Computergestützte Technologien ermöglichen in der Neurorehabilitation neue Wege. Zum
Beispiel lässt sich die Realität der Patienten um virtuelle Aspekte erweitern. Man
spricht hier von der sogenannten Augmented Reality, kurz AR – der erweiterten Realitätswahrnehmung.
Langfristig kann die AR in der Rehabilitation eingesetzt werden, um Patienten zu motivieren,
sich mehr zu bewegen. Zudem ermöglicht ihr Einsatz, die Therapie außerhalb des üblichen
Rehasettings zu ergänzen und fortzusetzen.
Derzeit sind vor allem Virtual-Reality-Systeme im Einsatz
Derzeit sind vor allem Virtual-Reality-Systeme im Einsatz
Patienten mit neurologischen Erkrankungen, insbesondere nach einem Schlaganfall, leiden
an Paresen der oberen und/oder unteren Extremitäten [1]. Ersteres führt oft zu einem Nichtgebrauch des Arms im Alltag [2]. Zudem haben die Patienten Schwierigkeiten zu gehen und das Gleichgewicht zu halten,
und sie gehen deutlich langsamer [3]. Gangprobleme nehmen zu, wenn Patienten gleichzeitig kognitive Aufgaben erledigen
müssen [4]. Damit verbunden ist eine erhöhte Sturzangst [5]. Mit intensiver Physiotherapie können Therapeuten diese Einschränkungen behandeln
[6].
Dabei ist ein wesentlicher Bestandteil der Therapien die Rückmeldung durch den Therapeuten
über die durchgeführten Bewegungen während der Therapie – das Feedback [7]. Diese Bewegungsrückmeldung fördert den motorischen Lernprozess und kann vom Therapeuten
entweder ergebnisbezogen (Knowledge of Results) oder verlaufsbezogen (Knowledge of
Performance) gegeben werden. Hierfür sind in den letzten Jahren immer mehr Computerspieltechnologien
in der therapeutischen Praxis eingesetzt worden mit dem Ziel, die motorische Rehabilitation
zu verbessern [8], [9]. Die VirtualRealityTrainingssysteme für den Arm und die Gangund Gleichgewichtsrehabilitation
bieten die Möglichkeit, auch außerhalb der Therapiesitzungen weiter zu trainieren
[14, 15]. Hierbei tauchen die Patienten in virtuelle Welten ein – entweder mittels
einer virtuellen Brille oder eines Bildschirms. Die Rehabilitationssysteme geben Rückmeldung
über die absolvierten Übungen und ermöglichen es dem Patienten, in herausfordernden
Situationen zu trainieren. Ein Nachteil der teuren VRSysteme ist allerdings, dass
sie oft nicht die reale Welt der Patienten widerspiegeln. Um die Therapien wirklich
in den Alltag der Patienten zu übertragen, müssen computerbasierte Systeme in unseren
Augen gut in den Alltag integrierbar sein.
AR ermöglicht Interaktion des realen Umfelds mit computergenerierter virtueller Umgebung.
Vorhandene Technologien nutzen
Vorhandene Technologien nutzen
Die Interaktion des realen Umfelds mit der computergenerierten virtuellen Umgebung
bezeichnet man als Augmented Reality [10]. Um Rückmeldung an Patienten zu generieren, zeichnen die Geräte die Anzahl und/oder
die Qualität von Bewegungen mithilfe von Bewegungssensoren auf. Diese Sensoren sind
vergleichbar mit den Sensoren in einem Smartphone oder in Kamerasystemen wie dem Microsoft
Kinect. Die Bewegungsdaten werden an ein lokales Computersystem gesendet und ausgewertet.
Das Bewegungsfeedback kann der Patient über unterschiedliche Sinne aufnehmen. Momentan
können akustische Signale mithilfe sogenannter Sonifikation (Darstellung von Daten
in Form von Klängen) über Lautsprecher in Kopfhörern oder Brillen (z. B. Bose Frames)
gegeben werden; haptisches Feedback lässt sich über Vibrationsmotoren und visuelles
Feedback über Bildschirme oder Brillen (z. B. Google Glass, Hololens) erzeugen. Die
Technologien ermöglichen es, das Feedback zu den Bewegungen in den Alltag der Patienten
zu integrieren und somit dort die Realität der Menschen zu erweitern.
Doch damit Patienten die Bewegungsrückmeldungen tatsächlich in ihrem Alltag erhalten
können, reichen vorhandene Systeme nicht aus. Deshalb arbeitet die Abteilung Zerebrovaskuläre
Medizin und Neurorehabilitation der Universität Zürich gemeinsam mit der ETH Zürich
und unterschiedlichen Industriepartnern an neuen Therapiesystemen für die obere und
die untere Extremität. Um zu sehen, ob der Nutzen tatsächlich groß ist, testet die
Universität Zürich die neuen Therapien derzeit an Patienten nach Schlaganfall.
Die Armaktivität im Alltag beeinflussen
Die Armaktivität im Alltag beeinflussen
Um Menschen nach Schlaganfall zu motivieren, ihren betroffenen Arm mehr im Alltag
einzusetzen, wurde in einem Schweizer Forschungsprojekt beispielsweise das ArmTherapiesystem
ARYSrysTM entwickelt ([ABB. 1], S. 34), das mittlerweile über die österreichische Firma Tyromotion vertrieben wird
[11]. Es besteht aus einem Aktivitätstracker am Hand gelenk, der die Armaktivitäten der
Patienten aufzeichnet. Diese Akti vitäten können die Patienten dann für sich in einer
Smart phoneApp oder an einem Computer visualisieren. Mithilfe dessen lassen sich individuelle
Bewegungsziele mit dem Physiotherapeuten definieren. Dies soll die Patienten anspornen,
den Arm im Alltag mehr zu bewegen. Erreicht der Patient ein bestimmtes Bewegungsziel
nicht, weist ihn eine Erinnerungsfunktion in Form eines Vibrationsfeedbacks darauf
hin, seinen Arm aktiv zu halten. Darüber hinaus kann er mithilfe von Armbewegungen
in einem Spiel, zum Beispiel dem Tree of Recovery™, einen Baum zum Wachsen bringen
([ABB. 2], S. 35). Der Fokus liegt hier darauf, den Armeinsatz im Alltag durch eine ergebnisbezogene
Rückmeldung zu steigern. Derzeit prüfen wir an der Universität Zürich die Effektivität
des Therapiesystems in einer randomisierten kontrollierten Studie über sechs Wochen
an Patienten im chronischen Stadium nach Schlaganfall. Die Ergebnisse werden wir vermutlich
2021 publizieren können.
ABB. 1 Das ARYSTM Therapiesystem besteht aus einem Bewegungstracker fürs Handgelenk und der
Android-Smart phone-App, mit der sich die Nutzer den Verlauf der täglichen Armaktivitäten
anzeigen lassen können
Abb.: tyromotion GmbH [rerif]
ABB. 2 Über die App „Tree of Recovery“ erhält der Patient eine bildliche Darstellung seines
Armgebrauchs im Alltag.
Abb.: tyromotion GmbH [rerif]Abb.: tyromotion GmbH [rerif]
Der Armeinsatz lässt sich im Alltag durch ergebnis bezogene Rückmeldungen steigern.
Gangqualität in Alltagssituationen trainieren
Gangqualität in Alltagssituationen trainieren
Um Schritte zu zählen und die Gesundheit positiv zu beeinflussen, entwickelten Forscher
den ersten Schrittzähler „Manpokei“ in den 1960erJahren in Japan [12]. Seitdem haben sich BewegungsanalyseSysteme deutlich weiterentwickelt. Heute lässt
sich nicht nur die Anzahl der Schritte messen, sondern auch die Bewegungsqualität
erfassen. In "Fast"Echtzeit kann man sie aus den Daten analysieren und so ein Feedback
an Therapeut und Patient geben.
Um die Bewegungseinschränkungen von Menschen nach Schlaganfall während des Laufens
im Alltag zu beeinflussen, wurde in einem weiteren Forschungsprojekt der Universität
Zürich ein ARFeedbacksystem entwickelt [13]. Hierbei versuchten wir, das Maximum an technischen Möglichkeiten zu nutzen, um
die Bewegungsqualität zu beeinflussen und Rückmeldung über die Gangparameter zu geben.
Mithilfe von sieben Bewegungssensoren, die an Becken, Oberschenkeln, Unterschenkeln
und Füßen befestigt sind, nahmen wir die Gelenkbewegungen beim Laufen auf und analysierten
sie. Um ein EchtzeitFeedback für Patienten zu generieren, definierte ein Physiotherapeut
Minimalwerte für die Kniebeugung beim Laufen. Eine Rückmeldung über die Bewegungsqualität
wurde dem Patienten über eine ARBrille (Hololens 2, Microsoft) gegeben.
Da nicht nur die Rückmeldung über die Bewegungsqualität wichtig ist, sondern, um Bewegungsqualität
zu verbessern, auch die Voraussetzung, in herausfordernden Situationen trainieren
zu können, entwickelten wir zudem einen visuellen Parcours, der durch die ARBrille
dargestellt wird. Unsere Projektmitarbeiter ordneten verschiedene virtuelle Objekte
in einem Parcours mit einer Länge von 14 Metern im Raum an ([ABB. 3] UND [4]). Über Pfeile auf dem Boden sollte der Patient über Baumstämme steigen, durch ein
Gartentor gehen, über Steine einen Fluss überqueren, über einen Berggrat balancieren,
um einen Tisch gehen und um Laternenmasten Slalom laufen. Durch die visuellen Hindernisse
konnten wir unterschiedliche Anforderung an das Laufen und Balancieren an den Patienten
stellen, ohne ihn durch echte Hindernisse in Gefahr zu bringen. Während des Durchlaufens
des Parcours ist es möglich, die Umgebung wahrzunehmen und auf Reize aus der realen
Welt zu reagieren. Um den Schweregrad des Parcours zu erhöhen, stellten wir dem Patienten
zusätzlich kognitive Aufgaben und einfache Rechenübungen. Er konnte dabei mit seiner
Hand die richtige Lösung der mathematischen Aufgabe auf einem virtuellen Knopf auswählen.
Hierbei erfassten wir die Handbewegungen mithilfe der in der ARBrille integrierten
Kamera.
ABB. 3 Während der Patient über die Steine den virtuellen Fluss passiert, erscheint die parallel
zu lösende Rechenaufgabe in der Brille.
Abb.: Universität Zürich [rerif]
ABB. 4 Neu entwickeltes Augmented-Reality-Therapiesystem mit integrierter kognitiver Aufgabe
der Universität Zürich. Der Parcours beinhaltet Aufgaben mit unterschiedlichen motorischen
Anforderungen.
Abb.: Universität Zürich [rerif]
Die Ergebnisse zeigten, dass Bewegungen im Parcours gegenüber dem Laufen auf einer
geraden Ebene mehr variierten. Unserem Forscherteam ist es gelungen, ein System zu
entwickeln und zu testen, welches an das Umfeld und die Möglichkeiten des Patienten
angepasst werden kann und das ihn motiviert, in einer herausfordernden Umgebung zu
trainieren. Weitere Studien sind nun notwendig, um die konkreten Effekte bei Patienten
in unterschiedlichen Rehabilitationsstadien und mit verschiedenen Erkrankungen nachzuweisen.
Bewegungen im virtuellen Parcours können ebenso variieren, wie es Bewegungen im Alltag
tun.
Augmented Reality in der Physiotherapie hat Zukunft
Augmented Reality in der Physiotherapie hat Zukunft
Aus unseren Studienergebnissen können wir ableiten, dass Augmented Reality vielversprechend
ist, die Therapie in den Alltag zu übertragen. ARSysteme schaffen es, Patienten zu
motivieren, und sorgen für intensiveres Üben. In der physiotherapeutischen Praxis
können Therapeuten derzeit bereits simple Fitnesstracker und ihre Smartphones verwenden,
um Bewegungen zu messen und diese mithilfe von Apps sichtbar zu machen. Zudem können
Apps in Echtzeit akustische Signale basierend auf den Sensorendaten generieren, um
Personen im Alltag zu motivieren, sich mehr zu bewegen. Weitere technische Entwicklungen
sollte und wird es künftig geben, die patientenspezifisch einsetzbar sein werden.
Dadurch dass die Therapie mit Augmented Reality im Alltag von Patienten neue Technologien
erfordert, müssen neben den Effektivitätsuntersuchungen weitere Studien folgen, die
dann auch die Benutzerfreundlichkeit in unterschiedlichen Patientengruppen untersuchen.