Schlüsselwörter
Tonsillektomie - Tonsillotomie - Tonsillenoperation - Tonsillitis
Key words
tonsillotomy - tonsillectomy - tonsil surgery - tonsillitis
Dieser Beitrag soll die Leser, insbesondere Kolleginnen und Kollegen in der HNO-Facharztweiterbildung,
in die Lage versetzen, Patienten und Angehörige gut über das Für und Wider der Tonsillenchirurgie
beraten zu können.
Einleitung
Bedeutung der Tonsillenchirurgie
Operationen an der Tonsilla palatina gehören zu den häufigsten Operationen in der
HNO-Heilkunde, vor allem bei Kindern. Die Diskussion über optimale chirurgische Verfahren
beschäftigt die HNO-Heilkunde spätestens seit der Veröffentlichung der Bertelsmann
Stiftung „Faktencheck Gesundheit: Entfernung der Gaumenmandeln bei Kindern und Jugendlichen“
[1] im Jahr 2013 bei zu hoher, nicht medizinisch begründbarer regionaler Variation der
Anzahl der Tonsillenoperationen in Deutschland. Bereits davor war in Deutschland eine
ständig steigende Zahl von Tonsillotomien zur Behandlung der Tonsillenhyperplasie
mit oberer Atemwegsobstruktion bei Kleinkindern mit guten Behandlungserfolgen zu beobachten.
Beides zusammen forcierte den Wunsch nach besseren Qualitätssicherungsverfahren zur
Indikationsstellung und eröffnete die Debatte, wann eine Tonsillektomie und wann eine
Tonsillotomie indiziert sei. Ein wichtiger Schritt war die Veröffentlichung der S2k-Leitlinie
„Therapie entzündlicher Erkrankungen der Gaumenmandeln – Tonsillitis“ (Nr. 17/024)
der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)
unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf-Hals-Chirurgie
im Jahr 2015 [2]. Die Leitlinie versuchte erstmals in Deutschland Empfehlungen für die Tonsillenchirurgie
auszusprechen.
Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat dann
im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) untersucht, ob die Tonsillotomie
Vorteile gegenüber der Tonsillektomie bietet. Der IQWiG-Bericht (N15-11) wurde 2017
veröffentlicht (www.iqwig.de/de/projekte-ergebnisse/projekte/nichtmedikamentoese-verfahren/n15-11-tonsillotomie-bei-rezidivierender-akuter-tonsillitis-und-bei-hyperplasie-der-tonsillen.7133.html). Im Wesentlichen wurden kurzfristige Vorteile für die Tonsillotomie erkannt, aber
der langfristige Nutzen und Schaden sei unklar. 2019 wurde vom G-BA als Folge des
Berichts die Tonsillotomie für die Behandlung der Hyperplasie der Tonsilla palatina
in den Katalog für das ambulante Operieren aufgenommen. Andererseits wurde konstatiert,
dass der Nutzen zur Behandlung einer rezidivierenden akuten Tonsillitis unklar sei
und eine Erprobungsstudie zur Aufklärung ausgeschrieben werde. Diese Erprobungsstudie
wird derzeit vorbereitet. Parallel zu dem IQWiG-Verfahren wurde vom G-BA die Tonsillenoperation
als mengenrelevanter Eingriff eingeordnet und 2018 ein Zweitmeinungsverfahren erlassen.
Danach erhielten die Patienten das formalisierte Recht, bei einer Indikationsstellung
und Operationsempfehlung zunächst noch eine zweite ärztliche Meinung einzuholen (www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen/778/).
Vor dem Hintergrund der zahlreichen regulatorischen Änderungen ist es sicher gut,
dass nunmehr die Arbeit zur Aktualisierung der AWMF-Leitlinie zur Tonsillitis begonnen
wurde. Die Laryngo-Rhino-Otologie hat zuletzt im Jahr 2016 in der Rubrik „Facharztwissen
HNO“ einen ausführlichen Beitrag zu Operationen im Rachen publiziert [3]. Der vorliegende Artikel möchte die Leser der Laryngo-Rhino-Otologie und insbesondere
die Kolleginnen und Kollegen in der HNO-Facharztweiterbildung auf den aktuellen Stand
bringen. Eine Beschreibung der Operationstechniken findet sich in dem Beitrag von
2016 und wird hier nicht wiederholt.
Definition
Eigentlich erscheint die Definition sehr einfach. Bei der Tonsillektomie (OPS-2020-Code:
5-281.0) wird zur vollständigen Entfernung der Tonsilla palatina eine extrakapsuläre
Resektion, also eine vollständige Entfernung des Organs unter Mitnahme der Tonsillenkapsel
vorgenommen. Jede Art von Teilresektion ist dann eine Tonsillotomie (OPS-2020-Code:
5-281.5), bei der dann intrakapsulär, also unter Erhalt der Kapsel, operiert wird.
Insbesondere im angloamerikanischen Raum, wo der Begriff der Tonsillotomie seltener
verwendet wird, finden sich Ausdrücke wie partielle, subtotale oder intrakapsuläre
Tonsillektomie. In der AWMF-Leitlinie Tonsillitis wird eine Klassifikation vorgeschlagen,
über deren Nutzung im Alltag wenig bekannt ist: Wenn nur Tonsillengewebe medial der
Gaumenbögen abgetragen wird, wird von einer Klasse-I-Tonsillotomie gesprochen, wird
weiter nach lateral unter Erhalt der Tonsillenkapsel operiert, von einer Klasse-II-Tonsillotomie.
Einen Konsens über die Unterschiede zwischen den Begriffen partielle, subtotale oder
intrakapsuläre Tonsillektomie gibt es nicht ([Abb. 1]).
Abb. 1 Definition des Ausmaßes der Operation bei Tonsillektomie und Tonsillotomie. a Während das Ausmaß durch die Kapsel bei der Tonsillektomie eindeutig definiert ist,
ist dies bei der Tonsillotomie nicht definiert. Wie in der Zeichnung zu sehen, wird
die Tonsillotomie häufig im Niveau der Gaumenbögen vorgenommen. Falls darüber hinaus
nach lateral intrakapsulär operiert wird, verwendet man z. B. den Begriff subtotale
Tonsillektomie. Quelle: Amrhein P, Di Dio D, Koitschev A et al. Tonsillektomie und
Tonsillotomie im Wandel – Ist die Tonsillektomie bei Kindern noch zeitgemäß? Pädiatrie
up2date 2019; 14 (03): 215–224 DOI: 10.1055/a-0720-1722. b Intraoperativer Situs. Nur der die Gaumenbögen überragende Teil (weiß markiert) soll
laut Autoren bei der Tonsillotomie entfernt werden. Aber entspricht die weiße Linie
diesem Anteil? – Dies macht deutlich, wie schwierig eine Standardisierung sein kann.
Quelle: Gronau S, Fischer Y. Die Tonsillotomie. Laryngorhinootologie 2005; 84 (9):
685–690 DOI: 10.1055/s-2005-861043.
Tonsillektomie = vollständige chirurgische Entfernung der Tonsilla palatina
Tonsillotomie = Teilentfernung der Tonsilla palatina
Historische Entwicklung
Ausführliche Beschreibungen der Historie der Tonsillenchirurgie finden sich an anderer
Stelle [4]
[5]. Die ersten Beschreibungen von Tonsillenentfernungen findet man bereits in der Antike.
Teile der Gaumenmandeln wurden zunächst mit dem Finger oder der Schere entfernt. Die
Tonsillenchirurgie begann also mit Verfahren zur Teilentfernung. Im 19. Jahrhundert
kam die Teilentfernung mit Tonsillotomen, also Tonsillenschnürern, auf, vor allem
mit „kalten“, später auch mit „heißen“ Schlingen, und zwar mit galvanokaustischen
Glühschlingen. Die Tonsillektomie galt dagegen als technisch schwierig, und die Gefahr
der lebensbedrohlichen Nachblutung war bekannt.
Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war die Teilentfernung ohne Entfernung der Tonsillenkapsel
Standard. Erst mit Aufkommen der Möglichkeit der Vollnarkose setzte dann eine Diskussion
um mögliche Vorteile der Tonsillektomie ein, insbesondere bei entzündlichen Erkrankungen
der Tonsille. Es mehrten sich die Beobachtungen (im Vorantibiotikazeitalter und im
Zeitalter vor der evidenzbasierten Medizin), dass nach Tonsillotomie bei Patienten
mit der Anamnese einer rezidivierenden Tonsillitis häufiger erneute Tonsillitiden
(selten Abszesse) auftreten könnten. Letztendlich gingen nach dem 2. Weltkrieg die
Tonsillotomien zurück und die Tonsillektomien nahmen zu.
Ein erneuter Umschwung geht auf die umfangreichen Fallserien aus der Wendezeit von
Scherer et al. am damaligen Klinikum Benjamin Franklin der Freien Universität Berlin
zurück. Zwischen 1989 und 2002 wurden dort 1374 Tonsillotomien mit dem CO2-Laser vorgenommen [6]. Seitdem, also schon weit vor der Einführung der S2k-Leitlinie in Deutschland, sind
ein kontinuierlicher Rückgang der Tonsillektomie und eine Zunahme der Tonsillotomie
zu beobachten [7]. Genau genommen ist seit spätestens den 1980er-Jahren nicht nur in Deutschland,
sondern auch in anderen westlichen Ländern ein Rückgang der Anzahl der jährlichen
Tonsillektomien zu beobachten [8]. Bereits seit dieser Zeit wird eine Debatte über die Indikation zur Tonsillektomie
geführt, und die Diskussion ist noch lange nicht beendet.
In der Medizingeschichte war die Tonsillotomie weit vor der Tonsillektomie als medizinisches
Behandlungsverfahren verbreitet, wurde nach dem 2. Weltkrieg von der Tonsillektomie
verdrängt und erlebte eine Wiederentdeckung in Deutschland um die Wendezeit, zunächst
als Verfahren zur Behandlung der krankhaften Hyperplasie der Gaumenmandeln ([Abb. 2]).
Abb. 2 Die Tonsillotomie (TT) im Wandel der Zeit. Die Tonsillotomie beschäftigt die Medizin
seit Beginn der christlichen Zeitrechnung bis heute. AQUA = Institut für angewandte
Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen GmbH; EBM = einheitlicher Bewertungsmaßstab;
G-BA = Gemeinsamer Bundesausschluss; IQWiG = Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit
im Gesundheitswesen; QM = Qualitätsmanagement; TE = Tonsillektomie. Die Namen nennen
Vorreiter und Zeitgenossen/Erstautoren, die sich in Publikationen mit dem Für und
Wider der Tonsillotomie beschäftigt haben.
Indikation
Tonsillektomie
Wichtige klassische Indikationen zur Tonsillektomie – die zum Teil auf dem Prüfstand
stehen – sind die folgenden Erkrankungen: rezidivierende akute Tonsillitis, Peritonsillarabszess,
Retrotonsillarabszess, tonsillärer Fokus bei entzündlicher Grunderkrankung, Schlaf-Apnoe-Syndrom
und Tumorverdacht. In Bezug auf die rezidivierende akute Tonsillitis formuliert die
aktuelle S2k-Leitlinie Tonsillitis, die weiter unten noch genauer betrachtet wird,
genauere Empfehlungen: Eine Tonsillektomie sei eine therapeutische Option, wenn der
Patient mindestens 6 Episoden einer ärztlich diagnostizierten und mit Antibiotika
therapierten eitrigen Tonsillitis in den letzten 12 Monaten vor Vorstellung erlitten
hat.
Tonsillotomie
Nach dem Wiederaufkommen der Tonsillotomie wurde das Verfahren im Wesentlichen zur
Behandlung der Tonsillenhyperplasie bei Kleinkindern eingesetzt, die bedingt durch
die Hyperplasie der Tonsillen an Mundatmung, Schnarchen, Atemwegsobstruktion, Schlafstörungen,
Schluckstörungen und Schlaf-Apnoe-Syndrom litten. Tonsillitiden in der Patientenanamnese
galten lange als Kontraindikation für die Tonsillotomie. In der S2k-Leitlinie Tonsillitis
wurde dies dann nicht mehr aufrechterhalten: Tonsillitiden stellten fortan keine Kontraindikation
mehr dar, sondern sind seitdem ggf. sogar die Indikation. Ebenso wird keine Alterslimitierung
empfohlen. Eine Tonsillotomie könne auch bei älteren Kindern und Erwachsenen zur Behandlung
einer rezidivierenden akuten Tonsillitis vorgenommen werden. Dabei wird für die Indikationsstellung
zur Tonsillotomie dieselbe quantitative Definition anhand der Tonsillitis-Episoden
angewandt wie weiter oben für die Tonsillektomie beschrieben. Letztendlich wird in
der Leitlinie die Tonsillotomie als gleichwertige Behandlungsmethode zur Behandlung
der rezidivierenden akuten Tonsillitis betrachtet.
Die diskutierten Vorteile und Nachteile der Tonsillotomie versus Tonsillektomie sind
in [Tab. 1] zusammengefasst.
Tab. 1
Gegenüberstellung der diskutierten Vorteile vs. Nachteile von Tonsillotomie und Tonsillektomie.
|
Tonsillotomie
|
Tonsillektomie
|
Vorteile
|
-
Komplikationsrate ist niedriger
-
Postoperative Schmerzen sind geringer
-
kann bei einem Teil der Patienten ambulant vorgenommen werden
|
-
Tonsillitiden können danach nicht mehr auftreten
-
gut standardisiertes Verfahren
-
kann für alle Indikationen zur Tonsillenchirurgie eingesetzt werden
|
Nachteile
|
-
erneute Operation an den Gaumenmandeln wegen wiederkehrender Beschwerden ist möglich
-
Effektivität zur Behandlung der rezidivierenden akuten Tonsillitis ist nicht ausreichend
untersucht
-
Ausmaß der Teilresektion ist nicht standardisiert
|
-
Komplikationsrate ist höher
-
postoperative Schmerzen sind höher
-
Auswirkungen der kompletten Entfernung dieses sekundären Immunorgans sind nicht ausreichend
untersucht
|
Die wichtigsten Indikationen
Tonsillektomie:
-
rezidivierende akute Tonsillitis
-
Peritonsillarabszess, Retrotonsillarabszess
-
tonsillärer Fokus bei entzündlicher Grunderkrankung
-
Schlaf-Apnoe-Syndrom
-
Tumorverdacht
Tonsillotomie:
-
krankhafte Hyperplasie der Gaumentonsillen im Kindesalter
-
rezidivierende akute Tonsillitis (laut Leitlinie, nicht ausreichend geprüft laut IQWiG)
Studien, Leitlinien und regulatorische Änderungen
Studien, Leitlinien und regulatorische Änderungen
Faktencheck Gesundheit: Entfernung der Gaumenmandeln bei Kindern und Jugendlichen
Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung hat das Institut für Gesundheits- und Sozialforschung
(IGES) auf Basis der Grunddaten der Krankenhäuser und derer Qualitätsberichte, der
Bevölkerungsstatistik sowie im Wesentlichen der Daten des Statistischen Bundesamts
über die Fallpauschalen-bezogene Krankenhausstatistik die Tonsillektomien in deutschen
Krankenhäusern zwischen 2007 und 2010 untersucht. Detailliert wurde das Jahr 2010
ausgewertet [1]. Es zeigten sich erhebliche regionale Unterschiede in der Häufigkeit der durchgeführten
Tonsillektomien. Auf Kreisebene zeigte sich zudem eine Spannweite von 10–116 Tonsillektomien
je 10 000 Kinder und Jugendliche. Die Autoren konnten keine wissenschaftliche Begründung
für die Unterschiede finden. Die Variationen seien vielmehr Ausdruck eines uneinheitlichen
Entscheidungsverhaltens bei der Indikationsstellung. Eine Leitlinie könne hier hilfreich
sein. Auch wurde bereits angeregt, bei gegebener Indikation gegebenenfalls die Tonsillektomie
durch eine Tonsillotomie zu ersetzen.
In der Presse wurde die Studie vielfach diskutiert mit Aussagen wie „Mandel-OPs bei
Kindern – ein Roulette-Spiel“ (Der Spiegel: http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/kinder-und-jugendliche-wohnort-entscheidet-ueber-mandelentfernung-a-897438.html). Wichtig zur sachlichen Einordnung des Faktenchecks ist, dass aus der Analyse keine
Schlussfolgerungen über die Versorgungsqualität und die optimale Indikationsstellung
für eine Tonsillenoperation abgeleitet werden können. Und natürlich steht die HNO-Heilkunde
in Deutschland mit der Frage einer konsentierten Indikationsstellung für ein operatives
Verfahren nicht allein da. Bereits 1938 versuchte man die regionale Variabilität der
Tonsillektomie in Großbritannien zu verstehen [9]
[10].
Auch viele andere, häufig durchgeführte Operationen zeigen eine erhebliche geografische
Variabilität. Unterschiede in den Schweregraden der Erkrankung, der diagnostischen
Abklärung oder Patientenverhalten können in der Regel nur einen kleinen Teil der regionalen
Variabilität erklären. Vielmehr scheint es, dass chirurgische Variabilität ganz allgemein
in erster Linie Ausdruck der individuellen Entscheidungsfindung des Arztes und der
Einbeziehung des Patientenwunsches in die Entscheidung ist [11]. Auch nach Einführen der Leitlinie ist zumindest bis 2017 immer noch eine bedeutsame
regionale Variabilität in der Anzahl der Tonsillektomien in Deutschland festzustellen
[7]. Untersuchungen zur Leitlinien-Adhärenz liegen nicht vor.
In Deutschland besteht weiterhin eine bedeutsame regionale Variabilität in der Durchführung
der Tonsillektomie. Für die Tonsillotomie ist dies auch zu vermuten.
AWMF-Leitlinie zur Therapie entzündlicher Erkrankungen der Gaumenmandeln – Tonsillitis
Die Leitlinie hat initial zu erheblichen Diskussionen unter den HNO-Ärzten geführt.
Daher ist eine genauere Betrachtung wichtig. Zunächst einmal handelt es sich um eine
S2k-Leitlinie und nicht um eine S3-Leitlinie. Es erfolgte also eine strukturierte
Konsensusfindung durch eine repräsentative, interdisziplinäre Expertengruppe mit nachvollziehbarem
methodischem Vorgehen, aber keine Angabe von Evidenz- und Empfehlungsgraden, da keine
systematische Aufbereitung der Evidenz zugrunde lag. Bei der Leitlinie konnte für
alle Empfehlungen ein 100 %iger Konsens erreicht werden. Das Kapitel zur Tonsillenchirurgie
stellt das umstrittenste Kapitel der Leitlinie dar.
Grundlage zur Bewertung der Tonsillektomie war eine Literaturrecherche nach Reviews
zum Thema Tonsillektomie der Jahre 2010–2014, zur Bewertung der Tonsillotomie ein
Review von Windfuhr et al. aus dem Jahr 2014 [12]. Diese Arbeit wiederum inkludierte Ergebnisse aus Publikationen von 1961–2013 zum
Thema Tonsillotomie nach einer systematischen Literaturrecherche. Eine Metaanalyse
beinhaltet diese Arbeit von Windfuhr et al. nicht.
Die wesentlichen Aussagen und Empfehlungen der Leitlinie in Bezug auf die Tonsillenchirurgie
sind folgende:
-
Die Evidenzlage, dass eine Tonsillektomie als Therapie zur Besserung wiederkehrender
Tonsillitis-Episoden effektiv ist, sei bei Kindern mäßig und bei Erwachsenen gering.
-
Die Aussagen zur Wirksamkeit einer Tonsillektomie zur Verringerung der Häufigkeit
von Halsschmerz-Episoden pro Jahr seien auf einen Nachbeobachtungszeitraum von 12
Monaten nach der Operation bei Kindern und auf 5–6 Monate bei Erwachsenen begrenzt.
-
Der Einfluss einer Tonsillektomie auf die Häufigkeit der Halsschmerzen pro Jahr bei
Kindern sei gering.
-
Aufgrund der Heterogenität der Daten können aktuell keine eindeutigen Schlussfolgerungen
zur Wirksamkeit von Tonsillektomien bei Erwachsenen gezogen werden.
-
Die Auswirkungen einer Tonsillektomie auf die Lebensqualität werden als positiv eingestuft.
Es seien jedoch weitere Untersuchungen erforderlich, um geeignete Bestandsaufnahmen
und standardisierte Bewertungsverfahren, insbesondere bei Kindern, zu erstellen.
-
Es wird postuliert, dass die Tonsillotomie im Gegensatz zur Tonsillektomie durch eine
geringere postoperative Morbidität in Bezug auf Schmerzen und Blutungen gekennzeichnet
sei. Obwohl Tonsillengewebe entlang der Kapsel verbleibt, wird angenommen, dass sich
das Ergebnis zumindest bei Kindern und jungen Erwachsenen nicht von einer Tonsillektomie
unterscheide. Diese Postulierungen unterscheiden sich deutlich von den Schlussfolgerungen
des IQWiG-Berichts (siehe unten).
-
Alter und Tonsillitis in der Anamnese seien keine Kontraindikationen für eine Tonsillotomie.
Eine Abszessbildung in den Tonsillenresten sei ein äußerst seltener Befund.
-
Die Anzahl der Episoden, die 12 Monate vor der Erstvorstellung des Patienten aufgetreten
sind, sei entscheidend, um eine Tonsillektomie oder Tonsillotomie als therapeutische
Option anzuzeigen.
-
Während eine Operation bei Patienten mit weniger als 3 Episoden nicht angezeigt sei,
sei eine Wartezeit von 6 Monaten gerechtfertigt, um das Potenzial einer spontanen
Heilung zu berücksichtigen, bevor eine Operation in Betracht gezogen werden sollte.
Mindestens 6 Episoden würden auf eine Tonsillektomie (oder ggf. auch eine Tonsillotomie)
als therapeutische Option hindeuten.
Die Gültigkeit der Leitlinie läuft ab, und die Überarbeitung ist derzeit in Vorbereitung.
Momentan werden in der Leitlinie Tonsillotomie und Tonsillektomie als alternative
Verfahren zur Behandlung der rezidivierenden akuten Tonsillitis, wenn die genannten
Kriterien erfüllt sind, gleichgesetzt. Mittlerweile gibt es den IQWiG-Bericht, dessen
Bewertung der Literatur methodisch über die Leitlinie hinausgeht. Damit wird sich
die überarbeitete Leitlinie sicher auseinandersetzen und differenziertere Empfehlungen
für das eine oder andere Verfahren abgeben müssen.
Die Veröffentlichung der S2k-Leitlinie „Therapie entzündlicher Erkrankungen der Gaumenmandeln
– Tonsillitis“ war ein wichtiger Schritt, die Diskussion auf ein medizinisch-wissenschaftliches
Niveau zu führen, die Wissenslücken zu beschreiben und Studien auf den Weg zu bringen.
IQWiG-Bericht zur Tonsillotomie bei rezidivierender akuter Tonsillitis und bei Hyperplasie
der Tonsillen
Das IQWiG hat im März 2017 den Abschlussbericht zur „Tonsillotomie bei rezidivierender
akuter Tonsillitis und bei Tonsillenhyperplasie“ vorgelegt (Projekt N15-11). Der Auftraggeber
war der G-BA mit mehreren Zielen, nämlich einer Nutzenbewertung der Tonsillotomie
im Vergleich zur konservativen Behandlung (z. B. Watchful Waiting) und der Nutzenbewertung
einer Tonsillotomie im Vergleich zur Tonsillektomie bei 2 Krankheitsbildern:
Als patientenrelevante Endpunkte wurden definiert: Mortalität, Morbidität, insbesondere
Blutungen, Schmerz, rezidivierende Tonsillitis und HNO-Infektionen, Schluck- und Schlafstörungen,
Krankenhausaufenthaltsdauer/erneute Hospitalisierung, erneute Tonsillenoperation,
gesundheitsbezogene Lebensqualität sowie sonstige unerwünschte Wirkungen der Therapie.
Basierend auf einer systematischen Literaturrecherche wurden ausschließlich randomisierte
kontrollierte Studien bis einschließlich November 2016 analysiert.
Die Schlussfolgerungen des IQWiG weichen teilweise von den Empfehlungen der AWMF-S2k-Leitlinie
ab. Die wichtigsten Schlussfolgerungen des Berichts sind:
-
Zum Vergleich Tonsillotomie versus konservative Behandlung ließen sich weder relevante
noch laufende Studien identifizieren, also war keine Aussage zu treffen.
-
Generell habe die Tonsillotomie im Vergleich zur Tonsillektomie kurzfristige Vorteile
für 2 Wochen: Es gebe Hinweise und gelegentlich geringe Anzeichen dafür, dass Schmerzen,
Schluckstörungen und Schlafstörungen nach Tonsillotomie im Vergleich zur Tonsillektomie
seltener auftreten.
-
Für die anderen patientenrelevanten Endpunkte wie postoperative Blutungen, Krankenhausaufenthaltsdauer,
Hospitalisierung, gesundheitsbezogene Lebensqualität und sonstige unerwünschte Wirkungen
habe sich kein Anhaltspunkt für einen höheren oder geringeren Nutzen oder Schaden
zwischen den Behandlungen ergeben. Für den Endpunkt Mortalität seien keine Daten verfügbar
gewesen.
-
Bei der Indikation rezidivierende akute Tonsillitis habe sich ein Anhaltspunkt für
einen geringeren Nutzen der Tonsillotomie gegenüber der Tonsillektomie ergeben.
-
Bei der Indikation rezidivierende akute Tonsillitis und der Indikation Tonsillenhyperplasie
würden Langzeitdaten fehlen.
-
Die Datenlage für den Endpunkt erneute Tonsillenoperation sei unzureichend gewesen.
Die Bewertung des Berichts durch den G-BA führte zu dem Richtlinien-Beschluss, die
Tonsillotomie als Regelleistung zur Behandlung der krankhaften Hyperplasie der Gaumenmandeln
ab dem vollendeten 1. Lebensjahr einzuführen, wenn die Hyperplasie eine symptomatische,
klinisch relevante Beeinträchtigung bewirke und eine konservative Behandlung nicht
ausreiche. Dagegen schlussfolgerte der G-BA, dass die Datenlage keine Nutzenbewertung
der Tonsillotomie zur Behandlung der rezidivierenden akuten Tonsillitis erlaube.
Der IQWiG-Bericht zur Tonsillotomie macht deutlich, wie wenig evidenzbasierte hochwertige
Studien zum Thema vorliegen, obwohl die Tonsillenchirurgie weltweit ein häufiger Eingriff
ist. Dem HNO-Arzt werden andererseits auch die methodischen Grenzen der evidenzbasierten
Methodik vor Augen geführt, wenn man die Tonsillotomie und Tonsillektomie ausschließlich
anhand von randomisierten kontrollierten Studien bewertet; folgt man konsequent der
Methodik und Logik des IQWiG, so sind noch nicht einmal das verminderte Blutungsrisiko
und die geringere Schwere der postoperativen Schmerzen für die Tonsillotomie belegt.
G-BA-Erprobungsstudie zur Tonsillotomie und weitere laufende Studien
Im Dezember 2018 erfolgte durch den G-BA der Richtlinienbeschluss, dass in einer klinischen
Studie die Erprobung der Tonsillotomie zur Behandlung der rezidivierenden akuten Tonsillitis
notwendig sei, mit dem Ziel beantworten zu können, ob eine Tonsillotomie einer Tonsillektomie
nicht unterlegen sei. Als Ergebnis eines Ausschreibungsverfahrens wurde schließlich
im Dezember 2019 eine Bietergemeinschaft aus Universitätsklinikum Jena, Deutscher
Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V. und dem
Deutschen Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte e. V. vom G-BA beauftragt, die geplante
Studie zur Tonsillotomie wissenschaftlich zu begleiten und die Ergebnisse auszuwerten.
Derzeit wird das Studienprotokoll erarbeitet und die Einreichung vor einer Ethikkommission
vorbereitet. Die Studie wird lauten: „Tonsillektomie versus Tonsillotomie bei Kindern
und Erwachsenen mit rezidivierender akuter Tonsillitis (Akronym: TOTO): Eine kontrollierte,
randomisierte Nichtunterlegenheitsstudie“.
Auf www.ClinicalTrial.gov fanden sich am 21.03.2020 unter dem Stichwort „tonsillotomy“ 7 Studien. Darunter
fanden sich 2 Studien, die eine Tonsillotomie mit einer Tonsillektomie bei Kindern
mit obstruktivem Schlaf-Apnoe-Syndrom (OSAS) verglichen. Unter dem Stichwort „tonsillectomy“
waren 235 Studien registriert. Darunter fanden sich vor allem Studien zu verschiedenen
instrumentellen Techniken, also Medizinprodukte-Studien und solche zu Schmerzen nach
der Operation.
Eine wichtige, derzeit rekrutierende, multizentrische Studie ist der „NAtional randomised
controlled Trial of Tonsillectomy IN Adults“ (Akronym: NATTINA) [13]. Die NATTINA-Studie vergleicht eine konservative Therapie mit abwartender Haltung
gegenüber einer direkten Tonsillektomie bei Erwachsenen mit rezidivierender akuter
Tonsillitis und hat ein 24-Monate-Follow-up vorgesehen. Zwischenauswertungen sind
bislang nicht publiziert worden. Die wesentlichen Parameter der NATTINA-Studie und
der TOTO-Studie sind in [Tab. 2] gegenübergestellt.
Tab. 2
Gegenüberstellung von NATTINA (NAtional randomised controlled Trial of Tonsillectomy
IN Adults) [13] und TOTO (Tonsillektomie versus Tonsillotomie bei Kindern und Erwachsenen mit rezidivierender
akuter Tonsillitis).
|
NATTINA
|
TOTO
|
Sponsor
|
National Health Service (NHS), UK
|
Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA)
|
Studienleitung
|
Newcastle Clinical Trials Unit, Newcastle University
|
Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V.,
Deutscher Berufsverband der Hals-Nasen-Ohrenärzte e. V., HNO-Klinik des Universitätsklinikums
Jena
|
Internetseite
|
https://research.ncl.ac.uk/nattina/
|
in Vorbereitung
|
Studienziel
|
Vergleich der klinischen und gesundheitsökonomischen Effektivität der Tonsillektomie
mit einer konservativen Therapie
|
Bestimmung der Nichtunterlegenheit der Tonsillotomie im Vergleich zu der Tonsillektomie
bei der Behandlung der rezidivierenden akuten Tonsillitis
|
Studiendesign
|
randomisierte multizentrische, 2-armige, unverblindete Studie
|
randomisierte multizentrische, 2-armige, unverblindete Nichtunterlegenheitsstudie
|
Intervention
|
Tonsillektomie
|
Tonsillotomie
|
Kontrolle
|
konservative Therapie
|
Tonsillektomie
|
Haupteinschlusskriterium
|
Alter: ≥ 16 Jahre; rezidivierende akute Tonsillitis nach den Kriterien der SIGN-Leitlinie
Tonsillitis [32]
|
Alter: ≥ 3 Jahre; rezidivierende akute Tonsillitis nach den Kriterien der AWMF-Leitlinie
Tonsillitis
|
Follow-up
|
24 Monate
|
24 Monate
|
primärer Endpunkt
|
Anzahl symptomatischer Entzündungen im Hals-Rachen-Raum innerhalb von 24 Monaten
|
Anzahl symptomatischer Entzündungen im Hals-Rachen-Raum innerhalb von 24 Monaten nach
Operation
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Fallzahl
|
Screening: 528 Patienten
|
Screening: 568 Patienten; ITT: 454; PP: 362
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Prüfzentren
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geplant 9, am Ende 22
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geplant 20
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Studienstand
|
last patient in: 30.04.2018
|
geplant 2. Jahreshälfte 2020
|
ITT = Intention to Treat; PP = Per Protocol.
Die Schwedische HNO-Gesellschaft hat bereits 1997 ein nationales Register für alle
Tonsilleneingriffe für gutartige Erkrankungen gestartet und sammelt umfangreiche Daten
insbesondere seit 2009 (National Tonsil Surgery Registry in Sweden, NTSRS: https://ton.registercentrum.se). Das NTSRS geht davon aus, etwa 80 % der Eingriffe zu umfassen. Das Register versucht
Follow-up-Daten bis 6 Monate zu erfassen und hatte 2018 120 000 Patienten inkludiert
[14]. Die Struktur wird derzeit als Vorbild für den Aufbau eines gemeinsamen skandinavischen
Registers genutzt (Nordic Tonsil Surgery Register Collaboration) [14]. Das NTSRS konnte z. B. aus den Daten von 2004–2013 zeigen, dass die Inzidenz für
eine erneute Operation nach Tonsillotomie bei 1,1 pro 1000 Personen pro Jahr lag [15]. Unter den 35 060 von 2007–2015 registrierten Patienten lag die Nachblutungsrate
binnen 30 Tagen mit Blutstillung im Operationssaal nach Tonsillotomie bei 0,1 % und
nach Tonsillektomie bei 0,5 % [16].
Die Daten sind wertvoll, weil vor allem wissenschaftliche Aussagen über die Versorgungslandschaft
getroffen werden können. Wie bei allen Registerdaten sind kausale Aussagen nur begrenzt
möglich. Eine Stärke ist ganz klar die Erfassung von Daten zur Tonsillotomie. In Deutschland
werden über das Statistische Bundesamt und die DRG-Daten qualitätsgesichert nur die
stationären Patienten erfasst ([Abb. 3]), sodass gute Aussagen zur Tonsillektomie, aber nicht zur Tonsillotomie möglich
sind, die häufig ambulant erbracht wird [7].
Abb. 3 Entwicklung der stationären Fallzahlen für Tonsillektomie und Adenotomie in Deutschland
von 2005–2018. Aus: Gesundheitsberichterstattung des Bundes, Operationen und Prozeduren
der vollstationären Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern (www.gbe-bund.de). Während die Anzahl der Tonsillektomien bis heute kontinuierlich abnimmt, bleibt
die Rate an Adenotomien konstant. Wichtig: Ambulante Operationen sind nicht erfasst,
sodass hierüber keine gute Statistik über die Tonsillotomien erfolgen kann.
Populationsbezogene Daten über DRG-Analysen hinaus liegen ebenso nur für den stationären
Bereich vor: In Thüringen lag 2012 nach stationären Eingriffen die Reoperationsrate
nach Tonsillotomie bei 0,2 % [17]. Zur Analyse der Tonsillotomie sind aufwendigere Sekundärdatenanalysen aus Krankenkassendaten
notwendig, mit begrenzter Möglichkeit wissenschaftlicher Auswertung [18].
Betrachtet man die laufenden prospektiven, randomisiert kontrollierten Studien, so
wird es noch 2–3 Jahre dauern, bis wir in Bezug auf die Rolle der Chirurgie zur Behandlung
der rezidivierenden akuten Tonsillitis einen relevanten neuen Kenntnisstand haben
werden.
G-BA-Richtlinie zum Zweitmeinungsverfahren
Im Dezember 2017 trat die Richtlinie des G-BA zum Zweitmeinungsverfahren in Kraft
(www.g-ba.de/beschluesse/3079/). Neben der Hysterektomie galt ab sofort für die Tonsillektomie und die Tonsillotomie
für die Patienten oder Erziehungsberechtigten ein Anspruch auf Einholung einer unabhängigen
ärztlichen Zweitmeinung (2019 ist die Schulterarthroskopie hinzugekommen).
Es handelt sich um ein freiwilliges Verfahren. Der HNO-Arzt, der eine Tonsillektomie
oder Tonsillotomie für indiziert hält, muss den Hinweis oder ggf. Verzicht des Patienten
auf das Zweitmeinungsverfahren dokumentieren. Die Zweitmeinung kann nur bei einem
von der zuständigen kassenärztlichen Vereinigung zugelassenen Zweitmeiner eingeholt
werden. Der Zweitmeiner darf später nicht die Operation vornehmen, sollte er diese
denn auch empfehlen.
Das IQWiG unterhält die Internetseite www.gesundheitsinformation.de zur öffentlichen Gesundheitsaufklärung. Dort finden sich Aufklärungsmaterial zur
Tonsillitis und zur Tonsillenhyperplasie sowie Entscheidungshilfen mit Gegenüberstellung
der Operationsverfahren mit ihren Vor- und Nachteilen.
Das Zweitmeinungsverfahren geht auf das Gesetz zur Stärkung der Versorgung in der
gesetzlichen Krankenversicherung (Versorgungsstärkungsgesetz) zurück. Primär zielt
das Gesetz dabei auf mengenanfällige planbare Eingriffe. Wie häufig eine Zweitmeinung
eingeholt wird, und wie häufig die Zweitmeinung das Verhalten der Patienten für oder
gegen einen Eingriff an den Tonsillen verändert, ist unbekannt.
Aufnahme der Tonsillotomie in den AOP-Katalog
Der G-BA hatte 2018, wie bereits beschrieben, die Tonsillotomie als Leistung der gesetzlichen
Krankenkassen für die Behandlung einer symptomatischen und klinisch relevanten Tonsillenhyperplasie
im Krankenhaus und in der ambulanten Medizin zugelassen. Im ambulanten Sektor werden
Anforderungen für Operationen über den Katalog ambulant durchführbarer Operationen
(AOP-Katalog) geregelt.
Im Moment steht noch die Festlegung aus, ob die Tonsillotomie als obligat ambulant
(Kategorie 1) oder optional ambulant (Kategorie 2) eingeordnet wird. Die Deutsche
Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e. V. vertritt
nach ausführlicher Bewertung die Ansicht, dass die Tonsillotomie nur in Kategorie
2 eingeordnet werden könne. Medizinische Gründe, HNO-chirurgische Aspekte, anästhesiologische
Aspekte und Aspekte der postoperativen Betreuung würden eine Einordnung in Kategorie
1 verbieten, genauso wie ökonomische Gründe [19]. Die Entscheidung des Gesetzgebers gilt es abzuwarten.
Offene Fragen
Die wichtigsten offenen Fragen sind in [Tab. 3] zusammengefasst. Im Einzelnen sollte die weitere Forschung zur Tonsillenchirurgie
die nachfolgenden Themen bearbeiten.
Tab. 3
Offene Fragen rund um die Tonsillenchirurgie.
Thema
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Frage
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Kommentar
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Operationstechnik
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Tonsillotomie oder Tonsillektomie?
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Tonsillenhyperplasie: Nutzen-Risiko-Ratio spricht für Tonsillotomie, wobei die Evidenz
nicht hoch ist.
Rezidivierende akute Tonsillitis: Nutzen-Risiko-Ratio im Vergleich nicht geklärt.
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Welches Schneideverfahren?
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Bislang gibt es keinen Hinweis, dass ein besonderes Verfahren einem anderen überlegen
ist (Kaltinstrumente, Laser, Radiofrequenz etc.).
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Definition
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Was versteht man unter Tonsillotomie?
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Wie viel Tonsille bei einer Tonsillotomie entfernt werden sollte, ist nicht geklärt.
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Indikation
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Was sind Kriterien für eine Operation?
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Valide Parameter zur Indikationsstellung, z. B. einen Biomarker, gibt es bislang nicht.
Solange sind die Kriterien, wie in der Leitlinie aufgegriffen, das Maß der Dinge.
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perioperative Behandlung
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Für welche Patienten ist eine perioperative Antibiose sinnvoll?
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Hier ist die Datenlage sehr widersprüchlich.
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postoperative Behandlung
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Wie sieht das optimale Schmerzmanagement aus?
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Viele Patienten haben immer noch zu starke postoperative Schmerzen nach Tonsillektomie.
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Qualitätsmanagement
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Wie könnten gute Qualitätsziele aussehen?
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Qualitätsziele jenseits von Operationskomplikationen und Schmerz sollten definiert
werden.
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Was bringt das Zweitmeinungsverfahren?
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Dies muss unbedingt geprüft und bei mangelnder Effektivität wieder abgeschafft werden.
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Wie kann die regionale Variabilität der Häufigkeit der Tonsillenchirurgie gesenkt
werden?
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Mit der neuen Leitlinie, den nächsten Studienergebnissen und der Definition von Qualitätszielen
wird dieses Thema an Relevanz verlieren.
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Tonsillotomie versus Tonsillektomie versus konservative Therapie
Auch wenn die Tonsillektomie und Tonsillotomie als über viele Jahre bewährte chirurgische
Verfahren in der HNO-Heilkunde anzusehen sind, die tagtäglich weltweit häufig eingesetzt
werden, sind viele Fragen zur Indikation offen. Der direkte Vergleich der Verfahren
zum Einsatz bei der rezidivierenden akuten Tonsillitis wird demnächst durch die G-BA-Erprobungsstudie
erfolgen. Die NATTINA-Studie wird neue Erkenntnisse bringen zum Vergleich der Tonsillenchirurgie
mit konservativer Therapie.
Studien zur Tonsillenchirurgie bei kindlichem OSAS
Auch wenn die Tonsillotomie nunmehr als Regelleistung zur Behandlung der symptomatischen
Tonsillenhyperplasie zugelassen ist, sollten wir uns vergegenwärtigen, dass die meisten
Studien zur Behandlung des OSAS mit Tonsillenchirurgie die Tonsillektomie als Standardverfahren
verwenden [20]. Wenn auch aktuelle Daten nahelegen, dass die Tonsillotomie hier zumindest gleichwertig
ist, fehlen große vergleichende klinische Studien [21].
Bessere Indikationskriterien für eine Tonsillenchirurgie bei rezidivierender akuter
Tonsillitis
Unabhängig von der Wahl des operativen Verfahrens, sei es Tonsillotomie oder Tonsillektomie,
benötigen wir bessere Parameter für die Indikationsstellung bei Patienten mit rezidivierender
akuter Tonsillitis. Ein einfaches Zählverfahren von Episoden pro Zeiteinheit, wie
derzeit durch die Leitlinie empfohlen, kann nur unzuverlässig sein, insbesondere wenn
auch die Antibiotikapflichtigkeit mit einbezogen wird. Dies geht nämlich von der Annahme
aus, daran die Schwere der Erkrankung messen zu können, wofür es keinen Anhalt gibt.
Zudem wird die Verordnung von Antibiotika bei einer Tonsillitis sehr variabel gehandhabt.
Letztendlich ist unklar, warum manche Personen gehäuft eine Tonsillitis erleiden und
andere nicht. Der Idealfall wäre z. B. ein Biomarker im Blut. Leider gibt es bislang
keinen verlässlichen Blutmarker [22].
Besseres postoperatives Schmerzmanagement
Ein weiteres relevantes Problem ist das postoperative Schmerzmanagement nach Tonsillektomie.
Die Tonsillektomie gehört zu den schmerzhaftesten operativen Eingriffen in der HNO-Heilkunde
[23]. Bislang gibt es kein zufriedenstellendes Regime, und eine Lösung ist bislang nicht
in Sicht [24].
Definition von Qualitätszielen der Tonsillenchirurgie
Der G-BA hat sich bereits vor der Publikation des Faktenchecks Gesundheit der Bertelsmann
Stiftung mit dem Thema eines sektorenübergreifenden Qualitätssicherungsverfahrens
beschäftigt und 2013 das Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung
im Gesundheitswesen (AQUA) beauftragt, eine Konzeptskizze zu erstellen. Das AQUA-Institut
empfiehlt als Qualitätsziele: Indikationsstellung, Komplikationen wie postoperative
Blutungen, Schmerzen, postoperative Nausea and Vomiting (PONV), prä- und postoperative
Aufklärung bzw. gemeinsame Entscheidungsfindung, perioperative Antibiotikaprophylaxe
und Notfallmanagement.
Es wurde damals aufgrund mangelnder Evidenz festgelegt, zunächst die Leitlinie abzuwarten
und danach weitere Empfehlungen auszusprechen [25]. Nun steht bereits die Überarbeitung der Leitlinie an, und es wäre wünschenswert,
wenn die HNO-Heilkunde aus sich heraus Qualitätsziele für die Tonsillenchirurgie definieren
würde. Wichtig wäre auch der standardisierte Einsatz von Fragebögen zur Lebensqualität
und anderer Patient-reported Outcome Measures (PROM; Übersicht in [26]; [Tab. 4]).
Tab. 4
Mögliche Instrumente für die Entwicklung von Qualitätskriterien: Fragebögen zur Lebensqualität
und Patient-reported Outcome Measures (PROM).
Fragebogen
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Zielgruppe
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Validierung in deutscher Sprache
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Kommentar
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allgemeine Lebensqualität
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SF-12/SF-36 [33]
[34]
[35]
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Erwachsene
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ja
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ermöglicht den Vergleich mit Normalpersonen und Patienten mit anderen Erkrankungen
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KINDL-R/KIDSCREEN-10 [36]
[37]
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Kinder
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ja
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ermöglicht den Vergleich mit Normalpersonen und Patienten mit anderen Erkrankungen
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allgemeine Operationsfragebögen
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Glasgow Benefit Inventory (GBI) [38]
[39]
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Erwachsene
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ja
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Ex-post-Bewertung der Verbesserung durch die Operation
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Glasgow Children’s Benefit Inventory (GCBI) [40]
[41]
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Eltern der Kinder
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ja
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Ex-post-Bewertung der Verbesserung durch die Operation
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krankheitsspezifische/therapiespezifische Fragebögen
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Obstructive sleep apnea-18 (OSA-18) [42]
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Eltern der Kinder
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ja
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für Kinder mit OSAS
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Obstructive sleep disorders-6 OSD-6 [43]
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Eltern der Kinder
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nein
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für Kinder mit OSAS
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Specific Benefits from Tonsillectomy Inventory SBTI [44]
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Eltern der Kinder
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ja
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Ex-post-Bewertung der Verbesserung durch die Tonsillenoperation
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Tonsil and Adenoid Health Status Instrument TAHSI [45]
[46]
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Original: Kinder 2–16 Jahre; deutsch: Erwachsene
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Kinder: nein; Erwachsene: ja
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–
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Tonsillectomy Outcome Inventory 14 TOI-14 [47]
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Erwachsene
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ja
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für die Tonsillektomie validiert
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postoperativer Schmerz
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Qualitätsverbesserung in der postoperativen Schmerztherapie (QUIPS) [48]
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Erwachsene
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ja
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neben Rating-Skalen auch Erfassung sekundärer Schmerz-assoziierter Parameter
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Qualitätsverbesserung in der postoperativen Schmerztherapie von Kindern QUIPSI [49]
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Kinder ≥ 4 Jahre
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ja
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neben Rating-Skalen auch Erfassung sekundärer Schmerz-assoziierter Parameter
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Reduktion der Variabilität? Oder bessere personalisierte Entscheidungsfindung?
Auch nach nun längerer Einführung der Leitlinie beobachten wir immer noch eine erhebliche
geografische Variabilität bei den Operationsraten in Deutschland [7]. Einen akzeptablen Grad der Variabilität zu definieren ist schwierig [27]. Vielmehr steht im Vordergrund, basierend auf möglichst vielen Informationen und
Parametern, für den individuellen Patienten eine qualitätsgesicherte personalisierte
Entscheidung zu treffen [28]. Was uns neben Biomarkern hierfür fehlt, ist das Wissen um die Präferenzen der Patienten.
Vor kurzem wurden 234 Eltern befragt, ob sie sich für eine Tonsillotomie oder eine
Tonsillektomie entscheiden würden, wenn die Gaumenmandeln operiert werden müssten.
Vorgelegt wurde eine Auflistung von Argumenten für und gegen den jeweiligen Eingriff.
86 % bevorzugen hypothetisch die Tonsillektomie, weil das Risiko der Möglichkeit der
erneuten Operation sehr bedeutsam war [29]. Bemängelt wurde an der Studie die Qualität der Information, die suggestiv per se
eher zur Entscheidung für eine Tonsillektomie geführt hätte [30]. Zu den Präferenzen bzw. Erwartungen an die Operation von den Eltern und Patienten
in Deutschland ist gar nichts bekannt.
Langsam bekommen wir ein klareres Bild von der Rolle der Tonsillotomie in Abgrenzung
zur Tonsillektomie. Als nächstes bedeutsam ist sicherlich die anstehende Überarbeitung
der Leitlinie. Unterstützung durch Software als sog. Clinical Decision Support System
(CDSS), welche die individuellen Daten, die Präferenz des Patienten und die Empfehlungen
der Leitlinie zusammenbringt, wäre für den HNO-Arzt zur Indikationsstellung einer
Tonsillenchirurgie in Zukunft wichtig [31].
-
Die Tonsillektomie ist ein genau definierter Eingriff. Die Tonsillotomie ist nicht
klar definiert, wenn auch zumeist das Gewebe medial des Niveaus der Gaumenbögen entfernt
wird.
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Die Tonsillotomie hat einen gut belegten Nutzen bei der symptomatischen Hyperplasie
der Gaumenmandeln bei Kindern. Der Nutzen scheint der Tonsillektomie gleichwertig,
die Risiken sind dagegen geringer.
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Der Nutzen der Tonsillotomie zur Behandlung der rezidivierenden akuten Tonsillitis
ist unklar.
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Forschung zum Nutzen oder möglicherweise mangelnden Nutzen des Zweitmeinungsverfahrens
ist notwendig.
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Es gilt gemeinhin für die Tonsillenchirurgie, Qualitätsziele zu definieren und die
Präferenz der Patienten/Eltern in die Entscheidungsfindung einzubeziehen.
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag
ist Prof. Dr. med. Orlando Guntinas-Lichius, Jena.