B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2020; 36(03): 135-136
DOI: 10.1055/a-1153-5998
Journal Club

Gibt es einen Zusammenhang zwischen biomechanischen Stabilitätsdefiziten bei nicht-antizipierten Einbeinlandungen und spezifischen Domänen der kognitiven Funktionen?

 

Originalpublikation

Giesche F, Wilke J, Engeroff T et al. Journal of Science and Medicine in Sport; 2020; 23 (1) 82 – 88; DOI: 10.1016 / j.jsams.2019.09.003

Abstract aus dem Englischen übersetzt und leicht modifiziert von F. Herold und D. Hamacher


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Was ist zu dem Thema bereits bekannt?

Im Breitensport und insbesondere im Spitzensport spielt die Prävention von muskuloskelettalen Verletzungen eine wichtige Rolle im Trainingsprozess. Die bisherigen konventionellen Ansätze in der Prävention muskuloskelettaler Verletzungen konzentrieren sich zumeist auf ein präventives Krafttraining und / oder ein präventives neuromuskuläres Training (z. B. Gleichgewichtstraining). In neueren Ansätzen, die oft mit dem Begriff „Neuroathletiktraining“ verknüpft werden, wird zunehmend die Rolle und Wichtigkeit der Prozesse des zentralen Nervensystems und des Gehirns zur Leistungssteigerung und Verletzungsprävention betont. Wenngleich diese neueren Ansätze vorgeben, ihre Trainingsinhalte aus der neurowissenschaftlichen Forschung abzuleiten und schon relativen starken Eingang in die Trainingspraxis gefunden haben, gibt es derzeitig wenige wissenschaftliche Studien, die empirische Belege in diesem Kontext liefern. In den letzten Jahren wurden auch in der sportwissenschaftlichen Forschung vermehrt untersucht, inwieweit neurokognitive Prozesse im Zusammenhang mit der Bewegungsteuerung stehen und wie diese Erkenntnisse im Rahmen der Prävention oder Wiederaufnahme der sportlichen, leistungsorientierten Trainings (engl.: „return to play“) genutzt werden können.


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Was wurde gemacht?

Einleitung: Es wird vermutet, dass die Ausprägung der kognitiven Leistungsfähigkeit in den Domänen Arbeitsgedächtnis oder inhibitorische Kontrolle das Verletzungsrisiko bei unter Zeitdruck durchgeführten sportlichen Bewegungen beeinflussen kann. Deshalb ist es Ziel dieser Studie, weitere Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen kognitiven Prozessen und der biomechanischen Stabilität bei nicht-antizipierten Sprunglandungen zu gewinnen.

Studiendesign: Querschnittsstudie

Methodik: 20 männliche Teilnehmer (Alter: 27 ±  4 Jahre) führten 70 Counter Movement Jumps mit einbeiniger Landung auf einer Kraftmessplatte durch. Die Einbeinlandungen erfolgten entweder in der Bedingung antizipiert (Landungsbein wurde vor dem Sprung angezeigt) oder nicht-antizipiert (visueller Hinweis zum Landungsbein während des Flugs). Die Reihenfolge der Durchführung beider Bedingungen war randomisiert und ausbalanciert. Die Quantifizierung von biomechanischer Stabilität erfolgte anhand der vertikalen, maximalen Bodenreaktionskraft (pGRF), der Zeit bis zur Stabilisierung (TTS) des „Center of Pressure“ (COP) und der Anzahl der Stehfehler (Bodenberührung mit dem freien Fuß). Die Ausprägung der Fähigkeit, eine situationsangepasste motorische Reaktion auszuführen, wurde durch die Anzahl der Landefehler (Landung mit falschem Fuß / beiden Füßen) in der Bedingung mit nicht-antizipierten Einbeinlandungen erfasst. Die Autoren kennzeichneten die Ausprägung der kognitiven Funktionen mittels standardisierter Computertests sowie Papier-Bleistift-Tests.

Ergebnisse: Nicht-antizipierte Einbeinlandungen führten zu höheren COP-Werten (p < 0,001, d = 1,1) und zu mehr Stehfehlern (p < 0,001, d = 0,9) als antizipierte Einbeinlandungen. Die verminderte Haltungsstabilität (COP) steht in Zusammenhang mit einer geringeren inhibitorischen Kontrolle (p = 0,036, r = 0,48). Zudem konnte eine Korrelation zwischen dem Anstieg der Stehfehler und einer besseren Ausprägung der kognitiven Flexibilität / des Arbeitsgedächtnisses (p = 0,037, r = -0,48) und der Ausprägung des Kurzzeitgedächtnisses (p = 0,028, r = 0,50) beobachtet werden. Bei nicht-antizipierten Landungsfehlern ist eine schlechtere Entscheidungsfindung mit einer geringeren Ausprägung der kognitiven Flexibilität / der Arbeitsgedächtnisleistungsfähigkeit (p = 0,022, r = 0,54) und einer geringeren Ausprägung der Kurzzeitgedächtnisleistungsfähigkeit assoziiert (p = 0,019, r = -0,55).

Schlussfolgerungen: Kognitive Funktionen stellen möglicherweise einen wichtigen, aber kaum erforschten Faktor der Sicherheit (im Sinne von Verletzungsprävention) bei einbeinigen nicht-antizipierten Sprunglandungen dar. Weitere Forschungsanstrengungen sollten sich der Entwicklung von spezifischen Trainingsmethoden widmen, die die Fähigkeit verbessern, unter Zeitdruck situationsangepasste motorische Reaktionen auszuführen und die Stabilität bei Sprunglandung zu gewährleisten.


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Was bedeuten die Ergebnisse für die Praxis?

Aus Sicht des Praktikers verdeutlichen die in der Studie beschriebenen Zusammenhänge zwischen der Ausprägung höherer kognitiver Funktionen und biomechanischer Kenngrößen der Landungsstabilität die Wichtigkeit der Prozesse des zentralen Nervensystems und des Gehirns für die sportliche Leistungsfähigkeit und die Verletzungsprophylaxe. Da Querschnittsstudien keine Kausalität abbilden können, bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch offen, inwieweit ein gezieltes Training der höheren kognitiven Funktionen zum Beispiel im Rahmen der Prävention und / oder der Wiederaufnahme des sportlichen, leistungsorientierten Trainings berücksichtigt werden sollten. Die Ergebnisse dieser und anderer Studien legen jedoch nahe, dass eine Integration von komplexeren Bewegungen ins Training, die auch höhere kognitive Funktionen fordern und fördern, vorteilhaft sein könnte.


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Was bedeuten die Ergebnisse für die Forschung?

Aus Sicht des Wissenschaftlers tragen die Ergebnisse der vorgestellten Studie dazu bei, die Rolle höherer kognitiver Funktionen innerhalb motorischer Kontrollprozesse besser zu verstehen. Die in der Studie vorgestellten Befunde bilden einen vielversprechenden Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen, die den Zusammenhang zwischen Neurokognition und biomechanischen (verletzungsprädiktiven) Kenngrößen untersuchen. Aufgrund des eingeschränkten Probandenkollektivs, das nur aus männlichen jüngeren Teilnehmern bestand, sind jedoch weitere Untersuchungen erforderlich, um robuste Aussagen über die Übertragbarkeit und Generalisierbarkeit auf anderen Kohorten (z. B. weibliche Sportler, Spitzensportler) machen zu können. Zudem erscheint es sinnvoll, die vermuteten Zusammenhänge zwischen höheren kognitiven Funktion und der motorischen Kontrolle von antizipierten und nicht-antizipierten Einbeinlandungen durch den Einsatz weiterer neurophysiologischer Messmethoden (z. B. Elektroenzephalografie) abzusichern.


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Fazit

Die Studie von Giesche et al (2020) liefert weitere Evidenz, dass ein bedeutender Zusammenhang zwischen höheren kognitiven Funktionen und der motorischen Kontrolle komplexer Bewegungen (z. B. nicht-antizipierte Einbeinlandungen) besteht. Die Erforschung von kognitiven Prozessen im Zusammenhang mit Kenngrößen der Biomechanik ist besonders im Rahmen der Prävention muskuloskelettaler Verletzungen und der Wiederaufnahme sportlichen Trainings von hoher praktischer Relevanz. Die Evidenz zur engen Verknüpfung von Verletzungen mit neurokognitiven Veränderungen wächst!


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Korrespondenzadresse

Fabian Herold, M.A.
Universitätsklinik für Neurologie
Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen e. V., Standort Magdeburg, Forschungsgruppe Neuroprotektion
Leipziger Straße 44, Haus 64
39120 Magdeburg
Prof. Dr. Dennis Hamacher
Deutsche Hochschule für Gesundheit und Sport (DHGS)
Institut für Leistungssport & Trainerbildung
Vulkanstraße 1
10367 Berlin

Publication History

Article published online:
12 June 2020

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