Über Leben und Werk Wilhelm Griesingers
Im vergangenen November sprach Prof. Dr. Michael Seidel bei der BGPN über Werk und
Leben Wilhelm Griesingers. Prof. Michael Seidel arbeitete von 1977–1991 in Griesingers
ehemaliger Wirkstätte, der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité Berlin. Von
1991–2010 war er leitender Arzt und Geschäftsführer in den von Bodelschwinghschen
Anstalten/Stiftungen Bethel, von 2011–2014 ärztlicher Direktor im Stiftungsbereich
Bethel in Bielefeld.
‚… die großen Gedanken kommen aus dem Herzen…’
Wilhelm Griesinger, 1817 in Stuttgart geboren, begann sein Medizinstudium 1834 in
Tübingen und war dort auch Mitglied in einer demokratischen Burschenschaft. Wegen
eines Konflikts mit dem Lehrkörper musste er sein Studium für ein Jahr pausieren und
setzte es schließlich in Zürich fort. Für Examina und Promotion kehrte Griesinger
nach Tübingen zurück. In den Jahren 1840/41 machte er erste Erfahrungen in der Psychiatrie
als Assistent in Winnenthal. Es folgten nicht psychiatrische Anstellungen in Paris,
Wien und Stuttgart, wo er sich schließlich 1843 habilitierte. Im Jahr 1849 wurde Griesinger
Direktor der Poliklinik in Kiel. Wegen ungünstiger Umstände dort nahm er wenig später
die Einladung des ägyptischen Vizekönigs Abbas Paschas an, in Kairo die Leitung der
medizinischen Ausbildung und die Leitung der Medizinalkommission und die Aufgabe des
Leibarztes des Vizekönigs zu übernehmen.
Nach seiner Rückkehr wandte sich Griesinger erst 1859 wieder der Psychiatrie zu. Er
zeigte deutliches Interesse an der Förderung der Gesundheit der städtischen Bevölkerung
und der Planung eines modernen psychiatrischen Krankenhauses – der Klinik Burghölzli
in Zürich, die 1865 eröffnete. Nach anfänglichen Bedenken aufgrund seiner geringen
klinischen Erfahrung in der Psychiatrie trat Griesinger am 1. April 1865 sein Amt
als ‚Dirigierender Arzt an der Abteilung für Gemüthskrankheiten und für Nervenkrankheiten
an der Königlichen Charité’ an. Durch die von ihm als Bedingung seines Kommens verlangte
Zusammenführung von Psychiatrie und Neurologie begründete er eine langjährige Tradition
in Deutschland. Im Jahr 1867 gründete Griesinger gemeinsam mit 9 Kollegen in Berlin
die ‚Berliner medicinisch-psychologische Gesellschaft’ – unsere heutige Berliner Gesellschaft
für Psychiatrie und Neurologie. Schon ein Jahr später starb er an einer perforierten
Appendizitis.
Griesingers wesentliche Vorstellungen zur Psychiatrie beinhalteten als erstes, dass
der spekulative Zugang der romantischen Medizin und Naturphilosophie dem naturwissenschaftlichen
weichen musste. Er beschrieb das Gehirn als Sitz des ‚Irreseins’, somit waren psychische
Krankheiten Erkrankungen des Gehirns hauptsächlich psychischen, dann aber auch somatischen
und gemischten Ursachen. Simpler materialistischer Reduktionismus war ihm fremd. Psychische
Krankheiten waren in seinen Augen Krankheiten wie andere Krankheiten auch. Nicht zuletzt
deshalb musste die Psychiatrie aus ihrer fachlichen Isolation herausgelöst, an der
Universität gelehrt und in die Medizin eingegliedert werden.
Griesinger war aber weit mehr als der Begründer einer modernen biologischen Psychiatrie.
Er machte Vorschläge zur Versorgungsstruktur und hatte bezüglich der Behandlungsmodalitäten
moderne sozialpsychiatrische Vorstellungen. Das Kriterium heilbar/unheilbar, nach
dem die Kranken der Therapie oder der lediglichen Verwahrung zugeordnet wurden, sollte
verworfen werden. In Abhängigkeit von der Behandlungsdauer sollten neben den großen,
fernab gelegenen Anstalten auch wohnortnahe ‚Stadtasyle’, ‚klinische Asyle’, ‚agricole
Kolonien’ und familiale Pflegeangebote eingerichtet werden. Schließlich sollte die
freie Behandlung die Anwendung von Zwangs mitteln ablösen. Mit seiner Idee einer nicht
nur ärztlichen Behandlung, sondern einer Ausweitung der Therapie auf die Bewegungs-
und Sinnesorgane und Tätigkeiten des alltäglichen Lebens war er Wegbereiter moderner
ergo- und physiotherapeutischer Konzepte. Griesingers Biographie und Werk verdeutlichen:
Dank seiner intellektuellen Flexibilität und trotz seines streitbaren, wohl oft auch
schroffen Charakters errang er anspruchsvolle berufliche und einflussreiche fachpolitische
Positionen. Er konnte Gleichgesinnte um sich scharen sowie Psychiatrie und Neurologie
wichtige Impulse vermitteln. Griesinger war ein Visionär, der in manchem seiner Zeit
weit voraus war.
Wilhelm-Griesinger-Büste an der Charité Berlin (Quelle: privat)