Aktuelle Dermatologie 2020; 46(12): 532-540
DOI: 10.1055/a-1169-2190
Fehler und Irrtümer in der Dermatologie

Tod durch Sepsis nach längerfristiger hochdosierter Glukokortikosteroid-Therapie einer Urtikaria

Death from Sepsis after Long-Term High-Dose Glucocorticosteroid Therapy of Urticaria
P. Elsner
1   Klinik für Hautkrankheiten, Universitätsklinikum Jena
,
S. Schliemann
1   Klinik für Hautkrankheiten, Universitätsklinikum Jena
,
J. Meyer
2   Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern, Hannover
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Ein 80-jähriger Patient mit der Einweisungsdiagnose einer unklaren schweren Urtikaria wurde stationär in einer Klinik für Dermatologie über mehr als 3 Wochen mit systemischen Antihistaminika und intravenös gegebenen Glukokortikosteroiden in höherer Dosis (über 100 mg Prednisolonäquivalenten/Tag) behandelt. Darunter kam es zu einer diabetischen Stoffwechsellage, einer Thrombozytopenie und einer intensivmedizinisch nicht beherrschbaren Staphylokokkensepsis, die schließlich zum Tode führte.

Die Schlichtungsstelle beurteilte die längerfristige hochdosierte systemische Glukokortikosteroid-Therapie der Urtikaria als vermeidbaren Behandlungsfehler, da aufgrund der von der Klinik gewählten hohen Glukokortikoid-Dosen und der Behandlungsdauer mit einer ausgeprägten Immunsuppression und entsprechend hoher Infektanfälligkeit zu rechnen war, die sich im konkreten Fall in tragischer Weise realisiert hat.

In der Therapie der akuten Urtikaria, aber auch der chronisch-spontanen Urtikaria kann bei Nichtansprechen auf die höherdosierten H1-Antihistaminika die Gabe von systemischen Glukokortikosteroiden notwendig werden; diese sind allerdings bei akuter Urtikaria nur kurzzeitig (für 3 – 4 Tage) mit 40 – 50 mg Predinisolonäquivalent pro Tag empfohlen. Nur wenn assoziierte schwere Angioödeme vorliegen, ergibt sich eine Indikation für eine höherdosierte intravenöse Prednisolontherapie. Die aktuelle internationale Leitlinie zur chronischen Urtikaria äußert sich sehr kritisch gegenüber einer längerfristigen Anwendung von systemischen Glukokortikosteroiden bei der chronisch-spontanen Urtikaria; selbst bei akuten Exazerbationen der chronisch-spontanen Urtikaria sollte die Behandlung auf maximal bis zu 10 Tagen begrenzt werden.

Insbesondere im Fall des Off-Label-Einsatzes von Medikamenten, wie es im aktuellen Fall sowohl bez. der Antihistaminika als auch des systemischen Glukokortikosteroids gegeben war, treffen den behandelnden Arzt besondere Aufklärungspflichten, damit der Patient rechtswirksam zustimmen kann („informed consent“). Die Beweislast für die ordnungsgemäße Aufklärung über einen Off-Label-Use obliegt dem Arzt; diese sollte er zur Vermeidung von Aufklärungsrügen nach Möglichkeit schriftlich dokumentieren.


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Abstract

An 80-year-old patient with the admission diagnosis of an unclear severe urticaria was treated as an in-patient in a Dermatology Department for more than three weeks with systemic antihistamines and intravenously given glucocorticosteroids in a higher dose (over 100 mg prednisolone equivalents/day). This resulted in diabetes which could be managed by insulin, thrombopenia, and staphylococcal sepsis which could not be controlled in the intensive care unit and finally led to death.

The Independent Medical Expert Council (IMEC) judged the long-term high-dose systemic glucocorticosteroid therapy of urticaria as an avoidable treatment error, since, based on the high glucocorticoid dose and the duration of treatment, a pronounced immunosuppression and corresponding high susceptibility to infections had to be expected, which tragically happened in this case.

In the therapy of acute urticaria, but also of chronic spontaneous urticaria, the administration of systemic glucocorticosteroids may become necessary if the patient does not respond to the higher doses of H1 antihistamines; however, these are only recommended for a short time (for 3 – 4 days) with 40 – 50 mg predinisolone equivalent per day. Only in cases of associated severe angioedema, higher-dose intravenous prednisolone therapy may be indicated. The current international guideline on chronic urticaria is very critical of the long-term use of systemic glucocorticosteroids in chronic spontaneous urticaria; even in acute exacerbations of chronic spontaneous urticaria, treatment should be limited to a maximum of 10 days.

If drugs are applied in off-label use, which was the case for both antihistamines and systemic glucocorticosteroids, the treating physician has a special duty to obtain the patient’s legally effective informed consent. The physician bears the burden of proof for the proper explanation of an off-label use medication; if possible, he should obtain informed consent in writing to avoid medical negligence claims.


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Klinischer Fall

Aus den von der Schlichtungsstelle herangezogenen Krankenunterlagen, auch der vor- und nachbehandelnden Ärzte, ergab sich folgender Krankheits- und Behandlungsverlauf:

Der 80-jährige Patient war mit der Einweisungsdiagnose einer unklaren schweren Urtikaria ([Abb. 1]) stationär in eine Klinik für Dermatologie aufgenommen worden. Im Aufnahmebefund wurde eine generalisierte ausgeprägte Urtikaria dokumentiert und dass eine Quincke-Symptomatik nicht vorliege. Als möglicher Auslöser der Erkrankung wurde eine Hashimoto-Thyreoiditis erwogen. Diese Diagnose beruhte auf dem Nachweis von Thyreoglobulin-Antikörpern (5,6 lU/ml, normal < 4,1 lU/ml) und Antikörpern gegen Schilddrüsenperoxydase (51,7 lU/ml, normal < 5,6 lU/ml). TSH sowie die peripheren Schilddrüsenhormonwerte – fT4 und fT3 – lagen im Normbereich. Neben Kalzium wurde initial mit Clemastin und Ketotifen behandelt. V. a. aber erfolgte die Behandlung hochdosiert mit Decortin H. Am 2. und 3. Tag des stationären Aufenthaltes wurden jeweils 150 mg p. o. verordnet. Verabreicht wurden dann am 4. Tag 350 mg, am 5. und 6. Tag jeweils 200 mg, am 7. Tag 300 mg und vom 8. bis zum 11. Tag je 400 mg tgl. Bis zum 16. Tag wurde diese Dosierung schrittweise auf 200 mg pro Tag reduziert. Über 170 mg am 17. Tag erfolgte dann alle 2 Tage eine Reduzierung um jeweils 30 mg bis auf 110 mg/Tag am 23. Tag. Die Dosierung wurde dann pro Tag bis auf 40 mg tgl. am 29. Tag vermindert.

Zoom Image
Abb. 1 Schwere Urtikaria (nicht aktuell vorgestellter Fall).

Wegen erhöhter Blutzuckerwerte wurden ab dem 6. Tag Blutzuckertagesprofile erstellt und mit Normalinsulin behandelt.

Am 26. Tag des stationären Aufenthaltes zeigten sich im Bereich der Extremitäten zahlreiche petechiale Hauteinblutungen. Zum Ausschluss einer Vaskulitis wurde eine Biopsie der Haut vorgenommen. Eine Vaskulitis wurde durch die histologische Untersuchung nicht belegt. Am gleichen Tage wurde ein Abfall der Thrombozytenzahl auf 38/nl nachgewiesen. Das CRP war stark erhöht (185,7 mg/ml). Ebenfalls am gleichen Tag wurde dokumentiert, dass der rechte Ellenbogen geschwollen und schmerzhaft sei. Nachdem sich der Allgemeinzustand des Patienten am Folgetag deutlich verschlechterte und der Befund am rechten Ellenbogen für ein beginnendes Erysipel gehalten wurde, erfolgte 2 Tage später die Verlegung in die Klinik für Innere Medizin und von dort ebenfalls 2 Tage später auf die Intensivstation. Bei Übernahme in die Innere Medizin imponierten ein schlechter Allgemeinzustand sowie generalisierte Petechien. Diagnostiziert wurde eine Sepsis, ausgelöst durch eine Lymphangitis/Erysipel des rechten Oberarmes. Zusätzlich wurden radiologisch pneumonische Infiltrate nachgewiesen. Auf der Intensivstation wurde antibiotisch mit Piperacillin/Tazobactam und Clindamycin behandelt und die Steroiddosis in kleinen Schritten reduziert. Es kam zu einer Besserung des klinischen Bildes, sodass der Patient 8 Tage später auf eine periphere internistische Station verlegt werden konnte. Dort wurde am Folgetag sonografisch der Verdacht auf einen Abszess des rechten Ellenbogens geäußert. Bei der Punktion entleerte sich Eiter. Zur chirurgischen Intervention wurde der Patient noch am selben Tage in die Klinik für Unfall-, orthopädische- und Handchirurgie weitergeleitet. Dort erfolgte wegen der septischen Gesamtsituation die Verlegung auf die operative Intensivstation. Es wurden mehrere Eingriffe am rechten Ellenbogen erforderlich, worauf die entzündlichen Veränderungen am rechten Ellenbogen zur Abheilung kamen. Bei weiterer Fokussuche fand sich ein kleiner Lungenabszess, der Anschluss an einen Bronchus hatte und keiner Therapie bedurfte. Die Gesamtsituation des Patienten verschlechterte sich jedoch während der intensivmedizinischen Behandlung. Der Patient verstarb 2 Monate nach Aufnahme im Klinikum.


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Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen

Den Ärzten der Klinik für Dermatologie wurde eine Fehlbehandlung der Urtikaria vorgeworfen. Insbesondere die Steroidmedikation sei in der Dosis zu hoch und die Dauer der Gabe viel zu lange gewesen. Fehlerbedingt sei es zu einer Immunsuppression und letztlich zu einer Sepsis gekommen. Auch die Entwicklung einer Thrombozytopenie während des Aufenthaltes in der Dermatologie sei die Folge einer falschen Behandlung gewesen. Diese Komplikation sei mangels Laborkontrollen zu spät bemerkt worden.


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Stellungnahme der Ärzte des angeschuldigten Klinikums

Zu dem Vorwurf fehlerhaften Handelns äußerten sich die Ärzte des Klinikums wie folgt:

  1. Klinik für Dermatologie
    Die stationäre Aufnahme des Patienten sei notfallmäßig wegen einer ausgeprägten Urtikaria erfolgt, die seit 1 – 2 Tagen bereits bestanden habe. Für die Einleitung der notwendigen Behandlung sei es zunächst zweitrangig gewesen, ob es sich um eine akute oder aber um eine chronische Verlaufsform handele, da das klinische Bild durch eine ungewöhnlich ausgeprägte Urtikaria gekennzeichnet gewesen sei. Zu diesem Zeitpunkt hätten am Stamm und an den Extremitäten großflächige, landkartenartig aufgebaute, deutlich infiltrierte Urticae vorgelegen. Subjektiv habe der Patient angegeben, dass er „es (vor Juckreiz) nicht mehr aushalten“ würde. Vor dem Hintergrund des ausgeprägten dermatologischen Befundes und des Alters des Patienten habe akuter dringender Handlungsbedarf bestanden. Eingeleitet worden sei eine Therapie mit einem Antihistaminikum und mit 150 mg Decortin H. Rückbildung oder auch nur Sistieren des Befundes sei durch diese Behandlung nicht zu erreichen gewesen. Daraufhin sei die Dosierung von Decortin H zunächst erhöht und bei einsetzender Rückbildung des Befundes auf 200 mg reduziert worden. Darunter sei es zu einer Exazerbation gekommen und deswegen die Steroiddosis erneut auf 300 mg und wegen weiterer Zunahme der Urtikaria auf 400 mg täglich erhöht worden. Zeitgleich sei das Antihistaminikum gewechselt worden. Erst unter dieser Behandlung sei Rückbildung erreicht worden, neue Urticae seien dennoch aufgetreten. Trotzdem sei die Steroiddosis in Stufen über 300 mg dann nach 4 Tagen auf 200 mg täglich reduziert worden. Nach diesen 4 Tagen sei der dermatologische Befund deutlich rückläufig gewesen, sodass die Decortindosierung in Schritten auf 50 mg habe weiter reduziert werden können. Die Behandlung mit Decortin H ausschleichend zu reduzieren sei sinnvoll gewesen, da bei einer erneuten Exazerbation die Notwendigkeit bestanden hätte, wieder höher zu dosieren und damit eine weitere Zunahme der Gesamtdosis verbunden gewesen wäre. Diese Einschätzung habe auf dem bisherigen Verlauf der Erkrankung beruht. Darüber hinaus sei die Gesamtdosis des Steroids zum Zeitpunkt der Stabilisierung des dermatologischen Befundes bereits so hoch gewesen, dass bei einem Abbruch der Behandlung eine Insuffizienz der Nebennierenrinde nicht auszuschließen gewesen sei. Gegen eine schlagartige Beendigung der Steroidmedikation habe auch gesprochen, dass bei dem Patienten eine Hashimoto-Thyreoiditis vorgelegen habe, die möglicherweise die Urtikaria ausgelöst habe und bei der es erfahrungsgemäß zu langen, klinisch auch ausgedehnten Verläufen einer Urtikaria kommen könne. Eine sehr umfangreiche Diagnostik habe keine Hinweise auf andere mögliche Ursachen erbracht.
    Nach einer anfänglichen Phase von Desorientiertheit seien keine Besonderheiten des Allgemeinbefindens beobachtet worden. Zunächst habe der Patient über eine Schwellung an der Streckseite des rechten Ellenbogens geklagt, die ihm am Morgen aufgefallen sei. Gleichzeitig seien bei der Visite neu aufgetretene Läsionen an beiden Unterschenkeln gesehen worden und eine disseminierte Aussaat stecknadelkopf- bis linsengroßer Purpuramorphen. Bei der Kontrolle von Laborwerten sei eine Thrombopenie von 44 T/nl aufgefallen. Erbeten worden sei daraufhin ein internistisches Konsil. Die auf Anraten veranlassten Untersuchungen hätten für die Thrombopenie keine Erklärung gebracht. Eine Übernahme in die Innere Medizin sei erfolgt, nachdem sich das Allgemeinbefinden des Patienten weiter verschlechtert habe und Fieber aufgetreten sei.

  2. Klinik für Innere Medizin
    Der Patient sei aus der Klinik für Dermatologie übernommen worden. Die Übernahme sei wegen zunehmender Schwäche und Verschlechterung des Allgemeinzustandes sowie Petechien erfolgt. In der Gesamtschau habe sich das Bild einer Sepsis geboten, die auch für die Knochenmarkdepression als ursächlich angesehen worden sei. Wegen der Sepsis sei er auf der Intensivstation antibiotisch behandelt und gleichzeitig die Dosis des Steroids weiter reduziert worden. Darunter seien die Entzündungswerte deutlich rückläufig gewesen, sodass der Patient auf die periphere Station habe zurückverlegt werden können. Nachdem sich sonografisch der Verdacht auf einen Abszess des rechten Ellenbogens ergeben habe, sei er punktiert und dabei eitriger Inhalt entleert worden. Zur chirurgischen Revision der eitrigen Bursitis sei der Patient noch am gleichen Tage in die Klinik für Unfallchirurgie verlegt worden. Während der Behandlung in der Medizinischen Klinik seien alle notwendigen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen zeitgerecht erfolgt. Ein Behandlungsfehler sei nicht auszumachen.

  3. Klinik für Unfallchirurgie
    Der Patient sei aus der Klinik für Innere Medizin mit einer eitrigen Bursitis olecrani rechts übernommen worden. In Anbetracht der septischen Gesamtsituation sei die Behandlung auf der operativen Intensivstation erfolgt. Mehrere Eingriffe seien notwendig gewesen. Darunter seien die entzündlichen Veränderungen an den Extremitäten vollständig abgeheilt. Bei der weiteren Fokussuche habe sich ein kleiner Lungenabszess nachweisen lassen, der allerdings über einen Bronchusanschluss drainiert worden sei und daher keiner weiteren Therapie bedurft habe. Das Gesamtbild sei im Verlauf immer schlechter geworden, sodass schließlich in Absprache mit den Angehörigen eine Therapiebegrenzung vorgenommen worden sei. Der Patient sei noch am gleichen Tage verstorben.
    Von unfallchirurgischer Seite könne kein Behandlungsfehler ausgemacht werden, insbesondere keine zeitlichen Verzögerungen bez. operativer und intensivmedizinischer Versorgung.


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Beurteilung durch die dermatologische Gutachterin

Die Einweisung des Patienten in die Klinik für Dermatologie sei mit der Diagnose einer unklaren, schweren Urtikaria erfolgt. Definitionsgemäß habe es sich bei dem Patient um eine schwere generalisierte akute Urtikaria gehandelt, da der Verlauf weniger als 6 Wochen betragen habe. Letztendlich sei es aber bez. der Therapie unerheblich, ob es sich um eine akute Urtikaria – was wesentlich wahrscheinlicher sei – gehandelt habe oder um eine akute Exazerbation einer chronischen Urtikaria.

Therapeutisch habe der Patient am Aufnahmetag eine Kalziumtablette erhalten. Am Folgetag sei dann mit einer hochdosierten Glukokortikoidtherapie begonnen worden. Aus den Unterlagen gehe nicht eindeutig hervor, warum die Entscheidung für eine derartig hohe (150 mg Decortin H) initiale Steroiddosis gefallen war. Zu keinem Zeitpunkt seien Anzeichen für eine schwere, potenziell lebensbedrohliche Manifestation wie z. B. Angioödem, Luftnot oder Kreislaufdysregulation beschrieben worden, wohl aber ausgeprägter Juckreiz.

Erst am Folgetag der Aufnahme sei mit einem H1-Antihistaminikum und dem Glukosteroid Decortin H oral behandelt worden. In einer bedrohlichen Akutsituation wäre das Glukokortikoid sofort am Aufnahmetag und aufgrund des rascheren Wirkeintritts eher intravenös als oral verabreicht worden. Aus den Akten gehe auch nicht deutlich hervor, warum die Dosis in der Folgezeit auf 350 mg und dann über mehrere Tage auf 400 mg gesteigert worden sei. In dieser Zeit seien weiterhin Urticae und Juckreiz im Pflegebericht dokumentiert, aber ausdrücklich keine schwere Allgemeinsymptomatik. Die Umstellung des Antihistaminikums von Clemastin auf Desloratadin sei mit der doppelten empfohlenen Tagesdosis erfolgt. Leitliniengerecht hätte auf das Vierfache gesteigert werden können, stattdessen sei die Decortin-Dosis auf 400 mg eskaliert worden.

Dass urtikarielle Hautveränderungen einer akuten Urtikaria mit der Aktivität einer Hashimoto-Thyreoiditis assoziiert seien, sei nach Auffassung der Gutachterin nicht belegt. Bei einer chronischen Urtikaria fänden sich häufiger als in der Allgemeinbevölkerung Autoimmunthyreoiditiden; ein direkter Bezug zur Krankheitsaktivität der Urtikaria sei jedoch nicht bekannt. Eine Hashimoto-Thyreoiditis sei auch bei der chronischen Urtikaria nicht behandlungsbedürftig.

Zur Beantwortung der im Gutachtenauftrag gestellten Fragen führte die Gutachterin aus:

Der Patient habe zum Zeitpunkt der Aufnahme an einer generalisierten akuten spontanen Urtikaria ohne begleitende Allgemeinsymptomatik gelitten. Die Standardtherapie hierfür bestehe aus H1-Antihistaminika, die dem Patient ab dem 2. Behandlungstag auch verabreicht worden seien. Diese H1-Antihistaminika seien meist in erhöhter Dosis (off-label) erforderlich, welche der Patient auch erhalten habe. Zusammen mit Ketotifen habe sich eine 4-fache bzw. 3-fache Dosis ergeben. Clemastin sei später auf ein moderneres, nicht-sedierendes H1-Antihistaminikum in doppelter Dosierung umgesetzt worden. Somit könne die H1-Antihistaminikagabe mit insgesamt dem 4-Fachen- bzw. 3-Fachen der normalen Dosis als dem Standard entsprechend angesehen werden. Die am Aufnahmetag und im Verlauf bei Bedarf erfolgte Gabe von Kalzium-Brausetabletten werde bei Urtikaria nicht mehr empfohlen.

Da es sich bei der akuten Urtikaria i. d. R. um eine selbstlimitierende Erkrankung handele, die meist nach spätestens 2 – 3 Wochen verschwinde, erfolge die Behandlung symptomatisch mit H1-Antihistaminika und ggf. bei schweren Formen bzw. potenziell bedrohlichen Symptomen zusätzlich mit systemischen Glukokortikosteroiden. Hierzu werde in den aktuellen deutschen Leitlinien für die akute Urtikaria ausgeführt, dass es eine ausdrückliche Empfehlung gebe, die Anwendung systemischer Kortikosteroide über einen längeren Zeitraum zu meiden, anderenfalls Patienten an ein spezialisiertes Urtikariazentrum zu überweisen. Bei akuter Urtikaria und akuter Exazerbation einer chronischen spontanen Urtikaria könne die kurzfristige Gabe eines systemischen Glukokortikosteroids jedoch hilfreich sein, um die Krankheitsdauer abzukürzen. Im Behandlungsalgorithmus werde explizit die Dauer der Gabe mit 3 – 7 Tagen angegeben. Der Patient sei jedoch über 20 Tage mit Dosen von 110 mg – 400 mg Prednisolon behandelt worden. Aus den Unterlagen gehe die Notwendigkeit für diese lange Gabe und die hohe Dosierung nicht hervor.

Trotz der hochdosierten Glukokortikosteroidgabe sei mit Ausnahme regelmäßiger Blutzuckertagessprofile erst nach 25 Tagen eine erste Laborkontrolle erfolgt, bei der dann die ausgeprägte Thrombopenie und der massive CRP-Anstieg aufgefallen seien. Angesichts des hohen Alters des Patienten mit zu berücksichtigender Immunseneszenz sei insbesondere mit Nebenwirkungen der systemischen Steroidgabe, z. B. einer erhöhten Infektanfälligkeit, zu rechnen gewesen.

Zusammenfassend stellte die Gutachterin fest, dass die Höhe der Dosierung des systemischen Glukokortikosteroids angesichts der dokumentierten Schwere der Urtikaria im Vergleich zu den Empfehlungen in der Fachliteratur und den Leitlinien zu hoch gewählt worden sei. Vertretbar wäre die Dosierung initial bei sehr schwerer Urtikaria mit weiteren Allgemeinsymptomen gewesen, wenngleich die Verabreichung i. d. R. in der Akutsituation eher intravenös und direkt nach der Aufnahme indiziert gewesen wäre. Die Eskalation der Dosierung in den folgenden Tagen und v. a. die Dauer der hochdosierten Gabe (über 20 Tage 110 mg – 400 mg täglich) entsprächen jedoch nicht dem Facharztstandard und/oder dem üblichen Vorgehen. In allen gängigen Fach- und Lehrbüchern sowie den Leitlinien würden für die akute Urtikaria ebenso wie auch für die akute Exazerbation einer chronischen Urtikaria niedrigere Initialdosen von Glukokortikosteroiden empfohlen und eine Therapie meist nur über 3 – 7 Tage, in jedem Fall kurzfristig und nach 3 Tagen bereits in reduzierter Dosis.

Der Fehler hätte vermieden werden können.

Darüber hinaus sei der Patient zum Aufnahmezeitpunkt 80 Jahre alt gewesen. Die Funktion des Immunsystems nehme im Alter ab. Schwere und Komplikationen von Infektionskrankheiten nähmen deshalb im Alter zu. In der Praxis sei ein besonderes Augenmerk auf die frühzeitige Diagnose von Infektionen zu legen. Bei der langfristigen Gabe so hoher Dosierung sei mit einer Immunsuppression und entsprechender Anfälligkeit für Infektionen zu rechnen gewesen.


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Stellungnahme zum Gutachten

Zu dem Gutachten wurden vonseiten der behandelnden Hautklinik folgende Einwendungen erhoben:

Der Auffassung, dass bei dem Patienten wahrscheinlich eine akute Urtikaria vorgelegen habe, könne nicht gefolgt werden. Anamnestisch habe er seit mehreren Monaten rezidivierend über Juckreiz geklagt und deswegen sei eine ambulante Lokalbehandlung erfolgt. Die Besserung innerhalb von 12 Tagen, aus der die Gutachterin ableite, dass eine akute (selbstlimitierende) Urtikaria vorgelegen habe, sei nur unter der eingeleiteten Therapie eingetreten. Man könne daher nicht von einer selbstlimitierenden akuten Urtikaria sprechen und somit die durchgeführte Therapie als nicht notwendig anzweifeln, sie aber gleichzeitig bei dem konkreten Verlauf der Erkrankung völlig außer Acht lassen. Nur weil der Patient in entsprechender Weise behandelt worden sei, sei es zu einer Stabilisierung gekommen.

Ziel der Therapie sei es gewesen, eine schnelle und vollständige Rückbildung bzw. Stabilisierung des Befundes insbesondere wegen der zu befürchtenden kardiovaskulären Komplikationen oder erneuter Exazerbation zu bewirken. Die Ausprägung der Urtikaria sei als schwer und somit als bedrohlich eingeordnet worden, auch wenn kein Quincke-Ödem und noch keine kardiovaskulären Komplikationen vorgelegen hätten. Die Schwere der Urtikaria habe sich bei dem Patienten durch die ungewöhnliche Ausprägung des dermatologischen Befundes und der Begleitsymptomatik definiert. Kardiovaskuläre Komplikationen könnten sich bei älteren Menschen sehr schnell entwickeln. Diese Situation habe die Dosierung von zunächst 150 mg Decortin H bei gleichzeitiger Gabe von H1-Antihistaminika begründet. Eine Rückbildung oder auch nur ein Sistieren des dermatologischen Befundes habe durch diese Behandlung nicht erreicht werden können. Der Befund habe eher zugenommen. Erst daraufhin sei die Decortindosis auf 350 mg erhöht und bei einsetzender Rückbildung des Befundes auf 200 mg reduziert worden. Darunter sei es zu einer erneuten Exazerbation gekommen, sodass der Patient wieder zunächst 300 mg Decortin H und bei weiterer Zunahme der Urtikaria 400 mg erhalten habe. Gleichzeitig seien die Antihistaminika ausgetauscht worden. Erst unter dieser Behandlung habe eine Rückbildung erreicht werden können, und die Steroiddosis hätte über 300 mg auf 200 mg reduziert werden und bei weiter gebessertem Befund die Reduktion bis auf 50 mg fortgesetzt werden können.

Entgegen den Eintragungen in der Pflegedokumentation hätten sich bei dem Patient weiterhin Urticae gefunden. Die Decortin-H-Dosis sei jeweils dem klinischen Befund angepasst verordnet worden. Zum Zeitpunkt der weitgehenden aber noch nicht vollständigen Stabilisierung des Befundes – ca. 10 – 12 Tage nach Therapiebeginn – sei die Gesamtdosis der Glukokortikoide bereits so hoch gewesen, dass ein (abrupter) Abbruch im Hinblick auf eine Nebenniereninsuffizienz nicht mehr möglich schien. Zudem sei als mögliche Ursache der Urtikaria von einer Hashimoto-Thyreoiditis ausgegangen worden. Auch aus diesem Grunde sei schrittweise die Reduktion der Decortin-Dosis erfolgt.

Es sei darauf hinzuweisen, dass in einem dermatologischen Standardwerk bei sehr schweren Formen der Urtikaria, die mit Schleimhautbeteiligung und Angioödem einhergehen, sogar eine initiale intravenöse Dosierung bis 500 mg Prednisolon genannt werde. Eine generalisierte und schwer ausgeprägte Urtikaria mit entsprechendem Serumverlust in die Haut habe sicherlich eine bedrohliche Situation dargestellt, sodass bei dem Patienten die in den Leitlinien teilweise empfohlenen Dosierungen viel zu niedrig gewesen wären.

Bei der stationären Aufnahme seien die üblichen Laborparameter alle unauffällig gewesen. Im Zusammenhang mit der Decortinmedikation seien Blutzuckermessungen vorgenommen und, nachdem sich eine diabetogene Stoffwechsellage gezeigt habe, sei mit Insulin therapiert worden. Das Allgemeinbefinden des Patienten habe sich normalisiert, nachdem die Urtikaria zur Rückbildung habe gebracht werden können. Fassbare Nebenwirkungen der Decortin-H-Therapie hätten sich nicht gezeigt.

Auf die zunächst bei einer Visite nach 24 Tagen aufgefallene Schwellung am rechten Ellenbogen sei mit Kühlung und Umschlägen reagiert worden. Für ein Erysipel oder eine Lymphangitis habe kein Anhalt bestanden. Es habe weder Fieber noch eine Symptomatik bestanden, die auf eine Pneumonie, einen Harnwegsinfekt oder eine Sepsis hingewiesen hätten. Die zeitgleich beobachtete punktförmige, teilweise palpable Purpura an den Unterschenkeln sei die Indikation zur Labordiagnostik und zu einer Stanzbiopsie gewesen. Wegen der dabei diagnostizierten Thrombopenie sei ein internistisches Konsil ohne fassbares Ergebnis angefordert worden. Als Konsequenz der Thrombopenie seien fast alle Medikamente abgesetzt worden. Die Persistenz der Thrombozytopenie und die Entwicklung von Fieber bei fehlender Leukozytose seien der Grund für die Verlegung in die Klinik für Innere Medizin gewesen.

Es sei festzustellen, dass die diabetogene Stoffwechsellage als Nebenwirkung der Decortin H-Therapie sofort erkannt und konsequent behandelt worden sei. Bis zur Verlegung habe keine auf eine Infektion hinweisende Symptomatik bestanden.


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Erneute Beurteilung durch die dermatologische Gutachterin

Nach Ansicht der Gutachterin ergaben sich aus den Ausführungen der Klinik für Dermatologie keine neuen Erkenntnisse. Gutachterlich sei bereits ausführlich dargelegt worden, dass es für die erfolgte Behandlung irrelevant sei, ob es sich um eine exazerbierte chronische Urtikaria gehandelt habe – was sie für unwahrscheinlich halte – oder um eine akute Urtikaria. Nach aktuellen Empfehlungen würden bei einer chronischen Urtikaria noch niedrigere Dosierungen eines Glukokortikoids empfohlen als bei der akuten Urtikaria. Auch bez. der Länge der Steroidbehandlung würden sich aus der Stellungnahme der Klinik keine neuen Erkenntnisse ergeben. Verwiesen werde darin auf ein dermatologisches Standardwerk; bei der dort genannten schrittweisen Dosisreduktion von 250 mg Prednisolon-Äquivalenten über 150 mg, 100 mg, 75 mg, 50 mg auf 25 mg pro Tag handele es sich jedoch nach gängigem Verständnis um tägliche Schritte, sodass am 6. Tag mit einer Dosierung von 25 mg geendet werde. Keinesfalls sei aber, wie im strittigen Fall, eine Gabe von 110 mg – 400 mg über 20 Tage gemeint. Unter einer ungewöhnlich hohen und langdauernden Glukokortikosteroiddosis (durchschnittlich ca. 250 mg über 20 Tage) sei – erst recht bei einem 80-jährigen Patienten – mit Nebenwirkungen zu rechnen. Zitiert wurde in diesem Zusammenhang aus der Fachinformation für Decortin H, insbesondere über Maskierung von Infektionen sowie Exazerbation oder Reaktivierung von Virus-, Pilz-, bakteriellen sowie opportunistischen Infektionen.


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Beurteilung durch die Schlichtungsstelle

In Würdigung der medizinischen Dokumentation und der Stellungnahme der Beteiligten schloss sich die Schlichtungsstelle dem Gutachten im Ergebnis an.

Bei der Aufnahme des Patienten lag eine generalisierte spontane Urtikaria mit floriden Urticae ohne Angioödem, Schluckbeschwerden und Kreislaufdysregulation vor. Ob es sich dabei um eine akute Urtikaria oder die Exazerbation einer chronischen Urtikaria gehandelt hat, ließe sich retrospektiv nicht sicher klären. Selbst klinikintern schien diese Differenzierung offenbar nicht eindeutig gewesen zu sein, denn im Gegensatz zu den Stellungnahmen der Klinik lautete die Diagnose im Verlegungsbrief an die Innere Medizin „Akute Urtikaria“. Für die Therapie sei die Unterscheidung der akuten Phase beider Varianten jedoch weniger relevant.

Alle nationalen und internationalen Leitlinien gehen davon aus, dass aufgrund ihres guten Sicherheitsprofils H1-Antihistaminika bei der symptomatischen Behandlung der chronischen Urtikaria Mittel der ersten Wahl sind. Empfohlen werden in den meisten Leitlinien inzwischen die H1-Antihistaminika der 2. Generation. Die Behandlung mit H1-Antihistaminika durch die dermatologische Klinik kann als dem Standard entsprechend angesehen werden.

Eine Fotodokumentation des Hautbefundes lag lediglich zum Aufnahmezeitpunkt vor. Der Verlauf des von der Klinik als ungewöhnlich schwer angegebenen Krankheitsbildes wurde bildmäßig nicht dokumentiert. Der Zustand der Haut im Verlauf wurde nur seitens der Pflegenden dokumentiert; ärztliche Eintragungen zur Verlaufsbeschreibung fehlten in den Unterlagen komplett.

Nur aus der Pflegedokumentation ließ sich entnehmen, dass 3 Tage nach Aufnahme noch Urticae vorhanden waren und darin ärztlicherseits offenbar die Indikation gesehen wurde, die Decortindosis auf 350 mg/Tag zu erhöhen. Ebenfalls der Pflegedokumentation war zu entnehmen, dass der Zustand des Patienten ab dem 8. Tag nach Aufnahme stabil war.

Bereits die initial gewählte Dosis von Decortin H (150 mg p. o.), v. a. aber die später bis auf 400 mg täglich erhöhte Dosis lagen erheblich höher als in der Leitlinie empfohlen. In der zum Zeitpunkt der strittigen Behandlung gültigen deutschen S3-Leitlinie wurde angeführt, dass bei akuter Urtikaria – oder akuter Exazerbation einer chronischen Urtikaria – die kurzfristige Gabe eines systemischen Glukokortikosteroids hilfreich sein kann. Die dort genannten Dosen bewegen sich jedoch zwischen 40 und 50 mg täglich für wenige (3 – 7) Tage; Ähnliches galt für die seinerzeitige englische Leitlinie.

Kurzzeitig – i. d. R. weniger als eine Woche – könne die Gabe von Glukokortikoiden zusätzlich zur Antihistaminbehandlung erwogen werden, um persistierende schwere Symptome unter Kontrolle zu bringen.

Die von der Klinik gegebene Dosis von Decortin H war somit angesichts der den Unterlagen zu entnehmenden Symptomatik der Urtikaria – Fehlen bedrohlicher Komplikationen – im Vergleich zu den Empfehlungen viel zu hoch gewählt worden, und die Applikationsdauer war eindeutig zu lang.

Derart hohe Dosen des Glukokortikoids (bis 400 mg täglich) und insbesondere die Dauer der Applikation (20 Tage) waren nicht sach- und fachgerecht und als Behandlungsfehler zu werten.

Die systemische Gabe von Glukokortikoiden beinhaltet ein dosisabhängiges Infektionsrisiko, speziell mit gewöhnlichen bakteriellen, viralen oder mykotischen Pathogenen. Besonders unter hohen Steroiddosen ist das Infektionsrisiko bereits nach kurzer Zeit erheblich, weil der die Phagozytose hemmende Effekt dosisabhängig ist. Zusätzlich zur Dosis der Glukokortikoide haben patientenspezifische Faktoren Einfluss auf das Infektionsrisiko, darunter ein aktueller Krankenhausaufenthalt und das Alter des Patienten. Hinzu kommt, dass eine erfolgte Infektion unter hochdosierten Steroiden wenig Symptome machen kann und deshalb oft verspätet diagnostiziert wird. Als Erklärung dient, dass die Freisetzung von Zytokinen inhibiert wird und das Auftreten typischer Entzündungsparameter und die Entwicklung von Fieber gebremst werden.

Daraus ergibt sich, dass aufgrund der von der Klinik gewählten hohen Glukokortikoid-Dosen und der Behandlungsdauer mit einer ausgeprägten Immunsuppression und entsprechend hoher Infektanfälligkeit zu rechnen war, die sich im konkreten Fall realisiert hat. Bei dem Patienten hat sich wegen der steroidinduzierten Immunsuppression eine Staphylokokken-Sepsis entwickelt. Potenzielle Eintrittspforten könnten die in der Dokumentation genannten Läsionen an der linken Schulter bzw. am linken Außenknöchel gewesen sein.

Die beobachtete Thrombopenie war bereits als Ausdruck einer Sepsis zu sehen.

Der Nachweis von Schilddrüsenantikörpern ist keine Indikation für eine Behandlung mit Glukokortikoiden und damit keine Begründung für die hochdosierte und prolongierte Steroidgabe im konkreten Fall.

Eine Häufung von erhöhten Schilddrüsenantikörpern wie TPO-AK und/oder AK gegen Thyreoglobulin von bis zu 25 % ist bei chronischer Urtikaria schon seit vielen Jahren bekannt. In den meisten Fällen sind aber der TSH- und die peripheren Schilddrüsenhormonspiegel normal und damit die Funktion der Schilddrüse normal, so wie auch bei dem hier vorgestellten Patienten. Ein kausaler Zusammenhang beider Erkrankungen ließ sich bislang nicht belegen.

Eine Indikation zur Steroidbehandlung der Hashimoto-Thyreoiditis existiert generell nicht. Deren Behandlung besteht in der Substitution von L-Thyroxin, sobald die Erkrankung zu einer Hypothyreose geführt hat.


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Gesundheitsschaden

Bei korrektem Vorgehen wäre nach ärztlicher Erfahrung mit folgendem Verlauf zu rechnen gewesen:

Behandelt worden wäre, wie erfolgt, mit H1-Antihistaminika, ggf. wie die Leitlinien empfehlen von Beginn an mit solchen der sog. 2. Generation in üblicher Dosis. Bei ungenügendem Ansprechen wäre eine Dosiserhöhung bis zum 4-Fachen erwogen worden. Bei ausgeprägter Symptomatik und unzureichendem Therapieerfolg mit den Antihistaminika wäre die Kombination mit einem Leukotrienantagonisten infrage gekommen, aber auch alternativ ein systemisches Glukokortikoid in absteigender Dosierung für bis zu 7 Tage. Bei diesem Vorgehen wäre eine klinisch relevante Suppression der Nebennierenrinden nicht zu erwarten gewesen und das Steroid hätte abrupt abgesetzt werden können.

Durch das fehlerhafte Vorgehen kam es zu folgenden zusätzlichen Gesundheitsbeeinträchtigungen:

Das fehlerhaft zu hoch dosierte und in hoher Dosierung zu lange verabreichte Decortin H führte zu einer massiven Immunsuppression. Der Patient war daher – verstärkt durch sein Lebensalter von 80 Jahren – sehr stark immunsupprimiert und massiv infektanfällig. Fehlerbedingt kam es zu einer Staphylokokken-Sepsis. Der Behandlungsfehler hat die Sepsis ausgelöst, die ohne die hochdosierte Steroidmedikation mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten wäre. Das iatrogene Immundefizit hat die Wirkung der Antibiotika, die nach Verlegung in die Klinik für Innere Medizin eingesetzt wurden, in ihrer Effektivität deutlich beeinträchtigt, sodass eine definitive Beherrschung der Infekte nicht gelang und der Patient letztlich an nicht beherrschter Sepsis verstarb.

Die Schlichtungsstelle hielt Schadensersatzansprüche für begründet und empfahl, die Frage einer außergerichtlichen Regulierung zu prüfen.


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Medizinische und rechtliche Interpretation

Der vorstehend sehr ausführlich berichtete Fall ist in verschiedener Hinsicht lehrreich:

  • Auch häufige, durch übliche Therapien meist gut beherrschbare Krankheitsbilder in der Dermatologie können im Einzelfall erhebliche therapeutische Herausforderungen darstellen.

  • Dermatologen durch langjährigen Einsatz und die Erfahrung von meist beherrschbaren Nebenwirkungen vertraute Medikamente wie systemische Glukokortikosteroide können im Einzelfall ein tödliches Risiko für Patienten darstellen.

  • Die Abweichung von Behandlungsstandards mag im Einzelfall begründet sein; die Begründung sollte jedoch gut dokumentiert und das Einverständnis des Patienten sollte eingeholt werden.

  • Die notwendigerweise retrospektive gutachterliche Bewertung von möglichen Behandlungsfehlern kann im Einzelfall schwierig und kontrovers sein.

Die Urtikaria ist eine der häufigsten Hautkrankheiten. Während die Diagnose bei vorliegenden typischen Hauterscheinungen von juckenden Quaddeln (Nesselsucht) mit oder ohne Angioödem leicht zu stellen ist, ist die Ermittlung ihrer Ursachen schwierig und häufig erfolglos. Letztlich aus pragmatischen Gründen wird die Urtikaria daher in eine akute (Bestand bis zu 6 Wochen) und eine chronische (Bestand über 6 Wochen) Variante eingeteilt, wobei für die akute Urtikaria primär eine symptomatische Therapie und nur in Ausnahmefällen (Typ I-Nahrungsmittelallergie) eine diagnostische Abklärung empfohlen wird. Bei der chronischen Urtikaria wird zwischen einer induzierbaren und einer chronisch-spontanen Form unterschieden; auch im Management der chronischen Urtikaria bleibt bei unergiebiger Ursachensuche häufig nur eine symptomatische Therapie.

Die aktuelle EAACI/GA2LEN/EDF/WAO-Leitlinie für die Definition, Klassifikation, Diagnose und Behandlung der Urtikaria [1] empfiehlt für die symptomatische Therapie der Urtikaria primär H1-Antihistaminika, wobei wegen potenziell schwerwiegender Nebenwirkungen alter sedierender Antihistaminika (es wurde über tödliche Überdosierungen berichtet) von der Verwendung dieser Substanzen abgeraten wird und moderne H1-Antihistaminika der 2. Generation eingesetzt werden sollten. Diese sollten in einem „Second Line“-Ansatz bis zu 4-fach über der arzneimittelrechtlich zugelassenen Dosierung gegeben werden, wofür Wirksamkeitsdaten für die Substanzen Bilastin, Cetirizin, Desloratadin, Ebastin, Fexofenadin, Levocetirizin und Rupatadin zitiert werden [1]. Interessanterweise wird in der EAACI/GA²LEN/EDF/WAO-Leitlinie nicht erwähnt, dass diese Empfehlung einen „Off-label-Use“ darstellt, nämlich die Verschreibung eines registrierten Medikaments außerhalb seiner zugelassenen Zulassung, seines Verwendungszwecks, seiner Zielgruppe oder seiner Indikation [2]. In der Dermatologie, aber auch in anderen Fachgebieten wie der Pädiatrie, ist ein Off-Label-Use zugelassener Arzneimittel häufig. Dies erklärt sich einerseits aus der Seltenheit von Erkrankungen, für die es Pharmaunternehmen an finanziellen Anreizen fehlt, um Genehmigungsstudien durchzuführen oder die Erweiterung bestehender Genehmigungen zu beantragen. Bei bereits zugelassenen Präparaten, deren Patentschutz abgelaufen ist und die als Generika verkauft werden, besteht aufgrund der geringen Gewinnspanne ebenfalls kein wirtschaftlicher Anreiz, entsprechende Studien durchzuführen.

Ein Off-Label-Use von Arzneimitteln stellt den behandelnden Arzt vor besondere rechtliche Herausforderungen. Zwar verbietet das Arzneimittelgesetz den Off-Label-Use nicht, aber es können sich besondere sozialversicherungsrechtliche – bez. der Erstattung der Medikamentenkosten – und/oder haftungsrechtliche Probleme ergeben. Wie jede Behandlung hat auch eine Medikamentenbehandlung im Off-Label-Use nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist (§ 630a Abs. 2 BGB). Ein Behandlungsfehler würde dann vorliegen, wenn dieser Standard unterschritten wäre. Ist der Off-Label-Use mit einem Medikament jedoch gerade der zum Zeitpunkt der Behandlung bestehende, allgemein anerkannte fachliche Standard, wie dies für die höherdosierten H1-Antihistaminika bei der Therapie der Urtikaria der Fall ist, kann der Arzt aufgrund des Behandlungsvertrags sogar zum Off-Label-Use verpflichtet sein [3]. Beim Off-Label-Use von Arzneimitteln treffen den Arzt jedoch erhöhte Aufklärungspflichten. Er kann nicht allein auf die Herstellerinformationen („Beipackzettel“) zu einem Medikament verweisen, denn diese sehen den vom Arzt vorgesehenen Einsatz ja gerade nicht vor, sondern muss dem Patienten seine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung für den Einsatz außerhalb der Zulassung verständlich kommunizieren, damit der Patient rechtswirksam zustimmen kann („informed consent“). Die Beweislast für die ordnungsgemäße Aufklärung über einen Off-Label-Use obliegt dem Arzt; diese sollte er zur Vermeidung von Aufklärungsrügen nach Möglichkeit schriftlich dokumentieren. Dies sollte auch beim Off-Label-Einsatz der H1-Antihistaminika bei der Urtikaria in Befolgung der Empfehlungen der Leitlinie beachtet werden. Kommt es allerdings zu Nebenwirkungen aufgrund des Off-Label-Einsatzes eines Medikamentes, so muss der Patient beweisen, dass der von ihm behauptete Gesundheitsschaden gerade auf der Medikamentengabe beruht, die mangels ordnungsgemäßer Aufklärung rechtswidrig war [4].

In der Therapie der akuten Urtikaria, aber auch der chronisch-spontanen Urtikaria, kann bei Nichtansprechen auf die höherdosierten H1-Antihistaminika die Gabe von systemischen Glukokortikosteroiden notwendig werden; diese sind allerdings bei der akuten Urtikaria „zweite Wahl“ und sollten nur kurzzeitig (für 3 – 4 Tage) mit 40 – 50 mg Predinisolonäquivalent pro Tag angewandt werden [5]. Nur wenn assoziierte schwere Angioödeme vorliegen, wird eine höherdosierte intravenöse Prednisolontherapie bei der akuten Urtikaria empfohlen [5]. Die aktuelle internationale Leitlinie äußert sich sehr kritisch gegenüber einer längerfristigen Anwendung von systemischen Glukokortikosteroiden bei der chronisch-spontanen Urtikaria und erwähnt bzgl. der akuten Urtikaria und akuten Exazerbationen der CsU, dass „eine kurze Einnahme von oralen Kortikosteroiden, d. h. eine Behandlung von maximal bis zu 10 Tagen, hilfreich“ sein kann, um die Krankheitsdauer/-aktivität zu reduzieren [1]. Auf das Fehlen randomisierter, kontrollierter Studien wird allerdings hingewiesen.

Seit der Einführung der Glukokortikosteroide in die Therapie zahlreicher allergologischer Krankheitsbilder in den 1950er-Jahren [6] sind die Nebenwirkungen eines längerfristigen Einsatzes dieser Präparate wohlbekannt. Dazu gehören neben dem Diabetes, der Osteoporose, ophthalmologischen und psychiatrischen Störungen insbesondere auch Infektionen, die unter systemischen Glukokortikosteroiden gefährlich maskiert verlaufen können. Ein kürzliches systematisches Review zu den Nebenwirkungen von systemischen Glukokortikosteroiden beim Asthma zeigte erwartungsgemäß, dass die Nebenwirkungen einer langfristigen Glukokortikosteroid-Behandlung des schweren Asthmas von der Höhe der verwendeten Tagesdosis abhingen [7]. Die Nebenwirkungsschwere stellte sich als ein Kontinuum dar, das bereits bei sehr niedrigen Dosen unter 5 mg/Tag beginnt. Ein Dosierungsfenster für eine „sichere“ Langzeitanwendung existiert nicht, sodass im Einzelfall immer der Vorteil einer besseren Symptomkontrolle mit systemischen Glukokortikosteroiden gegen das Risiko von Nebenwirkungen abgewogen werden sollte [7]. Gleiches gilt zweifelsohne für dermatologische allergische Erkrankungen, wobei gute Daten zum Nebenwirkungspotenzial von systemischen Glukokortikosteroiden bei der Therapie der Urtikaria fehlen. Eine US-amerikanische Studie, die auf der Analyse von Versicherungsdaten beruhte, stellte allerdings fest, dass von 12 647 Patienten mit chronischer Urtikaria 55,4 % orale Glukokortikosteroide verwendeten [8]. Eine zusätzliche Exposition mit 1 g Prednisonäquivalent war in dieser Kohorte verbunden mit einer 7 %igen Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, eine mögliche Nebenwirkung zu entwickeln (Hazard Ratio, 1,07 [95 % Konfidenzintervall, 1,05 – 1,08]), wozu in dieser Studie auch Infektionen zählten [8].

Die Fachinformation für das im vorliegend berichteten Fall angewandte Präparat „Solu-Decortin H“ (Natrium(prednisolon-21-succinat)) sah als Indikationen den anaphylaktischen Schock und den schweren akuten Asthmaanfall vor, sowie die „parenterale Anfangsbehandlung ausgedehnter akuter schwerer Hautkrankheiten (Pemphigus vulgaris, Erythrodermie, akute Ekzeme)“, wozu auch die schwere akute oder chronische Urtikaria gezählt werden könnte [9]. Bei der im vorliegenden Fall durchgeführten hochdosierten Therapie über mehr als 20 Tage dürfte jedoch keine „Anfangsbehandlung“ mehr vorgelegen haben. Die Fachinformation enthält den Hinweis darauf, dass es durch die Immunsuppression zu einem erhöhten Risiko für bakterielle, virale, parasitäre, opportunistische sowie Pilzinfektionen kommen kann und dass die Symptomatik einer bestehenden oder sich entwickelnden Infektion verschleiert und somit die Diagnostik erschwert werden kann. Ausdrücklich wird darauf hingewiesen, dass es sich um ein Arzneimittel zur kurzfristigen Anwendung handelt und dass bei älteren Patienten „das Nutzen-Risiko-Verhältnis einer Therapie mit Solu-Decortin H sorgfältig erwogen werden“ muss.

Zusammenfassend handelte es sich daher bei der längerfristigen hochdosierten Therapie der Urtikaria mit dem systemischen Glukokortikosteroid „Solu-Decortin H“ nicht nur um einen Verstoß gegen die – zum Zeitpunkt der Therapie – aktuellen Leitlinien und den Facharztstand, sondern durch Überschreitung der empfohlenen Anwendungsdauer auch um einen Off-Label-Use, für dessen Einsatz die erwähnten besonderen Aufklärungspflichten des Arztes einzuhalten sind, die im vorliegenden Fall nicht dokumentiert waren.

Take Home Message

In der Therapie der akuten Urtikaria, aber auch der chronisch-spontanen Urtikaria, kann bei Nichtansprechen auf die höherdosierten H1-Antihistaminika die Gabe von systemischen Glukokortikosteroiden notwendig werden; diese sind allerdings nur für den kurzzeitigen Einsatz empfohlen. An die Maskierung von Infektionen sollte bei jeder längerfristigen systemischen Glukokortikoidtherapie gedacht werden.

Insbesondere im Fall des Off-Label-Einsatzes von Medikamenten treffen den behandelnden Arzt besondere Aufklärungspflichten, damit der Patient rechtswirksam zustimmen kann („informed consent“). Die Beweislast für die ordnungsgemäße Aufklärung über einen Off-Label-Use obliegt dem Arzt; diese sollte er zur Vermeidung von Aufklärungsrügen nach Möglichkeit schriftlich dokumentieren.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Peter Elsner
Klinik für Hautkrankheiten
Universitätsklinikum Jena
Erfurter Str. 35
07743 Jena
Deutschland   

Publication History

Article published online:
17 June 2020

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Abb. 1 Schwere Urtikaria (nicht aktuell vorgestellter Fall).