physiopraxis 2020; 18(07/08): 70-71
DOI: 10.1055/a-1174-2588
Perspektiven
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Ihr kennt sie alle – Maier-Kolumne

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Publication Date:
15 July 2020 (online)

 

Im letzten Jahr hat Ulrike Maier Physiotherapeuten vorgestellt, die mit stereotypen Charakterzügen gesegnet sind. Nun widmet sie sich ihren Patienten – zumindest den ganz besonderen Fällen.


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Sie sehen aus wie alle anderen Patienten. Sie unterscheiden sich äußerlich nicht von denen, die dem Therapeuten sagen, wo das Symptom sitzt, die sich coachen lassen, ihr erarbeitetes Programm durchziehen und danach mit Besserung nach Hause gehen. In Wirklichkeit tragen die „Specials“ aber einen „Spezialfaktor“ unter Haut und Hirn, der ganz andere Herangehensweisen erfordert. „Specials“ haben bestimmte Verhaltensmuster, die man nach jahrelangem Behandeln schnell erkennt, aber darauf immer noch nicht souverän reagiert. Es gibt sie in vielen Nuancen und mit vielen Namen. Und manchmal erkennt man sich selbst in ihnen wieder.

Ulrike Maier

Wellnessi

„Könnten wir heute mal nur massieren?“, ist der häufigste Satz, den Wellnessi gerne als Einstieg beim Besuch in der Praxis benutzt. Meist liegt Wellnessi dann schon auf dem Bauch und schnurrt. Dabei gibt es Präferenzen zu bestimmten Duftölen und Fango. Am besten sollten die Fettpölsterchen auch gleich wegschmelzen. Aufklärende Gespräche des Therapeuten über die Sinnhaftigkeit von Aktivität werden gerne als die Aktivität des Therapeuten missverstanden. Wellnessi kommt dann aber immer wieder mit den gleichen Symptomen, ist damit Dauergast. Aber nur bis Übungen folgen – dann wechselt Wellnessi die Praxis oder geht zur Thai-Massage. Da zahlt man jedoch privat, somit kehrt Wellnessi wieder zurück.


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Besserwissi

Oft Lehrer, meist tonuserhöht. Hat sich schon über alle Techniken per Internet informiert, stellt jede Behandlung sofort in Frage, erklärt dem Therapeuten seinen Job und erläutert gerne, was motorisch bedeutet. Will auf keinen Fall mehr bezahlen, als die Beihilfe erstattet, diskutiert jede Rechnung rauf und runter und ist mit der Behandlungszeit nicht zufrieden. Bekommt aber nun mal auch in seinem Beruf nie positives Feedback und deshalb hilft bei ihm Loben bis zum Abwinken und natürlich fachlich fundiertes Wissen. Bezieht man ihn in die Behandlung als Wissensressource mit ein, senkt sich meistens der Tonus, sowohl der des Besserwissis als auch der des Therapeuten. Loslassen ist die Devise, denn der Besserwissi denkt für den Therapeuten mit.


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Chef

Macht sich die Praxis untertan. Meist Privatpatient. Erwartet mit einer Selbstverständlichkeit, dass Termine um ihn herumgeplant werden, sein bevorzugter Raum frei ist und er nicht zu den Leuten gehört, die im Wartezimmer Platz nehmen. Auf die Ansage des Behandelnden: „Ich habe zu diesem Zeitpunkt schon einen anderen Patienten“ kommt schon mal der Satz zurück: „Dann zeigen Sie mal Führungsstärke und verlegen ihn auf einen anderen Tag!“ Den Kompromiss, einen jüngeren Kollegen in der Behandlung zu akzeptieren, lehnt er mit den Worten ab: „Ich stehe für Jugend forscht nicht zur Verfügung.“ Das Gute: Chef hat meist Geld. Diese Service-Sonderbehandlung kann man ohne Probleme in Rechnung stellen.


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Plauderer

Kommt meist nur zum Reden. Interessiert sich nur peripher für die Behandlung, erzählt aber gerne aus seinem Leben, von seinen Problemen und monologisiert über weltpolitische Themen. Würde eigentlich viel lieber mit dem Behandler ein Bier trinken gehen, aber da das keiner will, muss er eben beim Arzt ein Rezept holen. Meist fängt das Reden schon mit dem ersten Schritt in den Behandlungsraum an und hört erst mit dem Zufallen der Praxistüre auf. Oft Verkäufer oder Versicherungsvertreter. Wenn man genug hat, kann der Satz: „Diese Technik hilft vor allem, wenn Sie die Kiefergelenke ganz ruhig halten!“, für kurze Zeit Abhilfe schaffen. Das Gute: Er ist ein hervorragender Netzwerker und vermittelt zu jedem Anliegen einen Ansprechpartner. Kostet halt ein Bier.


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Vampir

Manchmal merkt man es nicht gleich. Der Vampir ernährt sich von der Energie anderer Leute, sprich Therapeuten. Oft signalisiert der Vampir eine diffuse Unzufriedenheit. Im Ringen darum, unausgesprochene Erwartungen zu erfüllen, rödelt sich der Behandelnde einen ab, ohne je echtes Feedback zu bekommen. Meist erzählt der Vampir von vielen vorigen, durchweg unfähigen Therapeuten, die alle nicht helfen konnten. Dabei ist oft nicht klar, bei was konkret die anderen nicht helfen konnten. Nach dieser einen Behandlung ist man ausgelaugter als nach einem Zehnstundentag. Der Vampir dagegen nimmt eine immer rosigere Gesichtsfarbe an. Deshalb ist er auch Dauergast! Außer man lernt, bei der Behandlung einfach den Autopiloten laufen zu lassen.


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Klagender

Jammert, sobald er die Praxis betritt. Nimmt Tipps und Hilfen nur vordergründig an. „Ja, aber …“ ist der häufigste Satz, den der Klagende von sich gibt. Es gibt immer einen Grund, dass der jeweilige Behandlungs- oder Lösungsansatz nicht funktionieren kann. Oft folgen dem Ja-aber eine Anzahl von Personen, für die er sich verantwortlich zeichnet: Kinder, Mutter, Chef usw. Mit der Zeit merkt sogar der hartnäckigste Therapeut, dass man dem Klagenden seinen Schmerz nicht nehmen darf, weil der Schmerz ihn vor etwas anderem bewahrt. Therapieren im klassischen Sinn ist zwecklos! Außer er gibt Kind und Angehörige zur Adoption frei. Dann kommt er aber nicht mehr, weil die Beschwerden plötzlich wie von allein verschwinden.


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Psycho

Psycho hat viele Gesichter, aber immer einen an der Klatsche. Ist meist nicht bösartig, sondern einfach nur vom Leben an sich überfordert. Erzählt gerne von esoterischen Wahrheiten und Verschwörungstheorien, die allesamt auf jeden Fall wahr sein müssen. Da ist die Zirbeldrüse als Auge des Horas schon mal verantwortlich für den Krieg in Syrien. Psycho kennt immer einen, der einen kennt, der Krebs durch Handauflegen heilen kann. Kosmische Schwingungen und die Illuminati übernehmen die Weltherrschaft durch das Coronavirus. Wer aber wirklich was draufhat, und das ist immer wieder erstaunlich, ist der Therapeut und seine Behandlung. Und solange das so ist, kann man ihn reden lassen. Vorsicht! Schnell glaubt man selbst den Mist!


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Best Friend

Verwechselt regelmäßig den Therapeuten mit dem besten Freund. Erzählt intimste Details, will aber auch alles über den Behandler erfahren. Denkt, jedes Telefonat wäre ein privates Gespräch, das lang und ausgiebig sein darf. Kontaktiert den Therapeuten zu jedem Problem, ob Umzug, Scheidung oder Kleiderfrage. Will permanent private Treffen, schenkt ungefragt Bücher oder Ähnliches, damit man sich darüber austauschen kann. Im Gegensatz zum Vampir frisst Best Friend keine Energie, sondern Zeit. Wer ihm seine private Nummer gegeben hat, kann nur noch die SIM-Karte wechseln. Er versteht keine Andeutungen, keine Hinweise auf Therapeuten-Stress. Es gibt nur zwei Lösungen: Best Friend hält man aus oder beleidigt ihn deutlich. Dazwischen gibt’s nichts.


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Terminator

Kommt, wenn überhaupt, immer zu spät, ist immer abgehetzt, findet nie einen Parkplatz oder hat in letzter Minute einen wichtigen Anruf bekommen. Geht dafür dann aber früher, weil er oft zwei Termine zum gleichen Zeitpunkt hat. Sagt oft ab, auch das zu spät, und rennt dem Leben pausenlos hinterher. Natürlich auch permanent tonuserhöht, kann nicht ruhig liegen und ist gedanklich immer schon beim nächsten Event. Ist oft total nett und offen, aber leider in mehrfacher Bedeutung nie richtig da, und deshalb ist jede Art von Therapie nur bedingt sinnvoll. Vorteil: Man kann sich die „gewonnenen“ Minuten schon als Bürozeit in der Praxis einplanen. Auf Dauer landet er aber leider im Burnout. Dann hilft nur eine Psychotherapie.


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Pulk-Hulk

Kommt nie allein, sondern immer mit seinem Partner, den Kindern oder dem Hund. Verwechselt den Termin immer mit einem Familienevent, bei dem jeder mitreden darf, bis das Ganze zur Gruppenbehandlung mutiert. Oft gastfreundlich, oft ein wildes Durcheinander, manchmal mit Räucherstäbchen. Oft lebensfroh und hilfsbereit. Pulk-Hulk würde den Behandler gerne adoptieren und in die Familie eingliedern. Therapeuten, die sich allein fühlen, sind dann gut aufgehoben. Für alle anderen empfiehlt sich eine sehr kleine, fensterlose Behandlungskabine ohne Sitzgelegenheiten in der Nähe. Wer aber das Szenario schätzt, kann mit einer Einladung rechnen, oft zu großen Hochzeiten. Als Betriebsausflug auf jeden Fall genial!


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