Schlüsselwörter betriebliche Wiedereingliederung - psychische Erkrankungen - qualitative Forschung
Key words return to work - common mental disorders - qualitative research
Einleitung
Psychische Krisen und Erkrankungen sind weit verbreitet und häufig Ursache
vielfältiger Beeinträchtigungen, insbesondere auch im Bereich der
Erwerbsarbeit [1 ]. So bilden sie die
zweithäufigste Ursache von Arbeitsunfähigkeit, gehen mit doppelt so
langen Fehlzeiten wie andere Erkrankungen einher und sind der häufigste
Grund für Erwerbsminderungsrenten [2 ].
Ungeachtet der Belege, dass sich Belastungen am Arbeitsplatz negativ auf das
Wohlbefinden und die psychische Gesundheit Beschäftigter auswirken
können [3 ], ist Erwerbsarbeit aufgrund ihrer
zentralen Bedeutung für Existenzsicherung, Zeitstrukturierung, soziale
Einbindung und Anerkennung sowie persönliche Identität immer auch
eine wichtige psychosoziale Ressource [4 ]. Fallen
Menschen aufgrund einer psychischen Krise oder Erkrankung in längere
Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit oder Erwerbsminderung, kann dies zur
weiteren Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes sowie ihrer gesellschaftlichen
Teilhabe führen.
Psychische Erkrankungen sind mit ihren Auswirkungen auf die Arbeits- und
Erwerbsfähigkeit und den damit verbundenen hohen Krankheitskosten auch in
volks- wie betriebswirtschaftlicher Hinsicht von besonderer Relevanz [5 ]. Neben den Institutionen des Gesundheits- und
Sozialversicherungssystems haben daher insbesondere auch Betriebe ein Interesse am
Erhalt der psychischen Gesundheit ihrer Beschäftigten.
Um bestehende Defizite in der Regelversorgung (wie z. B. die
verspätete Einleitung psychosomatischer Rehabilitation sowie die fehlende
Abstimmung zwischen den an Behandlung und Wiedereingliederung beteiligten Akteuren)
zu überwinden und betroffene Beschäftigte zeitnah und
bedarfsorientiert versorgen zu können, wurden v. a. in der jüngeren
Vergangenheit seitens einzelner Betriebe, psychosozialer Anlauf- und
Beratungsstellen, medizinisch-therapeutischer Einrichtungen und teilweise auch
Leistungsträger (Krankenkassen, Rentenversicherungsträger)
spezielle, zumeist lokal oder regional verortete, Versorgungsnetzwerke
und/oder Beratungsangebote mit besonderem Arbeitsplatzbezug entwickelt [6 ].
Aus internationalen Studien liegen erste Befunde vor, dass solche stärker
vernetzten und arbeitsplatzbezogenen Angebote für Menschen mit psychischen
Krisen und Erkrankungen nicht nur im Hinblick auf gesundheits-, sondern auch
bezüglich arbeitsbezogener Zielgrößen besonders
vielversprechend sind. So beschleunigen sie den Prozess des Return to Work (RTW) und
sichern nachhaltig die berufliche Teilhabe [7 ]
[8 ]
[9 ]
[10 ]
[11 ].
Trotz dieser Befunde bleibt die Umsetzung in Deutschland bisher auf wenige
Modellprojekte begrenzt. Aufgrund fehlender wissenschaftlicher Untersuchungen liegen
zu den bestehenden Netzwerken und Angeboten zudem nur wenig empirisch gewonnene
Erkenntnisse vor [6 ]
[12 ]
[13 ].
Die vorliegende von der Hans-Böckler-Stiftung im Rahmen des
Forschungsverbundes „Neue Allianzen zum Erhalt der
Beschäftigungsfähigkeit“ (Projekt-Nr.: 2016-980-4)
geförderte Studie „Rückkehr zur Arbeit nach einer
psychischen Krise – Vernetzung von betrieblichen und klinischen Akteuren im
Return to Work-Prozess“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und
Arbeitsmedizin (BAuA) setzt hier an und nimmt eine Auswahl der in den letzten Jahren
bundesweit modellhaft entstandenen Versorgungsnetzwerke und -angebote aus Sicht
Betroffener sowie aus der Perspektive der an ihnen beteiligten
(über-)betrieblichen Akteure vertiefend in den Blick [14 ].
Die Identifikation von Angeboten erfolgte auf Basis einer Internetrecherche und die
Auswahl folgte dem Anliegen, 4 bis 5 in ihrer Art und ihren Inhalten
möglichst heterogene und kontrastive Angebote für die Studie zu
berücksichtigen. Die beteiligten überbetrieblichen Einrichtungen
sollten zudem unterschiedlichen Versorgungszweigen und -formen angehören
(Anlauf- und Beratungsstellen, akutpsychiatrische und psychotherapeutische
Einrichtungen, Reha-Einrichtungen, ambulante, teilstationäre und
stationäre Einrichtungen) und die beteiligten Betriebe in Branche und
Größe variieren. Die Anzahl von 4 bis 5 Angeboten wurde unter dem
Gesichtspunkt der Machbarkeit (zu bewältigende Datenmenge für die
zeitlich begrenzte qualitative Studie) sowie der Annahme gewählt, dass damit
zugleich die angestrebte Varianz zwischen den Angeboten und mit dieser ein guter
Grad der theoretischen Sättigung von Daten und Ergebnissen erreicht werden
kann.
Ziel war es, die ausgewählten Versorgungsangebote mit ihren jeweiligen
Vernetzungsformen und (Be-)Handlungsansätzen zu beschreiben,
Gelingensbedingungen sowie Stärken und Grenzen zu identifizieren sowie auf
dieser Basis Hinweise zur (Weiter-)Entwicklung solcher RTW-Strategien
abzuleiten.
Material und Methoden
Um die ausgewählten Versorgungsangebote im Hinblick auf die oben genannte
Zielstellung vertiefend untersuchen zu können, wurde ein qualitatives
Studiendesign gewählt, mit dem sowohl die expliziten (d. h.
reflexiv-verfügbaren) als auch die impliziten (d. h.
vorbewusst-atheoretischen) Erfahrungs- und Wissensbestände der involvierten
(über-)betrieblichen Akteure sowie Betroffenen erhoben und rekonstruiert
werden konnten.
Während explizite Erfahrungs- und Wissensbestände direkt erfragt bzw.
unmittelbar aus manifesten Gesprächsinhalten (dem ‚WAS‘
gesagt wird) abgeleitet werden können, müssen implizite Erfahrungs-
und Wissensbestände mittels selbstläufiger (d.h. mit nur wenig
äußerem Zutun des Forschenden sich entwickelnde) Narrationen oder
Diskurse erhoben und anschließend systematisch aus dem ‚WIE‘
des Erzählten rekonstruiert werden [15 ]
[16 ]
[17 ]
[18 ]. Zur Erhebung beider Erfahrungs- und
Wissensbestände wurden Gruppendiskussionen und Telefoninterviews eingesetzt,
die durch erzählgenerierende Fragen eröffnet, durch immanente (an
bereits Gesagtes anknüpfende) Nachfragen am Laufen gehalten sowie durch
exmanente (vom Erkenntnisinteresse geleitete) Zusatzfragen ergänzt wurden.
Als Auswertungsmethoden kamen die dokumentarische Methode der Interpretation [15 ]
[16 ]
[17 ]
[18 ] sowie ergänzend ein
qualitativ-inhaltsanalytisches Verfahren [19 ]
[20 ] zum Einsatz. Grundlage aller Analysen bildeten
die pseudonymisierten Transkripte der von den Gruppendiskussionen und
Telefoninterviews angefertigten Audioaufzeichnungen.
Realisiertes Sample
[Tab. 1 ] gibt einen Überblick
über die für die Studie ausgewählten Angebote. Wie der
Tabelle entnommen werden kann, konnte die zur Maximierung der Varianz,
Kontrastivität und theoretischen Sättigung angestrebte
Heterogenität sowohl im Hinblick auf die Art und die Inhalte der
Angebote als auch in Bezug auf die beteiligten überbetrieblichen
Einrichtungen erreicht werden. So finden sich unter den Angeboten
psychosomatische Sprechstunden, berufsorientierte Therapieangebote,
Reha-Netzwerke, Beratung zum Return to Work (RTW) und Betrieblichen
Eingliederungsmanagement (BEM) sowie Berufscoachingansätze, die von
psychosozialen Anlauf- und Beratungsstellen, psychotherapeutischen und
psychiatrischen Ambulanzen und Kliniken sowie von Reha-Zentren vorgehalten und
durchgeführt werden. Auf Seite der Betriebe konnten zwar Unternehmen
unterschiedlicher Branchen für die Studie gewonnen werden, jedoch ist es
nicht gelungen, neben großen und einem mittelständischen auch
kleine Unternehmen (die von 2 der untersuchten Angebote durchaus Gebrauch machen
bzw. mit denen Kooperationen zu den aufgeführten
medizinisch-therapeutischen Einrichtungen bestehen) zur aktiven Teilnahme an der
Studie zu bewegen.
Tab. 1 Untersuchte Versorgungsnetzwerke und -angebote (vgl.
[14 ]).
Zif.
Beteiligte
Angebot
Kurzbeschreibung
1
Großunternehmen (Stahlindustrie), Einrichtung der
psychotherapeutischen Versorgung, Krankenkasse
Psychosomatische Sprechstunde
Frühzeitige Identifikation und Zuweisung betroffener
Mitarbeiter durch Betriebsärzte/Fallmanager
der Krankenkasse; Sprechstunde: psychologische Diagnostik,
Krisenintervention, Vermittlung in die Regelversorgung
(Psychotherapie, akutpsychiatrische Behandlung,
psychosomatische Reha)
2
Großunternehmen (Logistik), Reha-Einrichtung,
Krankenkasse
Betriebsärztlich eingeleitete medizinisch-beruflich
orientierte psychosomatische Reha (MBO-PS-Reha)
Frühzeitige Identifikation betroffener Mitarbeiter
durch Betriebsärzte, Sozialberatung,
BEM-Beauftragte; Einleitung der MBO-PS-Reha durch
Betriebsärzte (gutachterliche Stellungnahme,
Terminierung); Betriebsärzte erhalten kurzen
Entlassungsbericht per Fax als Grundlage für das
BEM
3
Mittelständische u. Großunternehmen versch.
Branchen (davon an der Studie beteiligt:
Großunternehmen der Konsumgüterproduktion),
Einrichtung der psychiatrischen, psychotherapeutischen und
psychosomatischen Versorgung, versch. Krankenkassen
Psychosomatische Sprechstunde, berufsorientierte ambulante,
teil-stationäre u. stationäre
Therapie-angebote, Return to Work (RTW)- Beratung nach
akutpsychiatrischer Behandlung
Frühzeitige Identifikation und Zuweisung betroffener
Mitarbeiter durch Betriebsärzte, Sozialberatung,
Human Resources, BEM-Beauftragte; Sprechstunde:
psychologische Diagnostik, Krisenintervention, Vermittlung
in die Regelversorgung (Psychotherapie, akutpsychiatrische
Behandlung, psychosomatische Reha); RTW-Beratung für
arbeitsunfähig aus der akutpsychiatrischen
Behandlung entlassene Patienten
4
Kleinst-, Klein- u. mittelständische Unternehmen
versch. Branchen (keine Beteiligung an der Studie),
Einrichtung für Prävention u.
Rehabilitation, regionaler
Rentenversicherungsträger
Berufscoaching nach medizinisch-beruflich orientierter
psychosoma-tischer Reha (MBO-PS-Reha)
Berufscoaching nach einer MBO-PS-Reha für Patienten
mit weitergehendem Unterstützungsbedarf im Hinblick
auf die Wiedereingliederung
5
Regional ansässige Unternehmen versch.
Größen u. Branchen (davon an der Studie
beteiligt: ein Großunternehmen der Pharmaindustrie
und ein mittelständischer Interessensverband aus dem
Gesundheitswesen), 3 Psychosoziale
Anlauf-/Beratungs-stellen, versch.
Sozialversicherungsträger
Psychosoziale Beratung, Krisen-intervention, Vermittlung in
die Regelversorgung, Berufs- und BEM-Beratung u.
Begleitung
Psychosoziale Beratung, Krisenintervention, Vermittlung in
Regelversorgung (Psychotherapie, akutpsychiatrische
Behandlung, psychosomatische Reha), Berufs- und BEM-Beratung
und Begleitung [Bei einer der Anlauf- und Beratungsstellen
ist das Angebot der Berufs-/BEM-Beratung und
Begleitung bei Beschäftigten mit Schwerbehinderung
oder Gleichstellung bereits Teil der Regelversorgung.
Weitere Personengruppen partizipieren bislang nur im Falle
einer arbeitgeberseitigen Finanzierung].
Nach Auswahl der Angebote erfolgte die Terminierung der Gruppendiskussionen und
Telefoninterviews, die Festlegung der konkreten Teilnehmenden auf Betriebs- und
Einrichtungsseite (Vorgabe war, dass möglichst alle für das
jeweilige Angebot relevanten betrieblichen Akteure bzw. Professionen teilnehmen;
die Ansprache und Benennung der Teilnehmenden oblag dann aber den Betrieben bzw.
Einrichtungen selbst) sowie die Information und Rekrutierung der Betroffenen
(hier erfolgte die Ansprache über die Einrichtungsseite bzw. in
Einzelfällen auch über die Betriebsärzte). Der
Einschluss in die Studie erfolgte ausschließlich nach
ausführlicher schriftlicher und mündlicher Information sowie bei
Vorliegen der schriftlichen Einwilligungserklärung.
Im Zeitraum von Juni 2017 bis Mai 2018 wurden 11 Gruppendiskussionen und 17
Telefoninterviews mit insgesamt 44 betrieblichen und überbetrieblichen
Akteuren sowie 27 Betroffenen durchgeführt (vgl. Tab. 2 sowie
Tab. 3 (beide online) ). Die Auswertungen erfolgten im Zeitraum von
Oktober 2017 bis Dezember 2018 – bei den Gruppendiskussionen mittels
dokumentarischer Methode [15 ]
[16 ]
[17 ]
[18 ], bei den Telefoninterviews qualitativ
inhaltsanalytisch [19 ]
[20 ]. Den Analysen lagen 969 Transkriptseiten von
2148 min Gesprächsaufzeichnungen zugrunde.
Datenschutz und Ethik
Zu Beginn der Studie wurden ein ausführliches Datenschutzkonzept sowie
ein Ethikantrag erstellt. Ersteres wurde durch die Datenschutzbeauftragte der
BAuA, letzterer durch die Ethikkommission der Medizinischen Hochschule Hannover
geprüft und positiv beschieden (Votum-Nr. 7490). Die Datenerhebung
erfolgte erst nach Eingang der positiven Voten.
Ergebnisse
Vernetzungsformen und (Be-)Handlungsansätze
In der Analyse zeigte sich, dass die Vernetzung zwischen betrieblichem und
medizinisch-therapeutischem System im konkreten Einzelfall bei keinem der
Angebote direkt, also über den unmittelbaren Kontakt beider
Akteursgruppen, sondern immer indirekt, entweder vermittelt über den
Betroffenen oder über einen externen Dritten (beratend tätigen,
vom Arbeitgeber oder einem Leistungsträger beauftragten, Akteur),
erfolgt ([Abb. 1 ]).
Abb. 1 Vernetzungsformen.
Den beiden Vernetzungsformen (indirekte Vernetzung über den Betroffenen
vs. indirekte Vernetzung über einen externen Dritten) ließen
sich zudem 2 unterschiedliche (Be-)Handlungsansätze zuordnen: ein
psychotherapeutisch orientierter individuumsbezogener Selbstmanagementansatz
(indirekte Vernetzung über den Betroffenen) und ein sozialarbeiterisch
orientierter systemischer Fallmanagementansatz (indirekte Vernetzung
über den externen Dritten).
Während der Arbeitsplatzbezug im individuumsbezogenen
Selbstmanagementansatz im Wesentlichen dadurch hergestellt wird, dass die Arbeit
als Thema und die betriebliche Wiedereingliederung als Ziel in die Intervention
hinein geholt werden, findet die Intervention im systemischen
Fallmanagementansatz unmittelbar, also direkt am Arbeitsplatz unter Einbezug
relevanter betrieblicher Akteure statt. Entsprechend liegt der Fokus des ersten
Ansatzes auf der individuellen, der des zweiten zusätzlich auf der
betrieblichen (An-)Passung. Dies spiegelt sich auch in den
(be-)handlungsleitenden Fragen der beiden Ansätze wider. So fragt der
individuumsbezogene Ansatz danach, was der Betroffene tun muss, um an seinen
Arbeitsplatz zurückkehren zu können (Änderung
individueller Haltungen, Einstellungen und Verhaltensweisen; Bearbeitung
privater Probleme; Stärkung von Selbstsorge und
Selbstmanagementkompetenz), der systemische Ansatz zusätzlich, was
hierfür am Arbeitsplatz getan werden kann (Änderung von
Arbeitsanforderungen und -bedingungen; Klärung von Konflikten/Gestaltung
von Arbeitsbeziehungen).
Die folgenden Zitate veranschaulichen die Spezifika und Unterschiede beider
Ansätze.
Zitate von (über-)betrieblichen Akteuren aus Angeboten mit
individuumsbezogenem Selbstmanagementansatz:
„Also ich bin immer etwas berüchtigt mit der Frage: ‚Wie
können Sie sich verändern, dass Sie unter der gegebenen
Organisation weniger leiden? […] Was kann ich dafür tun, mit
meinem Verhalten, mit meinen Strategien, dass das zwischen mir und meinem
Arbeitsplatz später gesund harmoniert? Und da hab ja ich die beste
Kontrolle über mein eigenes Verhalten‘“.
„[Es geht darum] die Selbstfürsorge, Abgrenzungsfähigkeit
zu stärken; da muss was im Kopf der Menschen passieren, die die
Krankheit haben“.
„[…] dass systematisch der Arbeitsplatz fokussiert wird, welche
Ziele bezogen auf Arbeit sollen verfolgt werden und welche Fertigkeiten und
Fähigkeiten muss die Person haben, um am Arbeitsplatz zu bleiben oder
wiedereingegliedert zu werden. Und Interventionen am Arbeitsplatz werden
mittelbar durchgeführt, in Form von kleineren Rollenspielen oder
Hilfestellungen, der Therapeut den Patienten entsprechend instruiert, indem neue
Gedanken eingeübt werden und der Patient durch gecoacht
wird“.
Zitate von (über-)betrieblichen Akteuren aus Angeboten mit systemischem
Fallmanagementansatz:
„[…] also ist für mich immer die generelle Frage: was
braucht [die betroffene Person] um gut arbeiten zu können? […]
Wir versuchen Lösungen zu finden und müssen natürlich
auch sehen, was ist im Betrieb möglich. […] Da muss man sich
erst mal Stück für Stück an die Vorgesetzten und
BEM-Beauftragten ranrobben: ‚Wir bieten was an, das ist nicht
destruktiv, sondern hilft Lösungen zu finden‘. […] Und
dieses Begleiten in die Betriebe […], das ist was der Facharzt oder auch
der Psychotherapeut häufig überhaupt nicht leisten
können“.
„[…] dass man so die Funktion des Dritten hat, der dazu kommt und
die Dinge erst mal auch transparent macht […] die Konfliktpunkte und die
Möglichkeiten […] Und da ist unsere Erfahrung, dass sich solche
Knotenpunkte dann auch lösen lassen, weil plötzlich hingeschaut
werden kann“.
Einflussfaktoren auf Vernetzungsformen und
(Be-)Handlungsansätze
Die Analyse zeigte ferner, dass die beiden identifizierten Ansätze durch
bestimmte Einflussfaktoren in ihrer jeweiligen Charakteristik geprägt
werden. Neben Faktoren, die den (Be-)Handlungsauftrag (das ‚Sollen und
Dürfen‘), die (Be-) Handlungsbereitschaft (das
‚Wollen‘) und die (Be-)Handlungsmacht (das
‚Können‘) der (über-)betrieblichen Akteure
bestimmen (wie z. B. der (leistungs-)rechtliche Rahmen und daraus
erwachsene Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, eigene Interessen
und Ziele sowie vorhandene Kompetenzen und Ressourcen), wirken sich insbesondere
die (be-)handlungsleitenden Orientierungsrahmen beider Akteursgruppen auf
Vernetzungsform und (Be-)Handlungsansatz aus. Von besonderer Relevanz zeigten
sich folgende drei Orientierungsrahmen ([Tab.
4 ]): 1. Krankheitstheorien (Bedeutung arbeits- und personenbezogener
Risikofaktoren sowie privater Belastungen), 2. Annahmen über die
Veränderbarkeit arbeitsbezogener Risikofaktoren und 3. Annahmen mit
Blick auf Betroffene (Betroffenenbilder).
Tab. 4 (Be-)Handlungsleitende Orientierungsrahmen
betrieblicher und überbetrieblicher Akteure (vgl. [14 ]).
Individuumsbezogener Selbstmanagementansatz
Systemischer Fallmanagementansatz
Krankheitstheorien
Personenbezogene Risikofaktoren (insb.
ungünstige arbeitsbezogene Erlebens- und
Verhaltensweisen) sowie private Belastungen und
Konflikte als primäre Ursachen psychischer
Krisen und Erkrankungen
Arbeitsbezogene Risikofaktoren und Probleme als
hinzukommende (sekundäre, allein nicht
hinreichende) Belastungsfaktoren: ‚Arbeit an
sich macht nicht krank‘
Zitate: „[…] oft ist es gar nicht die
Arbeit an sich, da regt man sich zwar auf oder das nimmt man
auch gerne als Ausrede, aber im privaten Bereich, da sind
dann schon ganz viele Dinge erkennbar“.
„Der Veränderungsprozess [im Unternehmen]
ist unheimlich schwer für die [langjährigen
älteren Mitarbeiter] zu akzeptieren. Das ist glaub
ich der größte Faktor, der momentan an der
Basis da uns die Erkrankung schafft. Und vieles wird dann,
was zu Hause auch noch passiert, mit reingebracht, und
natürlich der erste Ableiter für so was ist
nämlich dann der Arbeitgeber, ne? Der ist dann
dafür verantwortlich, aber eigentlich der Ursprung
oder der Keim ist ganz woanders gelegt worden“.
Zitate: „Und das ist so klar, dass diese
Arbeitsintensität ein Faktor ist, ein Risikofaktor
für Depressionen. Und das muss man dann auch
benennen, das müssen wir
ändern“. „[…] egal,
ob diejenige gesund ist oder nicht, also es ist ein
grundsätzliches Problem der mangelnden
Wertschätzung“. „Wir haben
immer mehr Fälle von psychischen Erkrankungen und es
geht nicht darum den Arbeitnehmer fit zu machen. Klar
müssen wir Kompetenzen schulen, aber wir
müssen uns überlegen: ‚Ist das noch
menschliche Arbeit?‘ Und da ist der Knackpunkt, wir
haben eine Grenze erreicht, wir funktionieren als Menschen
nicht so, nicht mit dieser Arbeitswelt. Die Passung stimmt
nicht mehr; der Mensch ist begrenzt, er muss ein anderes
Arbeitsumfeld haben“.
(Un-)Veränderbarkeit arbeitsbezogener
Risikofaktoren
Arbeitsbedingungen als unveränderbare
Strukturen
Arbeitgeber sind diesen Bedingungen selbst auch
unterworfen
Veränderungen nur langfristig durch Politik
und Wirtschaft möglich
Medizinisch-therapeutische Akteure können
hier nichts tun, haben diesbezüglich keine
Handlungsmacht
Zitate: „Man kann ja auch keine Arbeitswelt,
Strukturen schaffen, die die es hier nicht gibt. An
bestimmte Arbeitsplätze sind bestimmte Anforderungen
verbunden, und die sind jetzt nicht alle weg,
ne?“
„Wir haben nicht ein Job, wo man sagen kann jetzt
brauchst du nur achtzig Prozent hier leisten. ja?
[…] Also als [Berufsgruppe] ist man hundert Prozent
einsatzfähig oder nicht einsatzfähig. es
gibt kein bisschen einsatzfähig“.
„Wir müssen mit diesen schwierigen
Rahmenbedingungen ja auch arbeiten […], die sind
Teil dieser ganzen gesellschaftlichen Position. Also wir
sind nicht diejenigen, ne? Auch wir sehen natürlich
die Schwierigkeiten und würden uns auch
wünschen, dass das zurückgemeldet wird an
entsprechende Stellen“.
„Die Bedingungen können wir nicht
therapieren. […] Politisch muss man das angehen;
aber das sollte man nicht über den Patienten tun
[…] das wär eine Überforderung
für den Patienten, also der braucht ja jetzt in der
Situation Hilfe“.
Arbeitsbedingungen als (prinzipiell)
veränderbare betriebsspezifische und
individuelle Anforderungen
Veränderungen sind möglich, setzen
aber die Bereitschaft aller Beteiligten und ggf.
Unterstützung bei der Umsetzung voraus
Überbetriebliche Akteure können hier
motivieren, informieren und beratend zur Seite
stehen
Zitat: „Ja es gibt die
äußeren Schranken, an denen wir erst mal
nichts rütteln können, aber innerhalb gibt
es dann doch nochmal, gerade wenn ein geschulter Fachmann
dabei sitzt, der eine gewisse Kreativität, gewisses
Wissen und einen objektiven Blick mitbringt, dann doch
nochmal helfen kann, die Stellschrauben zu
drehen“.
Bilder von Betroffenen
Betroffene als
‚Brenner/Ausbrenner‘:
geraten aufgrund ihrer zu geringen Abgrenzungs- und
Distanzierungsfähigkeit, zu hohen
Verausgabungsbereitschaft, ihres
überhöhten Perfektionsstrebens und
ihrer mangelnden Selbstfürsorge in eine
zunehmende Belastungs- und
Erschöpfungssituation, die
schließlich in ein Burn Out bzw. eine
Erschöpfungsdepression mündet
Zitat: „Es werden immer mehr jüngere
Mitarbeiter krank. Die legen sich selber Arbeitspensen auf
durch eigenen Ehrgeiz, Perfektionismus, oder Erwartungen
[…], wo auch der Mitarbeiter gefragt ist. Wir reden
immer über die Führungskraft. Also jeder
Mensch hat auch eine Mitwirkpflicht “.
Betroffene als
‚Gekränkte/Verbitterte‘:
geraten aufgrund eines subjektiv erlebten Defizits
an Anerkennung und Wertschätzung seitens
Kollegen, Vorgesetzten und/oder des
Arbeitsgebers und einer daraus resultierenden
Kränkung in eine
Verbitterungsstörung; sie externalisieren
die Ursachen ihrer Erkrankung, weisen ihren
Kollegen, Vorgesetzten und/oder
Arbeitsgebern die Schuld/Verantwortung
für ihre Erkrankung zu und erwarten
Wiedergutmachung; kann in einen Rentenwunsch
münden (‚Betroffene als
Rentenbegehrer‘)
Zitate: „In den Gesprächen stell ich
schon oft fest; es gibt irgendwann mal eine tiefe
Kränkung; keine Anerkennung mehr für die
Leistung […]. Dann kommt reaktiv ein
Verbitterungssyndrom […]. [Das sind dann die,] die
den Betriebsfrieden mit diesem […] ‚Der hat
mich krank gemacht.‘, dieser Unerbittlichkeit
‚Das steht mir zu.‘ zerstören
[…], die Arbeit häufig als
ausschließlich ursächlich für ihre
Erkrankung sehen und sagen ‚Dorthin kann ich nicht
zurück; ich brauch nur noch Rente‘,
ne?“, „Wir müssen da auch hinsehen,
dass ein nicht unerheblicher Anteil mit dem festen Vorsatz
kommt einer Freistellung […]. Wo Geld verteilt wird,
gibt es immer ein Begehren, was nicht immer gerechtfertigt
ist. Und wenn das so ist; liegt ein so manifester
Zielkonflikt vor; dass Psychotherapie eigentlich gar keine
Indikation ist, streng genommen“.
Betroffene als ‚Seismographen betrieblicher
Schieflagen‘: nehmen betriebliche
Schieflagen aufgrund einer besonderen
‚Sensibilität‘ eher wahr,
erkranken aber auch eher an ihnen
(‚besondere
Vulnerabilität‘); liefern wichtige
Hinweise über bestehende psychische
Belastungen und Beanspruchungen im Betrieb, die
für die präventive
gesundheitsförderliche und menschgerechte
Gestaltung der Arbeit gezielt genutzt werden
könnten
Zitate: „Menschen mit einer höheren
psychischen Sensibilität haben ja auch einne
besondere Rolle und Funktion in diesen Strukturen. Die sind
diejenigen; die am ehesten auch was wahrnehmen […].
Sie sind eigentlich so Seismographen; die kippen als erstes
um. […] weil sie sich Gedanken machen; andere sind
stärker in der Lage sich abzugrenzen. Die lassen
sich nicht so sehr davon berühren“.
„Ja, ja das ist ganz spannend, weil es ist ja oft so
eine Denkweise, der Einzelne hat das Problem, aber er steht
nur als Symbolfigur eigentlich“.
Krankheitstheorien, Orientierungsrahmen und Handlungsstrategien der
Betroffenen
Wie in [Tab. 5 ] dargestellt, beschreiben die
Betroffenen ihre Erkrankungen als Folge der Wechselwirkung und Aufschichtung
vielfältiger Faktoren: personenbezogener Risikofaktoren (z. B.
hohes Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein, starker Perfektionismus), privater
Probleme und biographischer Ereignisse (z. B. schlechten
Kindheitserfahrungen oder Trennungen) sowie arbeitsbezogener Belastungen und
Konflikte (z. B. hoher Arbeitsmenge, Konflikte mit Vorgesetzten, Mobbing
durch Kollegen).
Tab. 5 Krankheitsursachen aus Betroffenensicht.
Psychische Erkrankung als Folge der Wechselwirkung und
Aufschichtung von:
personenbezogenen Risikofaktoren
privaten Problemen und biografischen Risikofaktoren
arbeitsbezogenen Risikofaktoren
Hohes Pflicht- und/oder
Verantwortungs-bewusstsein; hohe
Leistungsorientierung
Hohe Identifikation mit dem Job; hohe
Verausgabungsbereitschaft
Geringe
Abgrenzungs-/Distanzierungsfähigkeit
(nicht abschalten können, nicht nein sagen
können)
Perfektionismus; hoher Ehrgeiz
Sich beweisen wollen
Angewiesenheit auf externe Bestätigung
Angst vor Zurückweisung, von allen gemocht,
es allen recht machen wollen…
Durchhalteverhalten
Versagensängste, keine Schwäche
zeigen wollen
Trennung/Scheidung
Schulden
Konflikte in der Familie
Erkrankungen/Todesfälle in der
Familie
Schlechte/traumatisierende Erfahrungen in
Kindheit/Jugend (Vernachlässigung,
Gewalt, Sucht, Missbrauch)
Hohe Arbeitsintensität/-dichte, hohes
Arbeitsvolumen
Überschreitung von Arbeitszeiten,
Überstunden, keine geregelten Pausen,
Entgrenzung (Erreich-/Verfügbarkeit
auch zu Hause/am Wochenende)
Geringer Personalschlüssel
Zeit-/Leistungs-/Erfolgsdruck
Hohe Verantwortung bei geringer Qualifikation
Geringer Handlungsspielraum bei hohem
Kontrollgrad
Arbeitsplatzunsicherheit
Geringe/keine Anerkennung und
Wertschätzung
Abwertung, Schikanen, Mobbing
Konflikte mit Kollegen und/oder
Vorgesetzten
Führungsstil
Tab. 6 Stärken und Grenzen der Vernetzungsformen und
(Be-)Handlungsansätze.
Indirekte Vernetzung über die Betroffenen
Individuumsbezogener Selbstmanagementansatz
Indirekte Vernetzung über einen externen Dritten
Systemischer Fallmanagementansatz
Stärken
Expliziter Arbeitsbezug der
medizinisch-therapeutischen Intervention
Betroffener bleibt Herr/Frau des Verfahrens
(Stärkung Selbstsorge und im Erfolgsfall der
Selbstwirksamkeit); Unabhängigkeit von
Rahmenbedingungen
Koordination und Begleitung des gesamten
RTW-Prozesses
Ansprechpartner für Betroffene und Akteure
beider Systeme; Modell insb. auch für
KMU
Haltung: ‚Parteiische
Neutralität‘/‘Allseitigkeit‘;
Beobachterposition (sieht blinde Flecken)
Kombination individuums- und arbeitsplatzbezogener
Maßnahmen/beidseitige
(An-)Passung
Nachhaltigkeit (individuell/betrieblich)
Grenzen
Kooperation zwischen medizinisch-therapeutischem und
betrieblichem System beschränkt sich auf den
Zugang
Informationsverluste im weiteren RTW-Verlauf
Einseitiger Fokus auf individueller (An-)Passung
Individualisierung der Erkrankung, ihrer Ursachen und
der erfolgreichen Bewältigung
Auslagerung des ‚Problems‘ und seiner
Behandlung aus dem Betrieb
Beiderseitige (An-)Passung wird in Verantwortung des
Betroffenen gelegt; dieser ist dabei
abhängig von der Responsivität des
Arbeitgebers
Risiko der Überforderung des Betroffenen
Misserfolg ggf. als persönliches Versagen
erlebt
Mangelnde Nachhaltigkeit
(individuell/betrieblich)
Risiko, dass durch den externen Dritten den
Betroffenen die Eigenverantwortung genommen wird und
Arbeitgeber ihre Verantwortung abgeben (Gefahr der
Externalisierung)
Aufbau von Parallelstrukturen (externer Dritter als
zusätzlicher Akteur zu
medizinisch-therapeutischen und betrieblichen
Akteuren); Risiko zur Verantwortungsdiffusion
Begrenzte Handlungsmacht des externen Dritten
(abhängig von Akzeptanz und Mitwirken der
Arbeitgeber); ggf. auch begrenztes Handlungswissen
(hinsichtl. betrieblicher Strukturen, Prozesse,
Kulturen)
i.d.R. kein expliziter Arbeitsbezug der
Regelversorgung
Ggf. nur bei komplexen Bedarfslagen effizient
Aus den Erzählungen der Betroffenen wird deutlich, dass die verschiedenen
Faktoren – je nach (Be-)Handlungsansatz – unterschiedlich
bearbeitet werden. So erzählen Betroffene aus individuumsbezogenen
Ansätzen v. a. von der Reflexion personenbezogener
Risikofaktoren, privater Belastungen und biografischer Ereignisse sowie dem
Erlernen entsprechender Bewältigungsstrategien. Betroffene, die einen
systemischen Ansatz erlebt haben, berichten ergänzend dazu auch von der
gezielten Identifikation arbeitsbezogener Risikofaktoren und deren professionell
begleiteter Anpassung.
Die unterschiedliche Bearbeitung der Risikofaktoren in den beiden
(Be-)Handlungsansätzen scheint dazu zu führen, dass die
Betroffenen im Rahmen ihrer Therapie die dort jeweils vorherrschenden
Orientierungsrahmen übernehmen und entsprechende Handlungsstrategien
für sich ableiten. So gewinnen bei Betroffenen aus individuumsbezogenen
(Be-)Handlungsansätzen personenbezogene Faktoren sowie private und
biografische Belastungen in ihren Krankheitstheorien an Bedeutung, werden
arbeitsbezogene Risikofaktoren stärker als unveränderbar
wahrgenommen und die erfolgreiche Rückkehr an den Arbeitsplatz v. a. an
die eigene Person und die individuellen Anpassungsbemühungen gebunden:
„Ich bin ja derjenige, der es bestimmt. Wenn ich mich nicht
verändere, kann mir auch keiner helfen“.
Bei Betroffenen aus systemischen (Be-)Handlungsansätzen bleiben die
Krankheitstheorien komplexer – private, biografische, personen- und
arbeitsbezogene Risikofaktoren gelten als gleichermaßen bedeutsam. Die
Wiedereingliederung kann aus ihrer Perspektive daher nur gelingen, wenn alle
Faktoren bearbeitet werden und ein neues Gleichgewicht über individuelle
und betriebliche (An-)Passung hergestellt werden kann: „Ohne die
Bereitschaft der Beteiligten, das zu einem guten Verlauf und Ende zu bringen,
kann so was gar nicht funktionieren. […] Also es ist so ein
Gesamtkonzept für mich gewesen. Ein privates Umfeld, was das
mitträgt, dann die Frau A. [vom Integrationsfachdienst], die
Schwerbehindertenbeauftragte, und eben auch der Arbeitgeber, der versucht hat:
‚Was machen wir jetzt damit?‘ […] Und dann eben auch:
‚Suchen Sie sich eine Psychotherapeutin – okay, hab ich; und
auch noch eine Reha – ja, gut.‘ […] In der Zeit, wo ich
in der Reha war, hat der Personalchef geguckt, wo sie mich jetzt am besten
unterbringen. […] wo der Arbeitgeber auch Verantwortung wahrgenommen
hat, das fand ich toll. Also das ist ein Puzzle von allem gewesen“.
Diskussion
Stärken und Grenzen der Vernetzungsformen und
(Be-)Handlungsansätze
Den untersuchten Angeboten ist gemein, dass sie durch die Vernetzung des
betrieblichen und medizinisch-therapeutischen Systems sowie eines
verstärkten Arbeitsbezugs ihrer Interventionen bestehende Defizite in
der Regelversorgung psychisch erkrankter Beschäftigter
überwinden, Betroffene häufig frühzeitiger erreichen und
sie gezielter auf die betriebliche Wiedereingliederung vorbereiten
können.
Die beiden identifizierten Vernetzungsformen und (Be-)Handlungsansätze
besitzen dabei ganz spezifische Stärken, weisen aber auch Begrenzungen
auf.
Die größte Stärke des individuumsbezogenen Ansatzes liegt
in der Stärkung von Selbstsorge und Selbstmitgefühl, durch die
die Betroffenen wieder Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit und
Ich-Stärke zurückgewinnen können. Überwinden die
Betroffenen ihre Krise und kehren erfolgreich zurück ins Arbeitsleben,
so erleben sie dies als Ergebnis ihrer eigenen Anstrengungen. Misserfolg kann
andererseits als persönliches Versagen erlebt werden, da die
Wiedereingliederung als ein Prozess der individuellen (An-)Passung verstanden
wird. So besteht die größte Begrenzung des individuumsbezogenen
Ansatzes denn auch in der Gefahr der Individualisierung der Erkrankung, ihrer
Ursachen und erfolgreichen Bewältigung. Diese Gefahr besteht
insbesondere dann, wenn kein funktionierendes BEM und/oder
engagierte betriebliche Schlüsselakteure (Betriebsärzte,
Schwerbehindertenvertretungen, Führungskräfte o.a.) vorhanden
sind. In solchen Fällen kann es zu einer Auslagerung des
‚Problems‘ und seiner Behandlung kommen: Betroffene werden
möglichst schnell identifiziert und an die kooperierenden
medizinisch-therapeutischen Einrichtungen verwiesen, in denen sie durch rein
individuelle (An-)Passung wieder ‚fit‘ für ihre
– unveränderte – Arbeit gemacht werden. Streben
Betroffene in solchen Fällen eine Veränderung arbeitsbezogener
Belastungen an, so sind sie nicht nur auf sich selbst gestellt, sondern auch
komplett abhängig von der Responsivität, Handlungs- und
Veränderungsbereitschaft ihrer Vorgesetzten und Arbeitgeber. In
Kombination mit einem funktionierenden BEM und/oder dem Engagement
betrieblicher Schlüsselakteure, welche die betroffenen
Beschäftigten begleiten und im Bedarfsfall mit arbeitsbezogenen
Maßnahmen unterstützen, könnte ein auf das
Selbstmanagement zielender Behandlungsansatz eine wirksame Unterstützung
bei der Rückkehr an den Arbeitsplatz bieten.
Die größte Stärke des systemischen Ansatzes liegt in der
gezielt auf den jeweiligen Einzelfall zugeschnittenen Kombination individuums-
und arbeitsbezogener Maßnahmen und dem expliziten Bestreben um
individuelle wie betriebliche (An-)Passung. Sowohl dem Betroffenem als auch dem
Betrieb wird zu diesem Zwecke eine unterstützende Person zur Seite
gestellt, die den gesamten Return to Work-Prozess mit plant, gestaltet und
koordiniert (Identifikation von Problem-/Bedarfslagen, Aufzeigen von
Risikofaktoren, Initiieren geeigneter Angebote der medizinisch-therapeutischen
Regelversorgung sowie von betrieblichen Maßnahmen,
Moderation/Mediation bei Konflikten am Arbeitsplatz, Vertreten von
Interessen Betroffener usw.). Dies kann nicht nur zur Nachhaltigkeit im
individuellen Fall beitragen, sondern bietet auch eine mögliche
Schnittstelle zur betrieblichen Prävention. Da im systemischen Ansatz
bei Bedarf auf Angebote der Regelversorgung psychisch erkrankter Personen
zurückgegriffen wird, kann hier jedoch nicht immer gewährleistet
werden, dass die in Anspruch genommenen individuumsbezogenen Maßnahmen
(wie z. B. Psychotherapie) einen expliziten Arbeits(platz-)bezug aufweisen. Eine
weitere Begrenzung des vorgefundenen systemischen Ansatzes liegt in der
Abhängigkeit der externen Dritten von der
Unterstützungsbereitschaft der betrieblichen Akteure, die die
erforderlichen betrieblichen (An-)Passungen immer mittragen bzw. mit umsetzen
müssen. Auch für den systemischen Ansatz gilt daher, dass er
v. a. dann eine wirksame und nachhaltige Unterstützung bei der
Rückkehr an den Arbeitsplatz bieten kann, wenn er auf ein
funktionierendes BEM und/oder engagierte betriebliche
Schlüsselakteure trifft und es gelingt, eine gute Balance zwischen
individueller Selbst- und betrieblicher Fürsorge herzustellen ([Tab. 6 ]).
Implikationen für die Praxis
Die betriebliche Wiedereingliederung von Beschäftigten mit psychischen
Krisen wird wie auch ihre Erkrankung selbst zumeist durch personen- und
arbeitsbezogene Faktoren geprägt. Künftig sollten daher solche
(Be-)Handlungsansätze verfolgt werden, die neben den individuellen
Einstellungen, Haltungen und Verhaltensweisen der Betroffenen auch
verstärkt deren Arbeitsbedingungen und -beziehungen in den Fokus nehmen
und über das gezielte Zusammenwirken von medizinisch-therapeutischen und
betrieblichen Akteuren und Maßnahmen sowohl auf die individuelle als
auch betriebliche (An-)Passung abzielen (vgl. [12 ]
[21 ]). Ziel sollten nicht nur gesunde
Beschäftigte, sondern immer auch gesunde Unternehmen sein.
Wie die vorliegende Studie zeigt, stoßen – trotz ihrer Vorteile
gegenüber der Regelversorgung – auch stärker vernetzte
und arbeitsplatzbezogene Angebote hier noch an ihre Grenzen. Für ihre
Weiterentwicklung und künftige Ausweitung auf die Regelversorgung bedarf
es v. a.:
einer weiteren Information und Sensibilisierung insbesondere relevanter
Schlüsselakteure (d. h. betrieblicher und
medizinisch-therapeutischer Akteure, Leistungsträger,
Arbeitnehmer/Betroffene) zum Abbau der Tabuisierung,
Stigmatisierung und Diskriminierung psychisch erkrankter Menschen
(einschließlich der kritischen Reflexion einseitiger,
stereotypisierender Betroffenenbilder),
einer konsequenten Berücksichtigung der Themen Arbeit und
Wiedereingliederung in der medizinisch-therapeutischen Versorgung
psychisch erkrankter Menschen, etwa in der Aus-, Fort- und Weiterbildung
von Haus-, Fach- und Betriebs-/Werksärzten sowie
Therapeuten, in Leitlinien, Therapiestandards, Curricula und Manualen
sowie in der Anerkennung und Finanzierung entsprechender Angebote durch
Leistungsträger,
eines gezielten Wissenstransfers zwischen medizinisch-therapeutischen und
betrieblichen Akteuren, um so noch mehr arbeitsmedizinisches Wissen bzw.
Arbeitsschutzwissen in die therapeutische Arbeit und andersherum
therapeutisch relevantes Wissen in die Ausgestaltung der betrieblichen
Rückkehr einfließen lassen zu können,
der Förderung betrieblicher Unterstützungsangebote sowie
einer stärkeren Einforderung gesetzlicher Schutz- und
Fürsorgepflichten mittels geeigneter Informations- und
Beratungsstrukturen (zentraler, trägerübergreifender
Ansprechpartner für Unternehmen), Anreizsysteme
(Zuschüsse, Prämien oder Beitragsnachlässe
für besonders engagierte Betriebe, Verlängerung der
Lohnfortzahlung) sowie Kontroll- und Sanktionierungsverfahren,
des weiteren Ausbaus des Betrieblichen Eingliederungsmanagements sowie
der Stärkung und Aufwertung der Rolle von Betriebsärzten
im Prozess der betrieblichen Wiedereingliederung,
mehr direkter Vernetzung medizinisch-therapeutischer und betrieblicher
Akteure im konkreten Einzelfall, einschließlich der
konzertierten Planung und Steuerung der Wiedereingliederung und
bedarfsorientierten Verschränkung betrieblicher und
medizinisch-therapeutischer, arbeitsplatz- und individuumsbezogener,
Maßnahmen,
der (trägerübergreifend und ggf. arbeitgeberseitig
mitfinanzierten) Möglichkeit für alle Beteiligten, bei
Bedarf einen externen Dritten als Case Manager/RTW-Koordinator
einzuschalten/zu beauftragen.
Limitationen der Studie
Die Studie untersucht erstmalig verschiedene Versorgungsnetzwerke und -angebote
für Beschäftigte mit psychischen Krisen, beschreibt die
Vernetzungsformen und (Be-)Handlungsansätze und deren Stärken
und Grenzen im Hinblick auf die Wiedereingliederung der Betroffenen. Mit dem
gewählten Studiendesign und methodischem Vorgehen konnten hierbei sowohl
die expliziten als auch die impliziten Erfahrungs- und Wissensbestände
der in die Netzwerke und Angebote involvierten betrieblichen und
überbetrieblichen Akteure sowie der Betroffenen berücksichtigt
und dadurch umfassendere und tiefergehende Erkenntnisse zu den Angeboten
gewonnen werden.
Die Studie weist jedoch auch Limitationen auf, vor deren Hintergrund die
Ergebnisse und Schlussfolgerungen zu bewerten sind. So konnte nur eine begrenzte
Auswahl an (veröffentlichten) Angeboten untersucht werden, wodurch
andere Angebote mit ggf. weiteren Vernetzungsformen und
(Be-)Handlungsansätzen mit ihren jeweiligen Stärken und Grenzen
unbeachtet bleiben. Da keine kleinen Unternehmen für die
Studienteilnahme gewonnen werden konnten (weil sie in den fokussierten
Versorgungsnetzwerken und -angeboten unterrepräsentiert sind, aber auch
weil ggf. intensivere Rekrutierungsbemühungen von Nöten gewesen
wären), bleibt zudem unklar, welche Besonderheiten sich hier in
Vernetzung und Behandlung ergeben und wie/unter welchen Bedingungen
kleine Unternehmen und ihre Beschäftigten von stärker vernetzten
und arbeitsplatzbezogenen Angeboten profitieren können. Zum realisierten
Sample ist anzumerken, dass 1. bei einem Angebot (Angebot 4) keine
Gruppendiskussion mit betrieblichen Akteuren durchgeführt werden konnte,
2. zwei der Gruppendiskussionen auf Betriebs- und Einrichtungsseite (Angebote 1
und 5) vergleichsweise gering und im Hinblick auf mögliche Akteure und
Professionen recht homogen besetzt waren, und 3. auf Seite der Betroffenen fast
ausschließlich Menschen mit Depressionen bzw. depressiver Symptomatik in
die Studie eingeschlossen wurden. Mit Blick auf die weitere Dissemination, die
v. a. von finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen abhängt,
hätte die Studie schließlich vom Einbezug einer weiteren
Akteursgruppe, die der (potentiellen) Leistungsträger und politischen
Entscheidungsträger, profitieren können.
Kernbotschaft
Die Entstehung psychischer Erkrankungen ist wie auch die betriebliche
Wiedereingliederung zumeist ein multifaktorielles Geschehen. Die
Komplexität von Erkrankung und Rückkehr müssen daher
anerkannt und individuelle wie betriebliche (An-)Passung gleichermaßen
berücksichtigt werden. Dazu sollte die Zusammenarbeit zwischen
behandelnden Ärzten, Therapeuten und Betriebsärzten sowie
weiteren zentralen Schlüsselakteuren im BEM weiter ausgebaut und
verbessert werden. Die Einbindung externer Dritter, die eine professionelle
Begleitung im RTW-Prozess ermöglichen, erscheint hierbei
zielführend.