manuelletherapie 2020; 24(02): 96-98
DOI: 10.1055/a-1120-3204
Fachwissen

Schmerzedukation – aktueller denn je

Pain Education – More Relevant than ever
Gerti Bucher-Dollenz
Physiotherapie G. Bucher-Dollenz, CH-Heiligkreuz
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Die immer komplexeren Patientenprobleme verlangen von Manualtherapeuten den bewussten Einsatz von Edukationsstrategien. Schmerzedukation zählt zu den wichtigsten edukativen Maßnahmen bei Patienten mit chronischen Schmerzen. Dabei zeigt eine individualisierte Edukation den größten Effekt.

Die wenigsten physiotherapeutischen Curricula berücksichtigen Schmerzedukation. Diese könnte jedoch einen wichtigen Schritt in Richtung weitere Professionalisierung der Physiotherapie darstellen. Sie ist ein Tool im Rahmen des Patientenmanagements und sollte ebenso wie andere Herangehensweisen auf metakognitiver Ebene reflektiert werden.


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Abstract

Increasingly complex patient problems demand that manual therapists consciously use educational strategies. Pain education is counted among the most important educative measures in patients with chronic pain. Individual education shows the best effect.

Hardly any of the physiotherapeutic curricula incorporate pain education. This could, however, be considered as an important step towards further professionalisation of physiotherapy. It is one tool within patient management and should be reflected on a metacognitive level as with other approaches.


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Einleitung

Edukation (lat. educare: aufziehen, erziehen) als Intervention findet sich schon seit längerem als wichtiger und anspruchsvoller Bereich in allen Gesundheitsberufen [1]. Dies ist vor allem auch auf die Verlagerung des Schwerpunkts von einer Krankheits- zu einer Gesundheitsorientierung und die immer komplexeren Patientenprobleme zurückzuführen [2].

Patientenedukation beinhaltet mehr als nur die reine Vermittlung von Information, sondern ist als eine geplante Lernerfahrung definiert [3]. Sie kombiniert verschiedene Methoden wie Lehre, Beratung, Coaching und Verhaltensänderung, die das Wissen und Gesundheitsverhalten der Patienten und deren Angehörigen beeinflussen. In der Physiotherapie findet die Patientenedukation meist spontan, ungeplant und eingebettet in die Behandlung statt. Im Durchschnitt wird 12,5 % der physiotherapeutischen Behandlungszeit für Edukation verwendet [3].


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Schmerzedukation

Das Hauptproblem von Patienten mit muskuloskelettalen Beschwerden sind oftmals Schmerzen. Da sie sich unklare muskuloskelettale Schmerzen oft nicht erklären können, suchen die Patienten dementsprechend nach möglichen Ursachen.

Schmerz umfasst eine komplexe und facettenreiche Wahrnehmungserfahrung, die einer Erklärung bedarf. Die Schmerzerfahrung vereint folgende 3 Dimensionen: eine sensorische (Intensität, Lokalisation), eine affektive (unangenehm) und eine kognitive (evaluierende). Schmerzen sind mit motorischen, autonomen, neuroimmunologischen und endokrinen Reaktionen gekoppelt und führen zu Verhaltensveränderungen. Die meist sehr unangenehme Schmerzwahrnehmung hat eine wichtige Warnfunktion. Sie ist der Grund, warum Patienten Hilfe suchen und ein schützendes Verhalten einnehmen (affektiv-motiviertes Verhalten). Die besorgniserregenden Schmerzen lösen oftmals Unsicherheit aus und veranlassen die Betroffenen, ihr Leben zu verändern. Sie ziehen sich aus beruflichen und sozialen Aktivitäten und Lebensfreuden zurück. Aus diesem Grund ist Schmerz als biopsychosoziales Phänomen zu betrachten.

Fehlendes Wissen oder falsche Vorstellungen von Schmerzen können negative Überzeugungen hervorrufen. Oft reduzieren sich die Vorstellungen darüber, warum etwas schmerzt ausschließlich auf strukturelle Veränderungen (z. B. Diskusdegeneration). Wie Patienten über ihre Schmerzen denken, stellt einen wichtigen vorhersagenden Faktor für die empfundene Schmerzintensität und Chronifizierungstendenz dar [4]. Das Modell des Angst-Vermeidungs-Verhaltens (Fear-Avoidance Model) von Vlaeyen und Linton [5], [6] bzw. Vlaeyen et al. [7] verdeutlicht die Zusammenhänge von Verletzung, Schmerzerfahrung, negativem Affekt (negative Gefühle, Stimmung, Emotion) und der damit einhergehenden Schmerzkatastrophisierung ([ Abb. 1 ]). Funktioneller Nichtgebrauch, Depression und Behinderung können Folgen des Angst-Vermeidungs-Verhaltens sein.

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Abb. 1 Angst-Vermeidungs-Modell von Vlaeyen et al. [7]. (Quelle: J. Traxler; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)

Schmerzedukation kann das Angst-Vermeidungs-Verhalten positiv beeinflussen [8]. Das Ziel der Schmerzedukation besteht darin, den Patienten ein Verständnis über Schmerz, seine Funktion und seine biopsychosozialen Zusammenhänge zu vermitteln. Aber Patienten benötigen nicht alle im gleichen Ausmaß eine Aufklärung über das Phänomen Schmerz.

Lim et al. [9] kamen in ihrem systematischen Review mit 41 Studien zu dem Schluss, dass Patienten mit lumbalen Rückenschmerzen (Low back pain, LBP) individualisierte, klare und konsistente Informationen über ihre Diagnose, Prognose und Behandlungsoptionen erwarten. Als wichtig empfanden die Patienten auch die Aufklärungen über Selbstmanagement-Strategien für Alltagsaktivitäten (Beruf, Freizeit) und zur Gesundheitsförderung. Schmerzedukation führt jedoch nicht automatisch zu einer Verhaltensveränderung. Ob sie den Empfehlungen folgen oder nicht, hängt vor allem von ihrem Selbstengagement und ihrem Verhältnis zum Gesundheitsprovider ab [9].

Mangelhaftes Wissen und individuelle Glaubensansätze stellen wichtige beitragende Faktoren des Angst-Vermeidungs-Verhaltens dar [10]. Gerade Patienten mit chronischen lumbalen Rückenschmerzen zeigen oftmals eine maladaptive Ausprägung in diesem Bereich [11], [12]. Da nur wenige Patienten Schmerz als biopsychosoziale Empfindung erkennen, können sie ihn nicht beeinflussen und weisen daher eine schlechte Prognose auf.

Setchel et al. [13] analysierten in einer qualitativen Studie mit 130 Patienten mit chronischen Rückenschmerzen deren Glaubensansätze und unterteilten ihre Resultate in folgende 4 Hauptbereiche:

Der Körper als eine Maschine: Der Körper wird aus einer biomechanischen oder anatomischen Sicht betrachtet. Wie eine Maschine kann er kaputt gehen und manchmal repariert werden.

LBP tritt permanent auf und ist nicht veränderbar: Er wird als eine fixe Gegebenheit konzeptualisiert. Wenn der Rücken einmal „kaputt“ ist, kann man ihn nicht mehr „flicken“.

LBP ist komplex: Im Gegensatz zu den ersten beiden Punkten werden auch beitragende psychosoziale und kulturelle Faktoren in Betracht gezogen. Für chronische Schmerzen gibt es keine einfache Erklärung.

LBP ist negativ belegt: Er wird als abnormal, katastrophal konzeptualisiert oder als sehr negative Erfahrung beschrieben. LBP sollte vermieden werden und/oder hat einen großen Einfluss auf das Leben.

Internationale Leitlinien empfehlen Edukation als wichtigen Behandlungsansatz bei persistierenden Rückenschmerzen, um eine Chronifizierung im Vorfeld zu verhindern [14], [15]. Schmerzedukation im Rahmen der Manuellen Therapie wird bereits seit mehr als 15 Jahren angewendet. Den Grundstein dafür legten David Butler und Lorimer Moseley mit ihrem Buch „Explain Pain“[16]. Dieses Aufklärungskonzept hat sich seitdem ständig weiterentwickelt.

Viele unterschiedliche Aspekte der Schmerzedukation wurden mithilfe einer kritischen klinischen Analyse und durch wissenschaftliche Ergebnisse relativiert bzw. neu konzipiert und angepasst [17]. Neben den Patienten hat oftmals auch das im Gesundheitssystem arbeitende Fachpersonal Mühe, die komplexen Zusammenhänge von Schmerzen zu verstehen. Von den Ärzten bis zu den Physiotherapeuten profitieren alle gleichermaßen von Edukationsmaßnahmen zum Thema Schmerz und Schmerzmanagement.

Die International Association for the Study of Pain (IASP) unterstützt eine evidenzbasierte-individuell zentrierte Schmerzedukation und entwickelte ein eigenes Curriculum für die Physiotherapie in Bezug auf Schmerz [18]. Bislang findet dieses Curriculum noch zu wenig Beachtung in den physiotherapeutischen Ausbildungen, sodass hier auch in Zukunft weiter Handlungsbedarf besteht.


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Evidenz zur Schmerzedukation

Die derzeit beste Evidenz für Behandlung von muskuloskelettalen Problemen unterstützt die Schmerzedukation als einen Teil des biopsychosozialen Managements [15]. Schmerzedukation beeinflusst positiv die Schmerzintensität, Behinderung, Angst-Vermeidungs-Verhalten, Katastrophisierung, Funktionseinschränkungen und Schmerzverständnis sowie die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens [19], [20].

Außerdem konnte gezeigt werden, dass Schmerzedukation einen positiven Beitrag zum Management verschiedener, oftmals komplexer Schmerzprobleme wie Fibromyalgie [20], chronischem Rückenschmerz [21], chronischem Fatigue-Syndrom [22] und LWS-Operationen [23] leistet. Der systematische Review mit Metaanalyse von Watson et al. [8] über Pain Neuroscience Education (PNE) bestätigte, dass diese Intervention vor allem die Kinesiophobie und Katastrophisierung beeinflusst.


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Schlussfolgerungen

Manualtherapeuten sind Spezialisten im Management von Patienten mit muskuloskelettalen Problemen. Ein fundiertes Clinical Reasoning lenkt die bewusste Verwendung der Schmerzedukation während der Behandlung. Dabei werden individuelle Lernbedürfnisse und Lernfähigkeiten der Patienten berücksichtigt (patientenzentrierte Schmerzedukation).

Wie bei manualtherapeutischen Techniken erfolgt eine Evaluierung der Edukation: Macht der Patient die gewünschte Lernerfahrung und wenn nicht, warum? Diese Phase wird oftmals vergessen oder zu wenig bewusst in den Edukationsprozess miteinbezogen. Die Teach-Back-Methode hilft Erinnerungsfehler oder Gesundheitsüberzeugungen aufzudecken und die gewünschten Gesundheitsbotschaften im Dialog anzupassen.

Die Patientenedukation hat den größten Effekt, wenn sie patientenzentriert stattfindet [24]. So konnten Forbes et al. [25] mit ihrer RCT-Studie zeigen, dass sich durch Training die Edukationsskills, die Selbstsicherheit und die Ausführung der Patientenedukationen verbessern.


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Interessenkonflikt

Die Autorin gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Gerti Bucher-Dollenz, PT, MAS Manip PT, MAS Edu Design, IMTA Senior Teacher, NOI Faculty Member
Untergasse 40
8888 Heiligkreuz
Schweiz   

Publication History

Received: 26 November 2019

Accepted: 03 December 2019

Article published online:
18 May 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York


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Abb. 1 Angst-Vermeidungs-Modell von Vlaeyen et al. [7]. (Quelle: J. Traxler; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)