Nervenheilkunde 2020; 39(10): 678-679
DOI: 10.1055/a-1191-9633
Gesellschaftsnachrichten
Kopfschmerz News der DMKG
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Faziale Migräne

Christian Ziegeler
1   Hamburg
,
Joachim Sproß
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Joachim Sproß
Bundesgeschäftsführer
Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e. V.
Bundesverband
Im Moos 4, 79112 Freiburg
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Publication History

Publication Date:
09 October 2020 (online)

 

*** Lambru G, Elias LA, Yakkaphan P, et al. Migraine presenting as isolated facial pain: A prospective clinical analysis of 58 cases. Cephalalgia 2020; doi: 10.1177/0333102420933277

Das isolierte faziale Auftreten einer Migräne ist selten und betroffene Patienten zeigen demografische und klinische Besonderheiten. Jedoch scheinen sie gut auf die übliche Migränetherapie anzusprechen.

Hintergrund

Schon die Bezeichnung „Kopfschmerz“ impliziert das Auftreten der Schmerzen im Kopf und gerade im Fall der Migräne erscheint die namensgebende halbseitige, fronto-temporale Schmerzlokalisation typisch. Allerdings präsentieren sich die Schmerzen nicht selten auch in „untypischen“ Lokalisationen. Insbesondere rückte in den letzten Jahren vermehrt das Auftreten von Kopfschmerzen im Gesicht (definitionsgemäß unterhalb der Orbitomeatallinie) in den wissenschaftlichen Fokus [1]. Patienten mit solchen, vermeintlich untypischen, episodischen Gesichtsschmerzen stellen für viele Behandler im klinischen Alltag regelmäßig eine Herausforderung dar und berichten nicht selten über lange Zeitintervalle bis zur korrekten Diagnose und Therapie. Das isolierte Auftreten der Migräne im Gesichtsbereich mit ansonsten typischen Migränecharakteristika (orofaziale Migräne) ist in der aktuellen internationalen Gesichtsschmerzklassifikation beschrieben [2].


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Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit charakterisierte Patienten, die sich zwischen 2013 und 2018 in einer spezialisierten universitären Gesichtsschmerzsprechstunde des King’s College in London vorstellten und bei denen eine isolierte faziale Migräne diagnostiziert wurde. Im gesamten Zeitraum stellten sich 3900 Patienten vor, von denen 1248 (32 %) unter primären Kopfschmerzen litten. Mit 94,2 % handelte es sich zum Großteil um Migränepatienten, wovon wiederum 58 (4,9 %) unter isoliertem Gesichtsschmerz litten und in die endgültige Analyse einbezogen wurden. Mit 60,4 % wurden die Patienten vornehmlich von (Fach-)Zahnärzten überwiesen. Sie waren größtenteils weiblich (79,3 %) mit einem mittleren Alter von fast 50 Jahren. Interessanterweise betrug die mittlere Krankheitsdauer nur knapp 5 Jahre, was darauf hindeutet, dass die faziale Migräne später als die „normale“ Migräne auftritt. Jedoch berichteten nur 31 % der Patienten in der Vorgeschichte unter keinerlei Kopfschmerzen gelitten zu haben. Es ist also möglich, dass sich bei einigen Patienten die Klinik im Laufe der Zeit verändert hat.

Die Schmerzen waren bei 79 % der Patienten streng einseitig (immer dieselbe Seite betreffend) und fast immer im 2. trigeminalen Ast (V2) lokalisiert (85 %). Trigeminoautonome Symptome waren mit 45 % recht häufig. Auren wurden nicht berichtet. Die Autoren legten weiterhin ein Augenmerk auf vermeintliche auslösende Faktoren. Immerhin 47 % der Patienten berichteten über zahnärztliche Eingriffe in zeitlichem Zusammenhang zum Auftreten der Schmerzen.

Viele Patienten sprachen gut auf eine probatorische Therapie mit Triptanen an, wenn diese denn eingesetzt wurden (77 %). Weiterhin profitierten bis zu 40 % von einer Reduktion der Akutschmerzmitteleinnahme. Eine prophylaktische Therapie wurde nur von sehr wenigen Patienten begonnen, sodass diesbezüglich keine belastbaren Aussagen möglich sind.


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Kommentar

Die Erkenntnisse dieser Arbeit von Lambru und Kollegen decken sich weitestgehend mit den Daten, die zur fazialen Migräne bekannt und veröffentlicht sind [1]. Es handelt sich bei den Betroffenen vornehmlich um Frauen, wobei auffällig ist, dass diese beim Auftreten der Gesichtsschmerzen älter als andere Migränepatienten sind. Bemerkenswert ist auch, dass die Schmerzen meist streng einseitig auftreten und recht häufig mit trigeminoautonomen Symptomen assoziiert sind. Weiterhin scheinen Auren jeglicher Art bei der fazialen Migräne nur sehr selten aufzutreten. Typischerweise berichten betroffene Patienten in der Vorgeschichte unter einer „normalen“ Migräne mit Kopfschmerzen gelitten zu haben, die im Laufe der Zeit „runter wanderten“. Noch häufiger ist, dass die Schmerzen lediglich vom Kopf ins Gesicht ausstrahlen. Diese Aufteilung in Untertypen, welche auch von der neuen Gesichtsschmerzklassifikation ICOP vorgeschlagen wird [2], wurde in der zugrunde liegenden Arbeit jedoch nicht vorgenommen. Der hohe Anteil an Patienten, die einen vermeintlich auslösenden Faktor (zahnärztliche Eingriffe) angeben, ist diskussionswürdig. Zumindest in der Pathophysiologie der Migräne scheint dies keine wesentliche Rolle zu spielen und es ist durchaus möglich, dass dieses Ergebnis eher das typisch menschliche Suchen nach einer Krankheitsursache widerspiegelt.

Zum Zeitpunkt verbleibt es unklar, ob es sich bei der fazialen Migräne um eine eigenständige Erkrankung handelt. Es bestehen erwähnte demografische und klinische Unterschiede, jedoch deutet einiges darauf hin, dass die gleiche Therapie wie bei der „normalen“ Migräne eingeleitet werden sollte. Belastbare Daten zur Therapie liegen weiterhin nicht vor und auch diese Arbeit ist nicht für diesbezügliche Aussagen ausgelegt. Kritisch anzumerken ist, dass im Titel von einer prospektiven Analyse gesprochen wird, es sich aber eher um eine retrospektive Auswertung von Krankenakten handelt. Eine spezifische Fragestellung wurde beispielsweise nicht preregistriert.

Abschließend bleibt als wichtige Kernaussage dieser Arbeit, dass eine ungewöhnliche Schmerzlokalisation nicht dazu führen sollte eine Migräne auszuschließen. Betroffene Patienten können so früher einer zielgerichteten Therapie zugeführt werden. Außerdem sollten insbesondere Zahnärzte für faziale Präsentationen primärer Gesichtsschmerzen sensibilisiert werden, da diese häufig erste Anlaufstelle für Patienten sind und unnötige interventionelle Therapien unterbleiben sollten.

INFORMATION

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Exzellente Arbeit, die bahnbrechende Neuerungen beinhaltet oder eine ausgezeichnete Übersicht bietet

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Gute experimentelle oder klinische Studie

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Gute Studie mit allerdings etwas geringerem Innovationscharakter

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Studie von geringerem klinischen oder experimentellen Interesse und leichteren methodischen Mängeln

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Studie oder Übersicht mit deutlichen methodischen oder inhaltlichen Mängeln

Die Kopfschmerz-News werden betreut von: Priv.-Doz. Dr. Ruth Ruscheweyh, Klinik und Poliklinik für Neurologie, Klinikum der Universität München, Marchioninistr. 15, 81377 München, Tel. 089/440073907, ruth.ruscheweyh@med.uni-muenchen.de

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