Pneumologie 2020; 74(07): 443-447
DOI: 10.1055/a-1138-1931
Historisches Kaleidoskop

Mit der Krankheit leben – Karl Jaspers im Porträt

Living with Chronic Disease. A Portrait of Karl Jaspers
F. J. F. Herth
1   Thoraxklinik Universitätsklinikum Heidelberg, Abteilung Innere Medizin – Pneumologie, Heidelberg
,
B. Weidmann
2   Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Heidelberg
› Author Affiliations
 

Der Arzt und Philosoph Karl Jaspers (1883 – 1969) ([Abb. 1]) war 86, als er starb. Er erreichte ein Alter, mit dem er selbst am wenigsten gerechnet hatte. Seit seiner Kindheit an Bronchiektasen leidend, ging er, nachdem die Krankheit diagnostiziert worden war, von einer weit geringeren Lebenserwartung aus [1]. Lange glaubte er, lediglich 30, höchstens 40 Jahre alt zu werden. Dass er mit der Zeit die Krankheit in den Griff bekam, änderte an seiner skeptischen Grundhaltung wenig. Trotz allmählicher Stabilisierung bestanden die krankheitsbedingten Einschränkungen unvermindert fort. Treppensteigen, längeres Stehen, selbst einfache Fußwege führten zu Kurzatmigkeit und Erschöpfung. Sprechen bei Wind oder Aufenthalt an zugigen Orten waren gefährlich. Größere Reisen, aber auch die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben mussten sorgfältig geplant werden. Darüber hinaus wurde Jaspers durch die äußeren Umstände, etwa die in der Folge zweier Weltkriege auftretenden Versorgungsengpässe, immer wieder an die grundsätzliche Gefährdung seines Daseins erinnert. Auch psychische Belastungen gingen nicht spurlos an ihm vorüber. Als Gertrud Jaspers (1879 – 1974), seine jüdische Frau, am Ende der NS-Herrschaft zunehmend von einer Deportation bedroht war und mehrmals versteckt werden musste [2], verschlechterte sich sein Gesundheitszustand erheblich.

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Abb. 1 Karl Jaspers auf Norderney, 1930 (Foto: Deutsches Literaturarchiv Marbach).

Vor diesem Hintergrund ist umso beachtlicher, was Jaspers in seinem langen Leben geleistet hat. Obwohl er täglich nur wenige Stunden konzentriert arbeiten konnte, schuf er ein umfangreiches medizinisches und philosophisches Werk. Seine Publikationstätigkeit erstreckte sich über 6 Jahrzehnte, von der Dissertation Heimweh und Verbrechen (1909) [3] bis zu dem Interviewband Provokationen (1969) [4], und umfasst, Neubearbeitungen, Wiederauflagen und Übersetzungen mit eingerechnet, mehrere Tausend Titel [5]. Obwohl die Allgemeine Psychopathologie [6], mit der er sich 1913 an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg für Psychologie habilitiert hatte, seinen Abschied von der Medizin bedeutete, vertiefte er sich von Sommer 1941 bis Sommer 1942 noch einmal in die seit damals zu diesem Themenkomplex erschienene wissenschaftliche Literatur, um das Werk für eine 4. Auflage auf den neuesten Stand der Forschung zu bringen. Als es 1946 erscheinen konnte, war es fast dreimal so umfangreich wie die Erstausgabe.

Kraftakte wie dieser wurden möglich, weil Jaspers 1937 wegen seiner Ehe mit einer Jüdin in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden war. Von allen Lehrverpflichtungen entbunden, hatte er Zeit zu schreiben. Neben der Neubearbeitung der Allgemeinen Psychopathologie entstanden in diesen Jahren noch 2 weitere stattliche Werke: Von der Wahrheit, der erste, über 1000 Seiten umfassende Band einer Philosophischen Logik [7], sowie Grundsätze des Philosophierens, eine gut 550 Seiten umfassende Schrift, die Jaspers allerdings nicht veröffentlichte und die erst Jahrzehnte später aus dem Nachlass publiziert worden ist [8]. Durch den verordneten Rückzug ins Private verbesserte sich zunächst auch sein Gesundheitszustand; nicht mehr zur studentischen Jugend sprechen zu können, schmerzte ihn zwar, brachte ihm aber auch körperliche Schonung. Es spricht für Jaspers, dass er diese lange ungefährdete, zuletzt glücklich überstandene Auszeit nicht einfach als gegeben nahm, sondern daraus eine Aufgabe für die Zukunft ableitete. Nach der Befreiung von der NS-Diktatur setzte er sich mit ganzer Kraft für die Neugründung der Universität Heidelberg sowie die Aufarbeitung der unmittelbaren deutschen Vergangenheit ein. Aus seiner Vorlesung „Die geistige Situation in Deutschland“ ging die Schrift Die Schuldfrage [9] hervor. Als er 1948 einen Ruf nach Basel annahm und Deutschland verließ, bedeutete das nur einen vorübergehenden Rückzug aus der Öffentlichkeit. Seit 1958, als er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt [10], äußerte er sich vermehrt und mit zunehmender Leidenschaft zu Fragen der deutschen Politik [11] [12]. Als politischer Schriftsteller und öffentlicher, in Rundfunk und Fernsehen präsenter Intellektueller sprach er unbequeme Tatsachen aus und nahm dafür in Kauf, jahrelang mit persönlichen Anfeindungen überhäuft zu werden [13]. Dieses Engagement des letzten Lebensjahrzehnts war der Krankheit regelrecht abgerungen.

So sehr ein hohes Lebensalter menschlichem Wollen und Planen entzogen ist, zumal bei chronischer Krankheit, so wichtig sind doch bestimmte Faktoren, die es begünstigen. In dieser Hinsicht war Jaspers reich gesegnet. Er hatte das Glück, in eine wohlhabende großbürgerliche Familie geboren zu werden, die ihn bis zu seiner Verbeamtung 1920 und darüber hinaus mit einer jährlichen Leibrente finanziell unterstützte. Außerdem war es ihm vergönnt, an den richtigen Arzt zu geraten. Über familiäre Kontakte lernte er 1901 Albert Fraenkel [14] kennen, eine Begegnung, die für sein Leben entscheidend wurde. Fraenkel war es, der die Krankheit diagnostizierte und die notwendigen Schritte zur Behandlung einleitete [1]. Schließlich fand Jaspers in Gertrud Mayer [15] eine Frau, die ihn zeitlebens umsorgte, ihn bei der Arbeit unterstützte, indem sie seine Manuskripte abtippte, und, wenn es sein musste, ihn vor Besuchern abschirmte. Alle diese günstigen Faktoren wären jedoch wirkungslos verpufft, hätte Jaspers nicht ein Leben lang strenge Selbstdisziplin geübt. Bevor wir seinen Umgang mit der Krankheit genauer in den Blick nehmen, sei das Krankheitsbild Bronchiektasen differenzialdiagnostisch präzisiert.

Bronchiektasen: Eine Differenzialdiagnose aus heutiger Sicht

Bereits in der Kindheit litt Jaspers vermehrt an bronchopulmonalen Infektionen, die seine körperliche Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigten und immer wieder zu Therapieepisoden führten. Es wurden im Verlauf radiologisch Bronchiektasen diagnostiziert und als angeborene Bronchiektasen klassifiziert [1].

Unter Bronchiektasen versteht man eine krankhafte Erweiterung der Bronchien. Die dauerhafte Aussackung führt dazu, dass der Selbstreinigungsmechanismus der Lunge in diesen Arealen eingeschränkt ist, es kommt zur Mukusretention [16]. Da der nicht abfließende Schleim einen idealen Nährboden für Krankheitserreger bildet, finden wiederholt Infektionen statt. Die rezidivierenden Entzündungen führen zur erneuten Schädigung der Bronchialwände, die Bronchiektasie weitet sich aus. Dieser unumkehrbare Prozess kann nur bei konsequentem Sekretmanagement stabil gehalten werden [16].

Hauptsymptom sind Mengen schleimigen Auswurfs. Kommt es zur Infektion, spricht man von einer sog. 3-Schichtigkeit des Sputums (schaumige Oberschicht, mittlere Schleimschicht und zäher, eher eitriger Bodensatz).

Die Ursachen der Bronchiektasen sind mannigfach, man unterscheidet angeborene und erworbene Krankheitsursachen [17]. Häufigste erworbene Ursache, insbesondere unter Berücksichtigung der Situation im beginnenden 20. Jahrhundert, sind wiederkehrende Infekte in der Kindheit, die dann über die Entzündung zu einer Bronchialwandzerstörung führen. Dagegen ist die häufigste angeborene Ursache nach wie vor die Mukoviszidose, eine Erberkrankung, bei der der zähe Schleim für die Bildung der Bronchiektasen verantwortlich ist. Auch beim Alpha-1-Antitrypsinmangelsyndrom, ebenfalls eine Generkrankung, kommt es zu Bronchiektasenbildung. Darüber hinaus gibt es sehr seltene angeborene Ursachen wie die Hypogammaglobulinämie, das primäre Ziliendyskinesie-Syndrom, das Young-Syndrom und das Yellow-Nail-Syndrom. Ebenso kann es auch bei interstitiellen Lungenerkrankungen zur Ausbildung von Bronchiektasen kommen.

Betrachtet man nun die Differenzialdiagnose der Bronchiektasenerkrankung bei Jaspers, können einige Ursachen ausgeschlossen werden. Mykobakterien, die zur Tuberkulose („Schwindsucht“) führen, gelten als unwahrscheinlich, da diese Erkrankung damals nur mit langen Liegekuren zu behandeln war. Auch seltene Pilzerkrankungen, die durch Reisen z. B. nach Südafrika oder in asiatische Länder hervorgerufen werden, sind eher nicht anzunehmen, denn Jaspers hat Europa nie verlassen. Des Weiteren gilt als Ursache für die Bronchiektasie eine sog. allergische pulmonale Aspergillose. Hierzu muss ein Asthma bronchiale begleitend bestehen. In der ganzen Krankengeschichte von Jaspers findet sich jedoch kein Hinweis auf ein Asthma, sodass auch diese Differenzialdiagnose als sehr unwahrscheinlich gilt. Eigentliche Lungenerkrankungen als Ursachen können weitgehend ausgeschlossen werden, da die Erkrankung schon in frühester Kindheit aufgetreten ist. Bronchialtumore, interstitielle Lungenerkrankungen oder Systemerkrankungen im Sinne einer Kollagenose sind klinisch sehr unwahrscheinlich, hier spricht Jaspers’ hohes Lebensalter dagegen. Betrachtet man die kongenitalen Symptome, ist ein Alpha-1-Antitrypsinmangel auszuschließen, da es für diese Erkrankung im damaligen Zeitalter keine effektive Therapie gab und betroffene Patienten nie ein Lebensalter erreicht hätten, wie es Karl Jaspers erreicht hat. Ebenso kann die Mukoviszidose aus den gleichen Gründen ausgeschlossen werden. Seltene Syndrome wie das Young-Syndrom gehen mit der Beteiligung der Nasennebenhöhlen einher, die in der Krankengeschichte von Jaspers nicht beschrieben wird. Auch ein Yellow-Nail-Syndrom, welches mit einem Lymphödem, Pleuraergüssen und dystrophischen, gelb verfärbten Fingernägeln einhergeht, muss von der Krankengeschichte her als eher unwahrscheinlich gelten.

Bleiben 2 sehr seltene angeborene Syndrome, zum einen die Hypogammaglobulinämie, eine Erkrankung, die mit einem Antikörpermangel einhergeht und als häufige Immundefekterkrankung gilt. Hier treten erst im Verlauf der Erkrankung Bronchiektasen auf, und es kommt auch immer wieder zu Infektionen im Magen-Darm-Trakt. Da bereits aus der Kindheit Bronchiektasen bekannt sind und in Jaspers’ Krankengeschichte nie regelmäßige Magenbeschwerden beschrieben werden, muss auch dieses Krankheitsbild als eher unwahrscheinlich angesehen werden.

Es bleibt somit das primäre Ziliendyskinesie-Syndrom (PCD). Bei dem Ziliendyskinesie-Syndrom kommt es zur Funktionseinschränkung der zilientragenden Zellen, was zu einer deutlichen Reduktion der mukoziliären Clearance führt. Die Dyskinesie beruht in den meisten Fällen auf einer fehlenden Untereinheit des Motorproteins Dynein [18]. Die meisten Defekte, die zu diesen Veränderungen führen, sind autosomal-rezessiv vererbt. Bei männlichen Patienten besteht neben Bronchiektasen auch eine Infertilität. Heutzutage wird die Erkrankung durch elektromikroskopische Untersuchung von Bürstenabstrichen oder Biopsien der betroffenen Schleimhäute nachgewiesen, die zu Jaspers’ Zeit nicht zur Verfügung standen. Nach wie vor ist eine kausale Therapie nicht möglich, die Krankheitsmanifestation wird symptomatisch behandelt. Da dies in der Regel die Atemwege sind, bedarf es hier einer konsequenten Lebensweise sowie regelmäßiger atemphysikalischer Maßnahmen. Als Sonderform des primären Ziliendyskinesie-Dysfunktionssyndroms kann es zum Kartagener-Syndrom kommen, bei dem zusätzlich ein Situs inversus besteht. Da die zur Verfügung stehenden beschreibenden Röntgenbilder dies nicht aufweisen, ist am ehesten davon auszugehen, dass Jaspers an einem primären Ziliendyskinesie-Dysfunktionssyndrom litt und die Erkrankung auch mit hoher Selbstdisziplin stabil hielt.

Dieser Befund wird dadurch erhärtet, dass die 1910 geschlossene Ehe zwischen Karl und Gertrud Jaspers kinderlos blieb. Der damals vorherrschenden Denkweise entsprechend, wurde die Ursache für die Kinderlosigkeit primär bei Gertrud Jaspers gesucht, zumal man 1912 bei ihr Myome entdeckte. Nach langer Diskussion entschied sich das Paar für die risikoreichere operative Entfernung. Die alternative Bestrahlung wurde zwar diskutiert, wegen der daraus resultierenden Unfruchtbarkeit jedoch verworfen. Obwohl die Operation komplikationslos erfolgte, blieb der Kinderwunsch des Paars weiterhin unerfüllt. Auf die Idee, dass die Kinderlosigkeit auf die Grunderkrankung des Mannes zurückzuführen sein könnte, kam man damals nicht.


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Mit der Krankheit leben

Als Fraenkel 1901 die Diagnose stellte, ergaben sich für Jaspers 3 Grundsätze der Behandlung: „Regelmäßig expektorieren, Erkältungen vermeiden, das Herz nicht überanstrengen“ ([1], S. 121). Darunter war der erstgenannte Grundsatz bei weitem der wichtigste. Weil der nicht abfließende Schleim die Infektionsgefahr erhöhte, kam es darauf an, für eine rechtzeitige Entleerung der Bronchien zu sorgen, und das mehrmals täglich, in kritischen Phasen sogar stündlich. Jaspers durfte nicht warten, bis sich so viel Schleim angesammelt hatte, dass die Bronchien von sich aus, etwa durch Hustenreiz, zu einer Absonderung drängten. Doch die rechtzeitige Entleerung war nicht einfach, sie erforderte eine aktiv herbeigeführte, methodisch geleitete Expektoration, um die sich Jaspers seit seiner Studienzeit bemühte. Dass sie ihm erst 1924 gelang und seitdem zu einer kontinuierlich geübten Praxis wurde, lag nicht zuletzt an einer Veränderung der Wohnsituation.

Ende 1919 wurde Jaspers zum etatmäßigen Extraordinarius für Philosophie der Universität Heidelberg berufen und mit Wirkung auf den 1. April 1920 verbeamtet. Mit dieser finanziellen Absicherung stieg allerdings auch sein Lehrdeputat. Das stellte für ihn, den längeres Sprechen anstrengte, eine erhöhte körperliche Belastung dar, zumal er durch die allgemeine Not der Nachkriegszeit zusätzlich geschwächt war und seine Erkrankung kaum verbergen konnte. So schrieb er am 11. Dezember 1919 voller Dankbarkeit, aber auch in großer Ungewissheit den Eltern: „Ihr werdet wie ich bei solcher Gelegenheit Euch zurückrufen, wie wenig ich im Leben zu hoffen hatte, wie viel Sorgen Ihr um mich gehabt habt, und dass ich als geldverdienender Beamter überhaupt nicht in Frage kam. Dass ich krank bin und wie sehr ich es bin, ist gottseidank nicht recht bekannt. […] Ich werde weiter nach aussen als Gesunder auftreten, wenn es auch immer schwerer wird, da ich nun alle halbe Stunde husten muss. Das Leben wird streng eingeteilt und geregelt werden müssen, damit ich die nun täglichen Vorlesungen aushalte. Aber ich freue mich darauf. Denn es ist schön, wenn man sich etwas abzwingen kann“ [19]. Täglich musste Jaspers zwar nicht lesen, aber öfter als bisher schon. Da er, um eine Stunde unbeschwert sprechen zu können, vor jeder Vorlesung seine Bronchien entleeren musste, sah er sich gezwungen, regelmäßiger, aber auch gründlicher zu expektorieren. Dadurch nahm die Krankheit noch mehr Raum in seinem Leben ein. Als zunehmend problematisch erwies sich nun auch der weite Weg von der Handschuhsheimer Landstraße 38, wo er seit 1913 wohnte, zur Universität in der Altstadt auf der anderen Neckarseite. Obwohl er die Straßenbahn benutzte, die damals noch durch die Hauptstraße fuhr [20], war die zeitliche Differenz zwischen Expektoration und Vorlesung relativ groß, was den gewünschten Effekt minderte. Auf die Dauer war diese Situation unhaltbar.

Eine spürbare Verbesserung trat ein, als Jaspers im Januar 1923, wenige Monate nach seiner Berufung zum Ordinarius, eine Wohnung in der Plöck 66 bezog. Die unmittelbare Nähe zur Universität spielte bei dieser Wahl eine entscheidende Rolle. Jaspers war nun nicht mehr auf die Straßenbahn angewiesen, in der er unter Umständen keinen Sitzplatz fand oder, besonders im Winter, immer Gefahr lief, sich anzustecken. Auch die Sorge, die Straßenbahn könnte angesichts des rapiden Wertverfalls des Geldes durch die Inflation ihren Dienst einstellen ([21], S. 39), war damit vom Tisch. Zwar blieb die allgemeine Situation weiterhin besorgniserregend, doch gesundheitlich standen die Zeichen gut. Die neue Wohnung gab Anlass zur Hoffnung. Am 10. Januar, der Umzug war schon in vollem Gang, schrieb Jaspers den Eltern: „Wenn ich daran denke, dass wir wirklich in der schönen Plöckwohnung um die Ecke an der Universität wohnen, habe ich das Gefühl, halb gesund zu werden.“ Und eine Woche später, am 17. Januar, der Umzug war gerade abgeschlossen, bekräftigte er noch einmal: „Ich bin sehr befriedigt in dem Gefühl, nun die Universität um die Ecke zu haben. Es ist, als ob ich gesünder und leistungsfähiger geworden sei. Was wir alle noch für ein Schicksal erfahren, wissen wir nicht. Solange die Universität besteht und ich überhaupt lesen kann, wird mir durch räumliche Entfernung kein Hindernis mehr in den Weg gelegt“ [19].

Die neue Wohnsituation bewirkte eine nachhaltige Entspannung des Alltags. Durch die unmittelbare Nähe zur Universität konnte Jaspers ohne Zeitdruck expektorieren, ein Faktor, der für die Ausbildung der richtigen Methode wesentlich wurde: „Die Prozedur erfordert Ruhe. Jede Eile, seelische Okkupiertheit, Spannung […] verhindern die Sekretion. Es ist dann, als ob kein Sekret da wäre. Bei jeder Erregung tritt Sekretarmut ein, wie etwa der trockene Hals bei Affekten“ ([1], S. 122). Seine Vorlesungen empfand Jaspers nun als weniger anstrengend. Zur Erleichterung trug nicht zuletzt auch das Bewusstsein bei, nach der Veranstaltung gleich zu Hause zu sein, während er bisher im Dozentenzimmer ausruhen musste, bevor er den langen Heimweg antreten konnte.

Doch nicht nur die unmittelbare Nähe zur Universität, auch die Wohnung selbst hatte ihren Anteil daran, dass sich Jaspers’ Zustand allmählich stabilisierte. Zu ihr gehörten 2 Mansardenzimmer, das eine für Gäste, das andere für das Hausmädchen. Die bisherige Wohnung in der Handschuhsheimer Landstraße hatte dagegen nur ein Mansardenzimmer besessen, das überdies nicht dauerhaft genutzt werden durfte. Baupolizeiliche Bestimmungen sahen lediglich eine vorübergehende Nutzung als Gästezimmer vor, weshalb das Hausmädchen auf der Etage mitwohnte. Was die räumliche Trennung hygienisch bedeutete, wurde Jaspers bewusst, als das Hausmädchen wenige Wochen nach dem Umzug in die Plöck erkrankte. „Heute morgen legte sich Maria mit Grippe zu Bett. Sie liegt gut in der schönen Mansarde. Hier ist die Ansteckungsgefahr viel geringer als in der früheren Wohnung“, teilte Jaspers am 11. Februar seinen Eltern mit [19]. Kein Wunder also, dass er hier bis zu seinem Umzug nach Basel wohnen blieb, insgesamt 25 Jahre.


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Krankheit und Philosophie

Jaspers hat es lange vermieden, zwischen seiner Krankheit und seiner Philosophie einen Zusammenhang herzustellen. Die 1938 verfasste „Krankheitsgeschichte“ [1] hielt er 3 Jahrzehnte zurück. In dem Aufsatz „Über meine Philosophie“ [22], 1941 für die italienische Ausgabe der Zeitschrift Logos geschrieben, wurde die Krankheit mit keinem Wort erwähnt, in dem 1951 gesendeten Radiovortrag „Mein Weg zur Philosophie“ [23] wurde sie in beiläufigen Formulierungen wie „mangelnde Kraft des nie gesunden Körpers“ oder „ständige Anfälligkeit meines körperlichen Daseins“ zumindest angedeutet ([23], S. 324 u. 325). Erst die „Philosophische Autobiographie“ [24], 1953 entstanden und 1957 publiziert, stellte bewusst einen Zusammenhang her ([24], S. 4 – 5).

Das heißt freilich nicht, dass die Krankheit in Jaspers’ Philosophie keinen Niederschlag gefunden hätte. Ganz im Gegenteil: Das Leben mit der Krankheit und seine Stabilisierung durch die verbesserte Wohnsituation seit 1923 spiegelt sich im veränderten Stellenwert, den Jaspers dem Begriff des Leidens gab.

In der Psychologie der Weltanschauungen von 1919 [25], jenem Buch, dem er letztlich seine Ernennung zum etatmäßigen Extraordinarius für Philosophie verdankte, unterschied Jaspers verschiedene Grenzsituationen des menschlichen Daseins wie Kampf, Tod, Zufall oder Schuld und sah deren Gemeinsamkeit darin, dass sie Leiden bedingen ([25], S. 235 – 263). Das Leiden ist etwas Letztes und dem Menschen Wesenhaftes. Es betrifft nicht nur den Kranken, sondern auch den Gesunden, denn unter der Unbarmherzigkeit des Daseinskampfes, der Angst vor dem Tod, der Sinnlosigkeit des Zufalls und der Unausweichlichkeit der Daseinsschuld leiden beide. Während aber der Gesunde dieses existenzielle Leiden erfolgreich verdrängt, ist es dem Kranken, der durch seine Krankheit täglich daran erinnert wird, viel stärker gegenwärtig. Jaspers war es so präsent, dass es ihm persönlich zur Grundstimmung seines Lebens, philosophisch zur Grundsituation des Menschen wurde.

In der dreibändigen Philosophie von 1932 [26], seinem Hauptwerk, an dem er von 1924 bis 1931 gearbeitet hatte, machte Jaspers die Grenzsituationen erneut zum Thema. Wieder griff er einzelne davon heraus, sprach von Kampf, Tod, Zufall und Schuld, doch diesmal zählte er auch das Leiden dazu ([26], Bd. 2, S. 230 – 233). Das Leiden war nun nicht mehr das Gemeinsame aller Grenzsituationen, sondern lediglich eine Grenzsituation unter anderen. Es trat in den Hintergrund und hörte auf, Grundstimmung seines Lebens bzw. Grundsituation des Menschen zu sein. Die an den Umzug in die Plöck geknüpften Hoffnungen hatten sich offenbar erfüllt. Jaspers war tatsächlich „gesünder und leistungsfähiger“ geworden – die Zurückstufung des Leidens belegt das eindrucksvoll.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Jaspers K. Krankheitsgeschichte. In: Schicksal und Wille. Autobiographische Schriften. hrsg. von H. Saner. München: R. Piper & Co. Verlag; 1967: 109-142
  • 2 Weidmann B. Schutz vor der drohenden Deportation. Emil Henk versteckt Gertrud Jaspers. In: Giovannini N. Hrsg. Stille Helfer. Eine Spurensuche in Heidelberg (1933–1945). Heidelberg: Kurpfälzischer Verlag; 2019: 159-186
  • 3 Jaspers K. Heimweh und Verbrechen. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der hohen medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg. Leipzig: Verlag von F. C. W. Vogel; 1909
  • 4 Jaspers K. Provokationen. Gespräche und Interviews. hrsg. von H. Saner. München: R. Piper & Co. Verlag; 1969
  • 5 Rabanus C. Hrsg. Primärbibliographie der Schriften Karl Jaspers’. Tübingen, Basel: A. Francke Verlag; 2000
  • 6 Jaspers K. Allgemeine Psychopathologie. Ein Leitfaden für Studierende, Ärzte und Psychologen. Berlin: Verlag von Julius Springer; 1913
  • 7 Jaspers K. Philosophische Logik, Bd. 1: Von der Wahrheit. München: R. Piper & Co. Verlag; 1947
  • 8 Jaspers K. Grundsätze des Philosophierens. Einführung in philosophisches Leben. Karl-Jaspers-Gesamtausgabe Bd. II/1. hrsg. von B. Weidmann. Basel: Schwabe Verlag; 2019
  • 9 Jaspers K. Die Schuldfrage. Heidelberg: Lambert Schneider; 1946
  • 10 Jaspers K, Arendt H. Wahrheit, Freiheit und Friede. Karl Jaspers. Reden zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1958. München: R. Piper & Co. Verlag; 1958
  • 11 Jaspers K. Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 1945–1965. München: R. Piper & Co. Verlag; 1965
  • 12 Jaspers K. Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen – Gefahren – Chancen. München: R. Piper & Co. Verlag; 1966
  • 13 Weidmann B. „Ihr dummes Gerede über unser geliebtes Deutschland“. Zwei Fernsehinterviews und ihre Folgen: Schmähbriefe an Karl Jaspers. In: Atze M, Kaukoreit V. Hrsg. Erledigungen. Pamphlete, Polemiken und Proteste. Wien: Praesens Verlag; 2014: 206-228
  • 14 Drings P, Thierfelder J, Weidmann B. et al., Hrsg. Albert Fraenkel. Ein Arztleben in Licht und Schatten 1864–1938. Landsberg: ecomed Verlagsgesellschaft AG & Co. KG; 2004
  • 15 Fischer L. Vorgestellt: Gertrud Mayer-Jaspers, 1879–1974. Medaon. Magazin für Jüdisches Leben in Forschung und Bildung 2013; 7: 1-14 http://www.medaon.de/pdf/MEDAON_13_Artikel_Fischer.pdf
  • 16 Polverino E, Goeminne PC, McDonnell MJ. et al. European Respiratory Society guidelines for the management of adult bronchiectasis. European Respiratory Journal 2017; 50: 1700629 DOI: 10.1183/13993003.00629-2017.
  • 17 Gao YH, Guan WJ, Liu SX. et al. Aetiology of bronchiectasis in adults: A systematic literature review. Respirology 2016; 21: 1376-1383
  • 18 Butterfield R. Primary Ciliary Dyskinesia. Pediatrics in Review 2017; 38: 145-146 DOI: 10.1542/pir.2016-0108.
  • 19 Jaspers K. Familienarchiv. Nachlass K. Jaspers, Deutsches Literaturarchiv Marbach.
  • 20 Muth F. Straßenbahnen in Heidelberg. 100 Jahre „Blau-Weiße“ in der Neckarstadt. München: GeraMond Verlag; 2003
  • 21 Heidegger M, Jaspers K. Briefwechsel 1920–1963. hrsg. von W. Biemel und H. Saner, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann München, Zürich: Piper; 1990
  • 22 Jaspers K. Über meine Philosophie. In: Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze. München: R. Piper & Co. Verlag; 1951: 333-365
  • 23 Jaspers K. Mein Weg zur Philosophie. In: Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze. München: R. Piper & Co. Verlag; 1951: 323-332
  • 24 Jaspers K. Philosophische Autobiographie. In: Schilpp PA. Hrsg. Karl Jaspers. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag; 1957: 1-79
  • 25 Jaspers K. Psychologie der Weltanschauungen. Karl-Jaspers-Gesamtausgabe Bd. I/6. hrsg. von O. Immel. Basel: Schwabe Verlag; 2019
  • 26 Jaspers K. Philosophie, Bd: 1: Philosophische Weltorientierung; Bd. 2: Existenzerhellung; Bd. 3: Metaphysik. Berlin: Verlag von Julius Springer; 1932

Korrespondenzadresse

Dr. Bernd Weidmann
c/o Heidelberger Akademie der Wissenschaften Karl-Jaspers-Gesamtausgabe
Philosophisches Seminar der Universität Heidelberg
Schulgasse 6
69117 Heidelberg

Publication History

Article published online:
07 April 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York

  • Literatur

  • 1 Jaspers K. Krankheitsgeschichte. In: Schicksal und Wille. Autobiographische Schriften. hrsg. von H. Saner. München: R. Piper & Co. Verlag; 1967: 109-142
  • 2 Weidmann B. Schutz vor der drohenden Deportation. Emil Henk versteckt Gertrud Jaspers. In: Giovannini N. Hrsg. Stille Helfer. Eine Spurensuche in Heidelberg (1933–1945). Heidelberg: Kurpfälzischer Verlag; 2019: 159-186
  • 3 Jaspers K. Heimweh und Verbrechen. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der hohen medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg. Leipzig: Verlag von F. C. W. Vogel; 1909
  • 4 Jaspers K. Provokationen. Gespräche und Interviews. hrsg. von H. Saner. München: R. Piper & Co. Verlag; 1969
  • 5 Rabanus C. Hrsg. Primärbibliographie der Schriften Karl Jaspers’. Tübingen, Basel: A. Francke Verlag; 2000
  • 6 Jaspers K. Allgemeine Psychopathologie. Ein Leitfaden für Studierende, Ärzte und Psychologen. Berlin: Verlag von Julius Springer; 1913
  • 7 Jaspers K. Philosophische Logik, Bd. 1: Von der Wahrheit. München: R. Piper & Co. Verlag; 1947
  • 8 Jaspers K. Grundsätze des Philosophierens. Einführung in philosophisches Leben. Karl-Jaspers-Gesamtausgabe Bd. II/1. hrsg. von B. Weidmann. Basel: Schwabe Verlag; 2019
  • 9 Jaspers K. Die Schuldfrage. Heidelberg: Lambert Schneider; 1946
  • 10 Jaspers K, Arendt H. Wahrheit, Freiheit und Friede. Karl Jaspers. Reden zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1958. München: R. Piper & Co. Verlag; 1958
  • 11 Jaspers K. Hoffnung und Sorge. Schriften zur deutschen Politik 1945–1965. München: R. Piper & Co. Verlag; 1965
  • 12 Jaspers K. Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen – Gefahren – Chancen. München: R. Piper & Co. Verlag; 1966
  • 13 Weidmann B. „Ihr dummes Gerede über unser geliebtes Deutschland“. Zwei Fernsehinterviews und ihre Folgen: Schmähbriefe an Karl Jaspers. In: Atze M, Kaukoreit V. Hrsg. Erledigungen. Pamphlete, Polemiken und Proteste. Wien: Praesens Verlag; 2014: 206-228
  • 14 Drings P, Thierfelder J, Weidmann B. et al., Hrsg. Albert Fraenkel. Ein Arztleben in Licht und Schatten 1864–1938. Landsberg: ecomed Verlagsgesellschaft AG & Co. KG; 2004
  • 15 Fischer L. Vorgestellt: Gertrud Mayer-Jaspers, 1879–1974. Medaon. Magazin für Jüdisches Leben in Forschung und Bildung 2013; 7: 1-14 http://www.medaon.de/pdf/MEDAON_13_Artikel_Fischer.pdf
  • 16 Polverino E, Goeminne PC, McDonnell MJ. et al. European Respiratory Society guidelines for the management of adult bronchiectasis. European Respiratory Journal 2017; 50: 1700629 DOI: 10.1183/13993003.00629-2017.
  • 17 Gao YH, Guan WJ, Liu SX. et al. Aetiology of bronchiectasis in adults: A systematic literature review. Respirology 2016; 21: 1376-1383
  • 18 Butterfield R. Primary Ciliary Dyskinesia. Pediatrics in Review 2017; 38: 145-146 DOI: 10.1542/pir.2016-0108.
  • 19 Jaspers K. Familienarchiv. Nachlass K. Jaspers, Deutsches Literaturarchiv Marbach.
  • 20 Muth F. Straßenbahnen in Heidelberg. 100 Jahre „Blau-Weiße“ in der Neckarstadt. München: GeraMond Verlag; 2003
  • 21 Heidegger M, Jaspers K. Briefwechsel 1920–1963. hrsg. von W. Biemel und H. Saner, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann München, Zürich: Piper; 1990
  • 22 Jaspers K. Über meine Philosophie. In: Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze. München: R. Piper & Co. Verlag; 1951: 333-365
  • 23 Jaspers K. Mein Weg zur Philosophie. In: Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze. München: R. Piper & Co. Verlag; 1951: 323-332
  • 24 Jaspers K. Philosophische Autobiographie. In: Schilpp PA. Hrsg. Karl Jaspers. Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag; 1957: 1-79
  • 25 Jaspers K. Psychologie der Weltanschauungen. Karl-Jaspers-Gesamtausgabe Bd. I/6. hrsg. von O. Immel. Basel: Schwabe Verlag; 2019
  • 26 Jaspers K. Philosophie, Bd: 1: Philosophische Weltorientierung; Bd. 2: Existenzerhellung; Bd. 3: Metaphysik. Berlin: Verlag von Julius Springer; 1932

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Abb. 1 Karl Jaspers auf Norderney, 1930 (Foto: Deutsches Literaturarchiv Marbach).