚Selbstregulierte Lernen‘ (SRL) wird durch die individuelle Zielsetzung des Lernenden gesteuert [21]. Im vorliegenden Kontext bestimmt ein Patient also selbstständig die kognitiven, behavioralen und metakognitiven Strategien für seinen Lernprozess ([Tab. 6]). Basis hierfür ist seine intrinsische Lernmotivation sowie das Interesse am Lernstoff. Die SRL-Strategie kann therapeutisch gefördert, extrinsisch motiviert und trainiert werden.

Tab. 6 Strategische Elemente des ‚Selbstregulierten Lernens‘ [23].

Kognitive Strategien

Behaviorale/motivationale Prozesse

Metakognitionen

  • Verteilen der Edukation auf mehrere Therapieeinheiten

  • Lernpausen

  • Kein passives Annehmen der Informationen, sondern aktives Auseinandersetzen mit Fragen und kritisches Betrachten von Alternativen

  • Sofortiges Hinterfragen unbekannter Abkürzungen oder Termini

  • Steigern der Selbstwirksamkeit

  • Vermitteln der Überzeugung, das Lernziel erreichen zu können

  • Anpassen und Strukturieren der Lernumgebung für einen optimalen Lernprozess

  • Belohnungen:

    • Belohnung bei Erreichen des Lernziels

    • Belohnung bei Steigerung der Lernleistung

  • Nutzen von Unterstützung bei Lernbarrieren:

    • Wer kann den Lernenden motivieren?

    • Wie kann ich mir während des Lernens meine Ziele vor Augen führen?

  • Anfängliches Fokussieren auf den Lernprozess und nicht nur auf das Erreichen des Lernziels

  • Selbstreflexion:

    • Wie fühle ich mich seit Erreichen des Lernziels?

    • Was macht diese neue Information mit mir?

  • Realistisches Bewerten des Lernfortschritts während des Lernens

Lernphasen SLR wird häufig als Prozess verstanden, der sich – ähnlich dem Modell der „Stadien der Verhaltensänderung“ – in eine präaktionale (vor dem Lernen), aktionale (während des Lernens) und postaktionale Phase (nach dem Lernen) unterteilen lässt [22].


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Schmerz-Curriculum

Was möchten Patienten von ihren Therapeuten wissen? Zahlreiche qualitative Studien identifizierten vier typische Antworten auf diese Frage: Was habe ich? Wie lange wird es dauern? Was kann ich dagegen tun? Und: Was kann der Therapeut für mich tun? [1].

Ein Schmerz-Curriculum verknüpft diese vier Variablen und gibt dem patientenspezifischen Aufklärungsbedarf eine formelle Form. Folgende Aspekte werden der individuellen Situation des Patienten angepasst [24]:

  • Inhalt:

    • Auswahl der edukativ vermittelten Themen

  • Produkt:

    • Mess- und wiederholbares Lernergebnis

  • Prozess:

    • Edukation als Wechselspiel zwischen Lehrenden und Lernenden

  • Praktische Anwendung:

    • Transfer aus der Praxis/Klinik in den Alltag

Für die Entwicklung eines Schmerz-Curriculums muss der Botschafter den Wissensstand des Lernenden kennen und sich im Klaren sein, was der Lernende nach der Edukation besser verstehen soll und wie, wann und wo die Botschaft am besten vermittelt wird ([Tab. 7]).

Tab. 7 Exemplarisches Schmerz-Curriculum [25].

Curriculum

Inhalte

Unterrichtende

Lernende

  • Arbeitsunfähige Patienten mit seit mehr als zwei Jahren persistierenden muskuloskelettalen Schmerzen

  • Alter zwischen 23 und 45 Jahre

  • Ausschluss psychiatrischer Krankheiten

Gruppengröße, Raumausstattung

Menge/Dauer an Unterrichtsstunden

Zwölf einstündige Einheiten

Was wird für eine Rückmeldung an wen gebraucht?

z. B. NPE für Arzt, Versicherung etc.

Ziele für den Unterrichtenden/Botschafter

  • Vermitteln aktuellen Wissens über Schmerz und Stress-Biologie in angenehmer Gruppenatmosphäre

  • Vermitteln begründeter Hoffnung auf Besserung

  • Vermitteln der Therapiemöglichkeiten

  • Steigern der Therapiemotivation

  • Stärken der therapeutischen Allianz

Ziele für den Lernenden

  • Adäquates Formulieren individueller Lern-/Gruppenbedürfnisse

  • Formulieren konkreter und realistischer Kurz- und Langzeitziele auf Basis der Bioplastizität

  • Verbessertes Krankheitsverständnis

  • Gesteigerte Akzeptanz der Erkrankung

  • Reduktion von Unsicherheit, Angst, Hilflosigkeit, Schmerz- und Bewegungsangst

  • Eigenverantwortlicher Umgang mit der Erkrankung

  • Entwickeln, Ausprobieren und Nutzen individueller Bewältigungsstrategien und Selbsthilfekompetenzen

  • Verbesserter Einsatz von Medikamenten

  • Anwenden neuen Wissens und neuer Strategien auch zum Wohle anderer Menschen in der Umgebung des Patienten

Informationsmaterial/Medien

  • YouTube-Clips [26]:

    • ‚Brainman‘:

      • „Was ist Schmerz und wie kann ich ihn lindern?“

      • „Schmerzen verstehen: Brainman wird aktiv“

      • „Schmerzen verstehen: Brainman stoppt seine Opiate“

    • Deutsches Kinderschmerzzentrum Datteln:

      • „Den Schmerz verstehen und was zu tun ist – in 10 Minuten!“

      • „Migräne? Hab ich im Griff!“

    • Tamar Pincus:

      • „Schmerz und ich“

    • Eckart von Hirschhausen:

      • „Das Pinguin-Prinzip“

    • pt-Fachvideo:

      • „Protectometer“

  • Flipchart-Zeichnungen

  • Patienteninformationen:

  • Literaturtipps [26]:

    • Butler A, Moseley L. Schmerzen verstehen. Heidelberg: Springer; 2016

    • Eychmüller S, Nicholas M. Den Schmerz in den Griff bekommen. München: Huber; 2014

  • „Es ist die wichtigste Kunst des Lehrers, die Freude am Schaffen und am Erkennen zu wecken.“

    Albert Einstein [27]


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Fazit

Eine konzeptionelle Veränderung muss „wachsen“ wie eine Pflanze ([Abb. 1]). Für ihr gesundes Gedeihen vermittelt der Botschafter bzw. der Therapeut „funktionelles Wissen“, d. h. relevante Informationen, um die Entscheidungen und Handlungen des lernenden Patienten konstruktiv zu unterstützen. Hierzu muss ein Patient von der Wichtigkeit des Lernens und vom Wert der Botschaft überzeugt werden und der Therapeut zum selbstregulierten Lernen sowie zum selbstständigen Steuern des Lernprozesses motivieren.

Erwachsene bringen viel Lebenserfahrung in die Edukation mit ein, so dass der Prozess und die Kanäle des Lernens individuell angepasst werden müssen. Der beste Lernerfolg wird dann zu verbuchen sein, wenn der Lernende empirisch und anhand seiner persönlichen Erfahrungen lernen kann und das Lernen auf dessen Interessen und Ziele ausgerichtet ist.


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Autorinnen/Autoren

Martina Egan Moog

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ist Physiotherapeutin im interdisziplinären Schmerzmanagement-Programm ‚Precision Ascend‘ in Melbourne, Tutorin an der LaTrobe-Universität sowie Dozentin für die Weiterbildung ‚Spezielle Schmerzphysiotherapie‘ der Deutschen Schmerzgesellschaft. Zudem engagiert sie sich als Instruktorin im Team der NOI (Neuro-Orthopädisches-Institut) für die deutschsprachigen ‚Schmerzen-verstehen‘- und GMI-Kurse sowie für die ‚Protectometer‘-App.


Korrespondenzadresse

Martina Egan Moog
65 Bridge Street
Port Melbourne, VIC, 3207
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Abb. 1 Variablen einer konzeptionellen Veränderung [1] (vgl. [Tab. 2]). (Quelle: NOI-Group: ‚Explain Pain Supercharged‘.)
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Abb. 2 Schematische Neuromatrix mit verschiedenen Stufen von Fehlvorstellungen [1]. Je festgefahrener falsche Vorstellungen sind, desto stärker sind die kortikalen Verknüpfungen: fehlende Informationen, einzelne falsche Vorstellungen, nicht hilfreiches Gedankengebäude sowie festgefahrene Fehlvorstellungen. (Quelle: NOI-Group: ‚Explain Pain Supercharged‘.)