Z Sex Forsch 2020; 33(02): 106-107
DOI: 10.1055/a-1161-3701
Bericht

Zum Jubiläum der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung – 70 Jahre interdisziplinäre Sexualwissenschaft

Katinka Schweizer
1   Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
,
Annette Güldenring
2   Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Westküstenklinikum Heide
,
Lisa Rustige
1   Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
,
Richard Lemke
3   Polizeiakademie Niedersachsen
,
Johannes Fuß
1   Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
› Author Affiliations

2020 feiert die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) ihr 70-jähriges Bestehen. Ihre Gründung geht auf die Initiative des damals 29-jährigen Hans Giese (1920–1970) zurück, dessen Geburtstag sich am 26. Juni 2020 zum 100. Mal jährt. Auch wenn es nicht immer konsequent umgesetzt wurde, war es Giese von Anfang an wichtig, dass in der DGfS alle Fakultäten vertreten und zusammenarbeiten sollten: Theologie, Recht, Medizin, Naturwissenschaften und Philosophie. Dies entsprach seinem Grundverständnis des Sexuellen, das „in alle Bereiche der menschlichen Natur“ hineinreiche ([Giese 1952]: 180). So sind auch die beiden ehemaligen universitären Forschungsstellen der DGfS, das Frankfurter und das Hamburger sexualwissenschaftliche Institut, immer interdisziplinär geprägt gewesen.

Die Gründung der DGfS fand am 12. April 1950 in Frankfurt am Main im Rahmen der 1. Wissenschaftlichen Tagung statt. Der Hamburger Psychiatrie-Direktor Hans Bürger-Prinz (1897–1976) wurde zum Präsidenten, Hans Giese zum Geschäftsführer gewählt. Dieses Amt hielt Giese bis 1964 inne, von 1969 bis zu seinem Tod 1970 war er Erster Vorsitzender, und auch in der Zwischenzeit Vorstandsmitglied. Beide, Giese und Bürger-Prinz, waren Mitglieder der NSDAP gewesen. Die Tagung widmete sich thematisch männlichen Sexualitäten, Prostitution, Jugendsexualität sowie genetischen und anderen körperlichen Aspekten von Sexualität und „Befruchtung“ (vgl. [Sigusch 2008]: 415 ff.). Bezug genommen wurde in einem Vortrag zur Homosexualität auf Zwillingsstudien aus der NS-Zeit, ohne dies kritisch zu benennen ([Sigusch 2008]: 416). Gleichzeitig wurde eine Reform der Strafbarkeit männlicher Homosexualität diskutiert und in den Jahrzehnten danach auch in Appellen der DGfS gefordert. Der Beginn der Aktivitäten zur Entkriminalisierung von Homosexualität geht allerdings auf das Engagement von Magnus Hirschfeld (1868–1935) und das von ihm gegründete Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK) zurück.

Unsere Fachgesellschaft wurde weniger als fünf Jahre nach Ende der Naziherrschaft in Deutschland gegründet. Eine historische Auseinandersetzung mit der Gründungsphase und der inhaltlichen und personellen Nähe zur NS-Zeit sowie den Verbrechen, die auch von Vorstandsmitgliedern der DGfS begangen wurden, hat begonnen und bleibt auch in Zukunft notwendig. So kann weder die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit noch die Auseinandersetzung mit der jüngeren Zeitgeschichte und ans Licht kommenden Fakten über Aktivitäten prominenter Mitglieder, wie die aktuellen Enthüllungen um Helmut Kentler, als abgeschlossen gelten. Da Betrachtung und Problematisierung Distanz benötigen, hinken sie immer hinterher.

In diesem Jahr zählt die DGfS fast 400 Mitglieder. Sie gilt international als älteste und größte sexualwissenschaftliche Fachgesellschaft. Die DGfS vertritt heute eine kritische Sexualwissenschaft: Sie interessiert sich für den sexuellen Menschen, will aufklären, informieren und dadurch zur Antidiskriminierung beitragen. Sie ist parteiisch, weil sie mit Sexualitäten und Geschlechtlichkeiten assoziiertes Leiden lindern will. Seit ihrer Gründung hat die DGfS diverse politische Prozesse durch Stellungnahmen und fachliche Expertisen vorangebracht. Sie hat insgesamt 27 Wissenschaftliche Tagungen zu gesellschaftlich relevanten Themen durchgeführt. Sie hat die sexualtherapeutische Fort- und Weiterbildungslandschaft im deutschsprachigen Raum maßgeblich geprägt und Klinische Tagungen durchgeführt. Sie ist eine angesehene Partnerin in Wissenschaft und Forschung, u. a. als Mitglied der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF), und eine bundesweit und international anerkannte Hüterin sexualtherapeutischer Fort- und Weiterbildungsqualität.

Im Vorstand der DGfS sehen wir uns herausgefordert, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen im Blick zu haben. Als zentrale Aufgabe sehen wir es an, dass die DGfS in ihren Gremien, Arbeitskreisen und den wichtigen Organen, der „Zeitschrift für Sexualforschung“ und den „Beiträgen zur Sexualforschung“, weiterhin Räume der fachlichen Begegnung und Auseinandersetzung schafft und erhält. Dazu kann auch ein fruchtbarer, respektvoller Streit gehören. Das Kernmerkmal der Interdisziplinarität ist dabei eine Chance, aber auch ein enormer Anspruch an das Miteinander, das kontinuierliche Übersetzungsarbeit fordert ([Schweizer 2019]). Die Chance kann darin bestehen, polyphone Antworten zu suchen auf die Fragen nach dem Subjekt in seiner lust- und schmerzvollen Körper-Leiblichkeit, nach dem sexuellen und geschlechtlichen Verhältnis und seiner kulturellen Einbettung.

Aktuell beschäftigt uns auf praktischer Ebene die Einführung der neuen ärztlichen Zusatzweiterbildung (ZWB) Sexualmedizin. Nachdem die DGfS seit längerem mit der Neugestaltung und Weiterentwicklung ihrer sexualtherapeutischen Curricula befasst war, steht jetzt die Implementierung DGfS-gemäßer sexualmedizinischer Curricula entsprechend der Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer an. Andere Fachgesellschaften außerhalb der Sexualwissenschaft zeigen hier größtes Interesse an Kooperation und der über Jahrzehnte entwickelten Expertise und Haltung der DGfS zur sexuellen Gesundheit. Besonders freut es uns daher, dass am Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf eine der ersten dieser neuen Weiterbildungen entwickelt und von der DGfS zertifiziert wurde und seit Herbst 2019 erfolgreich angelaufen ist.

Ganz aktuell sind wir mit den Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie auf die Menschen und ihre vielfältigen Sexualitäten befasst. Sie hat den Alltag von uns allen verändert. Wir haben unsere Gedanken dazu auf der Website www.dgfs.info veröffentlicht ([Vorstand der DGfS 2020]).

70 Jahre DGfS! Wir freuen uns, dieses Jubiläum zu begehen. Allen Mitgliedern danken wir für die Treue und Verbundenheit, allen in der Vergangenheit und gegenwärtig Aktiven für das Engagement für unsere Fachgesellschaft – im Sekretariat, in der Redaktion und Herausgeber_innenschaft der „Zeitschrift für Sexualforschung“ und der „Beiträge zur Sexualforschung“, in Vorstandsämtern, im Fort- und Weiterbildungsausschuss (FWA), als Leiter_innen und Dozent_innen der Fort- und Weiterbildungen, in Arbeitskreisen, in der Supervision, Behandlung, Wissenschaft, als Mandatsträger_in, und an anderen wichtigen Stellen.



Publication History

Article published online:
15 June 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York

 
  • Giese H. Hrsg. Wörterbuch der Sexualwissenschaft. Bonn: Instituts-Verlag; 1952
  • Schweizer K. Wege des Verstehens. Die Kritische Sexualwissenschaft als inter- und transdisziplinäres Feld. In: Briken P. Hrsg. Perspektiven der Sexualforschung. Gießen: Psychosozial; 2019: 341-361
  • Sigusch V. Geschichte der Sexualwissenschaft. Frankfurt/M.: Campus; 2008
  • Vorstand der [DGfS] Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung. Sexualitäten in Zeiten von Corona SARS CoV 2 – Gedanken des Vorstands der DGfS. Hamburg: DGfS; 2020. https://dgfs.info/sexualitaeten-in-zeiten-von-corona/