ergopraxis 2020; 13(10): 42-44
DOI: 10.1055/a-1207-2600
Perspektiven
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Geschichten für die Seele – Das Gute erkennen

Barbara Freitag-Herse
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Publication Date:
06 October 2020 (online)

 

Mit schwierigen Situationen umzugehen, liegt uns Therapeuten im Blut. Selbst die Krise, in die wir durch die Corona-Pandemie hineingeschlittert sind, können wir bewältigen – wenn wir es schaffen, all die positiven Dinge, die trotzdem noch geschehen, nicht aus den Augen verlieren. Viele Therapeuten haben mir ihre Geschichten geschickt, die ich hier gern mit Ihnen teile.


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Barbara Freitag-Herse

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Barbara Freitag-Herse ist selbstständige Ergotherapeutin, Coach, Dozentin und Kommunikationstrainerin. Seit vielen Jahren begleitet sie therapeutische und pädagogische Teams in Findungs- und Konfliktsituationen. Hier und auch in den Familiencoachings liegt ihr besonders der wertschätzende und gleichwürdige Umgang miteinander am Herzen. „Gemeinsam zu Begeisterung, Lachen und Entwicklung“ ist ihr Grundthema bei Workshops und Seminaren.

Liebe Praxisinhaber, liebe Therapeuten, liebe Menschen, bitte nehmen Sie sich ein weißes Blatt Papier. Gern darf es groß sein, aber ein 9 x 9 cm großes Notizzettelchen tut es auch. Bitte machen Sie nun irgendwo auf dem Papier mit einem Stift einen Punkt. Für alle, die früher gern den Persönlichkeitstest in der „Bravo“ gemacht haben: Es ist vollkommen egal, mit welcher Farbe Sie diesen kleinen Punkt machen. Auch die Platzierung wird nicht bewertet. Ob Sie den nun selbstbewusst zentral, verhalten in ein Eckchen oder bodenständig nach unten sortieren – ganz gleich! Nun kommt das Wichtige: Stehen Sie auf, betrachten Sie das Papier aus einem größeren Abstand, ein oder zwei Meter. Was sehen Sie?

Ich habe dieses Tool (wir Coaches nennen therapeutische Interventionen Tool) vor ca. zehn Jahren irgendwo gelesen oder auf einem Seminar erlebt. Leider weiß ich nicht mehr, wer es entwickelt hat. Jedoch habe ich seither geschätzte 97 Prozent der Menschen, inklusive mir selbst, erlebt, die auf die Frage „Was sehen Sie?“ antworteten „Einen Punkt!“

Und genau da liegt unser Problem mit dem Stressmanagement verborgen, mit dem eigenen Stabilisieren und Leveln, mit dem Work-Live-Balancing. Gerade in unserem Beruf, in dem wir von Beginn an lernen, Auffälligkeiten, Defizite etc. zu sehen. Wir sehen schwarze Punkte. Wir sehen das viel größere weiße Blatt nicht mehr. Wir richten unseren Fokus auf das, was nicht klappt, was problematisch und schwierig ist. Daran halten wir uns fest, kauen darauf herum, kritisieren uns selbst für eben jene Punkte, unsere Arbeit, unser Team. Wir fühlen uns schlecht, weil uns eine Sache misslungen ist, sich ein Patient beschwert, eine Abrechnung oder ein Bericht oder nicht perfekt war. Dann schnellt der Puls hoch und es bildet sich ein Kloß im Magen … Weil wir einen kleinen schwarzen Punkt sehen. Wir sehen nicht die 64.735 richtig abgerechneten Verordnungen, die vielen zufriedenen Patienten, all das, was gut läuft, was wir schon geschafft haben und jeden Tag vollbringen, gerade in dieser Zeit. Wir sehen das weiße Blatt nicht mehr.

Die vergangenen Monate haben uns eine Unsumme an schwarzen Punkten und Pünktchen geliefert: was wir noch nicht umgesetzt haben, was sich 14-tägig ändert, Fallzahlen, Absagen, geschlossene Heime, Kurzarbeit oder Therapeutenmangel, drohender Lockdown. Bestimmt sind mehrere Punkte eher mit dem Malerquast gemalt als mit einem spitzen Bleistift. Und gerade dann ist es unsere Pflicht als Arbeitgeber und Therapeuten, die freien Stellen auf dem Papier zu sehen, uns gegenseitig zu unterstützen und zu stärken. Ich werde nie vergessen, wie einmal mein jüngster Sohn, damals drei Jahre alt, mich daran erinnerte. Ich hatte mir als persönliche Gedächtnisstütze ein weißes Blatt mit einem schwarzen Punkt in der Mitte an den Kühlschrank geheftet. Ich komme also in die Küche und sehe meinen Sohn, wie er auf einem Stuhl stehend bewaffnet mit vielen Buntstiften darauf herumkrickelt. Bevor ich auch nur Luft holen konnte, strahlte er mich an und sagte „toll, du hast mir ganz viel Platz für die Farben gelassen!“

Daher hatte ich im praxisprofi 09/2020 (und auch auf Facebook) dazu aufgerufen, uns alle an Geschichten teilhaben zu lassen, die wirken wie „Hühnersuppe für die Seele“ – so der Titel von Büchern von Autor und Motivationstrainer Jack Canfield, der irgendwann entdeckt hat, dass es in jeder Familie Geschichten gibt, die der Seele guttun, sie nähren und wärmen wie eine Hühnersuppe, wenn man sich eine Erkältung eingefangen hat – Geschichten über wiedergefundene Freunde, Glücksmomente, wunderbare Zufälle. Was haben Sie alle in Ihren Praxen, Ihren Teams erlebt, was auch anderen Stärke und Hoffnung geben kann? Was haben Sie aufgrund der Situation verändert und es hat sich als so großartig erwiesen, dass Sie es beibehalten wollen?

Ein paar dieser „Hühnersuppengeschichten“, die sich also auf dem weißen Blatt neben dem Punkt abspielen, möchte ich heute (in anonymisierter Form) mit Ihnen teilen.

Wir sehen den kleinen schwarzen Punkt, aber nicht das weiße Blatt drum herum.

Geschenkkorb

Ich kam morgens zur Praxis. Ich bin immer die Erste, und vor unserer Tür stand ein kleiner Geschenkekorb mit einer Karte. Mehrere Patienten, die sich in unserem Stadtteil kennen, haben sich zusammengetan und uns Kaffee, Gebäck, selbst gemachte Marmelade und Geld für die Kaffeekasse hineingelegt. Dabei war eine Karte: „Für uns seid ihr relevant!“ Da musste ich so heulen und es hat mich so motiviert, trotz dieser ganzen Einschränkungen weiterzumachen.

(Therapeutin aus Stuttgart)


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Teamsitzung

Wir hatten bisher immer ein- bis zweimal im Monat Teamsitzung. Manchmal ist die auch ausgefallen, weil wir nichts groß zu besprechen hatten oder weil mehrere im Urlaub waren. Seit Beginn der Krise haben wir jede Woche Teamsitzung. Gerade zu Anfang gab es viel zu klären, sodass das notwendig war. Wir haben unserem Chef gesagt, dass wir das toll finden und beibehalten wollen. Das hat er umgesetzt, und nun treffen wir uns, auch freie Mitarbeiter, regelmäßig wöchentlich. Dadurch entsteht so viel Gemeinschaftsgefühl. Wenn es mal nichts Dringliches gibt, sitzen wir einfach beisammen. Letzte Woche hatte ich Urlaub, und ich habe Montag an die Teamsitzung gedacht und sie richtig vermisst.

(Therapeut aus Bonn)


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Tagesbeginn

Ich arbeite als Altenpflegerin in einem Pflegeheim, in dem es auch katholische Nonnen gibt. Zu Beginn der Schließung hatte eine Nonne angeboten, morgens vor der Arbeit einen gemeinsamen Start oder eine Meditation zu machen. Zuerst dachte ich, nicht hinzugehen, denn mit Kirche habe ich nichts zu schaffen. Sie machte das aber so toll und ganz frei. Das hat sich im Haus herumgesprochen und wir waren dann verschiedene Leute aus der Pflege im großen Kreis, mit Abstand. Sie las ein Gedicht oder einen Text vor. Das hat uns allen ein gutes Gefühl gegeben. Ich bin anders gestärkt durch den Tag und zu den Bewohnern. Manchen habe ich davon erzählt, auch denen, die nicht ansprechbar sind. Ich denke, sie haben es trotzdem gespürt. Wir wollen versuchen, das weiterzumachen.

(Therapeutin aus der Nähe von Erfurt)


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Technik

Als Ergotherapeutin habe ich mich ganz intensiv mit den Möglichkeiten zur Videotherapie auseinandergesetzt. Vorher hatte ich davon keine Ahnung und sah auch keine Notwendigkeit, mich damit zu beschäftigen. Ich war sehr skeptisch und habe befürchtet, dass dies keine gute Therapie werden könnte. Nun habe ich nicht nur viele tolle Möglichkeiten entdeckt und den Bezug zu meinen kleinen Patienten behalten, sondern auch noch eine Austauschgruppe gefunden, die sich gegenseitig tolle Hilfestellung gibt. Danke Corona!

(Therapeutin aus Köln)


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Freundin

Eine langjährige MS-Patientin ist immobil, also Hausbesuch. Zu Beginn des Lockdowns war die Situation für mich so unklar, dass ich meine Hausbesuche bei ihr abgesagt habe. Ich wollte keinen Fehler machen und sie womöglich in Gefahr bringen. Sie hat mich angerufen und gefragt, ob wir nicht zumindest telefonisch arbeiten könnten, denn sie habe auch kaum Kontakt zu Angehörigen. Ich habe ihr gesagt, dass ich nicht telefonisch arbeiten darf und ich auch nicht wüsste, wie das gehen soll, da wir doch immer am Transfer und der Stehfähigkeit arbeiten. Das hat sie verstanden, war aber sehr traurig. Mich hat das nicht losgelassen. Ich arbeite lange genug, um zu wissen, was therapeutische Distanz bedeutet, und habe das bisher noch nie gemacht, aber ich habe sie zwei Tage später angerufen und gefragt, ob ich sie privat anrufen darf. So haben wir die Zeit, bis Hausbesuche wieder möglich waren, ein-, zweimal in der Woche privat telefoniert und einfach nur gequatscht. Ich weiß, dass viele Therapeuten sagen, dass ich das nicht hätte tun sollen, weil wir damit die therapeutische Distanz verlassen. Aber in der Situation war ich einfach ein Mensch, der zu einem anderen Menschen spricht. Inzwischen geht eine andere Kollegin zum Hausbesuch zu ihr, da wir die gemeinsame Zeit mit Reden verbringen wollen, und ich habe nun eine dreißig Jahre ältere Freundin.

(Therapeutin aus Aachen)

Plötzlich fing der Chef an zu weinen.


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Kooperation

In dem großen Komplex, in dem unsere Praxis liegt, gibt es auch eine Ergopraxis, mit der wir bisher nur wegen verschiedener Patienten vereinzelt Austausch hatten. Zu Beginn, als das Desinfektionsmittel so knapp war, wollte ich etwas bestellen, habe aber kaum etwas gefunden. Ich bin dann – zum ersten Mal – persönlich rübergegangen, um zu fragen, wo diese Praxis bestellt. Heraus kam ich mit zwei Flaschen Hand- und Flächendesinfektion und drei Päckchen Papierhandtüchern. Revanchiert habe ich mich mit Massagelotion und einer internen Teamfortbildung zur Sturzprophylaxe. Wir wollen jetzt abwechselnd einmal im Quartal einer beim anderen eine kleine Minifortbildung halten. Hat meinen Horizont erweitert!

(Therapeut aus Bonn)


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Chef

Ich arbeite als Ergotherapeutin in einer interdisziplinären Praxis mit Physios und Logos. Natürlich haben wir uns unsere Gedanken gemacht, wie das weitergehen soll, wenn die Heime von einem auf den anderen Tag geschlossen sind. Wir arbeiten an den Vormittagen fast alle in Heimen, Schulen und Kitas. Dann kam irgendwann die große Teamsitzung, in der unser Chef uns über Kurzarbeit aufgeklärt hat. Er ist immer sehr tough und fair, aber wenig emotional. Wir hatten alle schon miteinander geredet und Kündigungen befürchtet. Ehrlich gesagt waren wir sogar ziemlich gegen ihn eingestellt, weil er sich kurz vorher noch ein neues Auto gekauft hatte. In der Teamsitzung saß er dann vor uns wie ein Schatten seiner selbst. Er hatte bestimmt die letzten Nächte kaum geschlafen. Er legte uns Zahlen, Auswertungen und Tabellen vor, Gesetze zum KUG, Infoschreiben und so weiter. Wir waren alle zwölf ganz still. Es war eine ganz merkwürdige Stimmung. Irgendwann sagte die Rezeptionskraft zu ihm: „Entspann dich. Wir wissen, dass du das nicht freiwillig tust!“ Da hat er angefangen zu weinen, ihm rollten einfach die Tränen herunter. Er sagte nur, es tue ihm so leid, mit der Kurzarbeit versuche er, jeden einzelnen Arbeitsplatz zu retten, und er wisse, dass das eine Scheißlösung für jeden einzelnen ist. Er selbst setze sich auch auf Kurzarbeit und nehme sich nur ein Drittel seines sonstigen Verdienstes aus der Praxis. Alles andere fände er unmoralisch. Inzwischen sind wir alle aus der Kurzarbeit raus und unser Chef hat unseren vollen Respekt!

(Therapeutin aus Mönchengladbach)

Ich habe jetzt eine neue Freundin.


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Zeitressourcen

In der Zeit des Lockdowns hatte ich kaum Patienten. Da habe ich angefangen, internationale Studien zu lesen und mein Englisch aufzufrischen. Das mache ich weiter!

(Therapeut aus Bremen)

Das ist eine kleine Auswahl dessen, was alles neben dem schwarzen Punkt geschehen kann. Mich bewegt es wirklich sehr, dies alles zu lesen, und ich danke auch denen, die mich haben teilhaben lassen, die aber nicht veröffentlicht werden möchten. Ich respektiere Ihre Gründe!

Eine kleine persönliche „Hühnersuppengeschichte“ möchte auch ich mit Ihnen teilen.


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Rezeptionsgöttin

Nachdem die Heime bei uns von Donnerstag auf Freitag geschlossen wurden, hatte mein Team und vor allem meine Rezeptionsgöttin Unmenschliches geleistet und JEDEN Patienten der kommenden Woche angerufen: mit den Kriterien Schulen geschlossen, also Schüler vormittags, nur so viele parallel, dass es keine Wartezeit gibt, keine älteren Patienten parallel zu den Kindern, also vorher und an den Nachmittagen. Zusätzlich noch Desinfektionsablauf usw. Am Wochenende kam dann die Verwirrung, ob Therapien erlaubt sind, fortgeführt werden sollen, private Veranstaltungen seien, ob ein zusätzliches Attest erforderlich sei … Am Montagmorgen hatten wir 47 (!) Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Alles Patienten, die die Therapie aufgrund der Vorgaben abgesagt hatten. Das war mein Tiefpunkt. Ich setzte mich auf den Balkon und starrte auf die Straße hinter der Praxis. Irgendwann setzte sich eben jene Rezeptionsheldin neben mich und sagte gar nichts. Wir schwiegen da so mindestens zehn Minuten herum, bis sie hineinging und etwas holte. Mit einem lauten „Plöpp“ öffnete sie eine verwaiste Sektflasche, die in einer Ecke herumstand, goss zwei Gläser ein, wir stießen an und sie meinte „Wir feiern jetzt den Krisenmodus!“

Seien Sie alle herzlich gegrüßt, feiern Sie die weißen Flächen, denn wir werden gebraucht! Gemeinsam!


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