Z Sex Forsch 2020; 33(02): 88-92
DOI: 10.1055/a-1161-5024
Dokumentationen

Hans Giese und seine Theorie der Homosexualität [ 1 ]

Hans Giese and His Theory of Homosexuality
Volkmar Sigusch
Institut für Sexualwissenschaft, Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt/M., danach: Praxisklinik Vitalicum
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Zusammenfassung

Während der 50er- und 60er-Jahre war Hans Giese (1920–1970) der einflussreichste und renommierteste Sexualforscher in Westdeutschland. Bis zu seinem Tod war er Direktor des Instituts für Sexualforschung an der Universität Hamburg. Dank seiner Bestrebungen gewann die Sexualforschung sowohl innerhalb als auch außerhalb akademischer Kreise an Ansehen. Aus der Sicht des Autors lag der Schlüssel von Gieses Werk in dessen eigener Homosexualität. Er suchte Wege, um die Homosexualität von ihrer Aura der Immoralität und Kriminalität zu befreien. In seiner Theorie der Homosexualität unterscheidet er zwischen disziplinierten, partnerorientierten und undisziplinierten, ungebundenen Homosexuellen. Die letzteren blieben Zielpersonen für medizinische Behandlung, rechtliche Sanktionen und moralische Urteile. In diesem Sinne gelang es Giese trotz seiner liberalen Einstellungen und Errungenschaften im Hinblick auf eine Entkriminalisierung der männlichen Homosexualität nicht, das Tabu zu durchbrechen, welches noch immer auf der Homosexualität lastet.

Abstract

During the ‘fifties’ and ‘sixties’ Hans Giese (1920–1970) was the most influential and renowned sex researcher in West Germany. Until his death he was the director of the Institute for Sex Research at the University of Hamburg. Thanks to his effort sex research earned reputation both inside and outside academic circles. In the author’s opinion the key to Giese’s work lay in his own homosexuality. He sought ways of freeing homosexuality of its aura of immorality and criminality. In his theory on homosexuality he distinguishes between disciplined, partner-oriented and undisciplined, unattached homosexuals. The latter remained targets for medical treatment, legal sanctions and moral verdicts. In this sense despite his liberal attitudes and achievements in decriminalizing male homosexuality Giese did not manage to break down the taboo which still weighs on homosexuality.

Fußnote

1 Im Folgenden dokumentieren wir ungekürzt (und um Zitatbelege erweitert) einen Text, den Volkmar Sigusch für das von Rüdiger Lautmann herausgegebene Werk „Homosexualität. Handbuch der Theorie- und Forschungsgeschichte“ geschrieben hat (Frankfurt/M., New York, NY: Campus 1993; 251–258). Aufbau und Schreibweise des dokumentierten Textes folgen im Wesentlichen den Regeln des Handbuches.




Publication History

Article published online:
15 June 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York

 
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