Psychiatr Prax 2020; 47(08): 414-415
DOI: 10.1055/a-1209-0254
Debatte: Pro & Kontra

Brauchen wir noch Kongresse und Konferenzen mit persönlichem Kontakt? – Pro

Do we Still Need Congresses and Conferences with Personal Contact? – Pro
Gabriel Gerlinger
1   Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN), Leitung Public Affairs und Wissenschaftlicher Dienst
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Julie Holzhausen
2   Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN), Leitung DGPPN-Geschäftsstelle, Leitung DGPPN Kongress
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Die Buzzwords der Digitalisierung sind in aller Munde: Ob Homeoffice, Cloud-Working, Videokonferenzen oder virtuelle Kongresse, die neuen digitalen Möglichkeiten haben dazu beigetragen, die Folgen der Coronapandemie für weite gesellschaftliche Bereiche abzufedern. Die kontaktbeschränkte digitale Gesellschaft zur neuen Normalität zu erklären ist jedoch verfrüht. Zu tief verwurzelt ist das menschliche Bedürfnis nach sozialer Nähe und unmittelbarer Erfahrung, welches sich durch digitale Formate nicht erfüllen lässt.

Wir haben in den letzten Wochen und Monaten wahrscheinlich alle – freiwillig oder unfreiwillig – Erfahrungen mit dem Arbeiten im Homeoffice, mit Gremien- und Teamsitzungen per Videokonferenz und vielleicht auch schon mit Webinaren und virtuellen Konferenzen gesammelt. Während die Auswirkungen der Coronakrise gezeigt haben, wo virtuelle Formate echte Meetings sinnvoll ergänzen können, macht der Ausnahmezustand doch auch die Grenzen digitaler Lösungen besonders deutlich.

Der Zufall lässt sich nicht digitalisieren

Tagungen, Konferenzen und Kongresse sind für viele ein Höhepunkt im Berufsalltag. Sie sind eine willkommene Abwechslung, der Ausbruch aus der Alltagsroutine löst bei vielen einen regelrechten Motivationsschub aus. Auf Kongressen findet sich alles an einem Ort, die geballte Ladung an Fachwissen, Eindrücken und Meinungen, die gesamte Breite und Vielfalt des Fachs, was sie zur optimalen Plattform für die fachliche Fort- und Weiterbildung macht. Aber auch das kulturelle Rahmenprogramm, das Kennenlernen einer fremden Stadt und insbesondere zwischenmenschliche Begegnungen tragen zur Attraktivität von Kongressen bei. Sei es das Treffen von Experten nach einem Vortrag, das Wiedersehen von alten Kollegen oder neue Bekanntschaften. Hier begegnet man Experten, Chefs und Kollegen auf Augenhöhe. Im vertraulichen persönlichen Gespräch am Rande der Veranstaltungen tauscht man sich über Referenten und Vorträge, aber auch über die Herausforderungen im Berufsalltag aus. Auch kommt man mit Menschen in Kontakt, mit denen man sonst keine Gelegenheit zum Austausch hätte: Neben den Koryphäen des Fachs z. B. mit Vertretern von Selbsthilfe, Kostenträgern, Politik und Industrie. Es ist sicht- und spürbar, dass sie alle trotz unterschiedlichster Hintergründe das gemeinsame Interesse an einer guten psychiatrischen Versorgung eint. So kann ein Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen, das vielen Teilnehmern noch Wochen und Monate Kraft für den nicht immer einfachen Berufsalltag spendet.

Auch spielt die Zufälligkeit von Begegnungen und Erfahrungen eine große Rolle. Der Verlauf eines Kongresses lässt sich nicht planen. Die Verantwortung kann am Eingang abgegeben werden, ab hier wird man geführt und kann sich treiben lassen. Unabhängig von geplanten Fortbildungen sammelt man an jeder Ecke neue Eindrücke und Ideen. An Zufallsbekanntschaften und ungeplante Vorträge erinnert man sich im Nachhinein besonders gern.


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Besondere Momente durch unmittelbare, geteilte Erfahrung

Ein Kongress-Saal mit Hunderten Wissbegierigen, Spannung liegt in der Luft, dann raschelt das Mikrofon, ein Räuspern, der lang ersehnte Vortrag beginnt. Auf Konzentration folgt Entspannung, Lachen, Stille, am Ende tosender Applaus und Standing Ovations. Wenn diese Beschreibung etwas in Ihnen auslöst, dann ist dies die tiefsitzende Erinnerung an die Atmosphäre besonderer, denkwürdiger Kongressmomente, welche Sie mit allen Sinnen erlebt haben. Solche Momente können nur durch die Unmittelbarkeit der geteilten Erfahrung in einem Resonanzraum mit physischer Präsenz entstehen. Große Geschichten werden in Videokonferenzen eher nicht geschrieben.


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Virtuelle Formate können ergänzen, nicht ersetzen

Die bisherigen Anmerkungen machen deutlich, warum digitale Formate Präsenzveranstaltungen allenfalls ergänzen können und niemals ersetzen werden. Dafür spricht auch, dass es in einem virtuellen Format wie beispielsweise einer Videokonferenz oder einem Webinar für einen Referenten nahezu unmöglich ist, die Stimmung der Teilnehmer so einzufangen und darauf zu reagieren, wie dies beim Vortrag mit Präsenzpublikum möglich wäre. Unterschwellige Rückmeldungen, ein promptes „Stimmt“, ungeduldiges Zucken, ein ablehnendes Kopfschütteln, können von Referenten oder Moderatoren nicht einbezogen werden. Dies wird durch die „Mikro-Aus-Doktrin“ in Videokonferenzen noch verschärft. Ohne einen solchen Resonanzraum (Grummeln, Lachen, Augen-Rollen) sinkt die Motivation zu spritzigen, provokanten oder humorvollen Thesen beim Referenten. Und selbst wo Teilnehmer ein hör- oder sichtbares Feedback geben können, verlangen die durch die Übertragung entstehenden Latenzen den Teilnehmern einiges an Geduld ab. Dies erschwert die Kommunikation erheblich und führt u. a. dazu, dass ein engagierter Schlagabtausch oftmals nicht gelingen mag und (notwendige) Debatten zu selten stattfinden. Auch sind die Nutzer virtueller Angebote mit sich und dem PC alleine, während Lernen ein sozialer und nicht nur technischer Prozess sein sollte. Aus Veranstaltersicht bilden digitale Formate den organisatorischen Aufwand dahinter nicht ab, die vielen beteiligten Helfer bleiben unsichtbar. Dies mindert die wahrgenommene Wertigkeit des Erlebnisses, es wird austauschbar und schlimmstenfalls sogar beliebig. Das spiegelt sich häufig darin wider, dass Kunden trotz qualitativ hochwertiger Inhalte und teurer Produktion nicht bereit sind, für digitale Inhalte angemessene Preise zu zahlen.


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Typisches Kongresserlebnis digital nicht abbildbar

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das typische Kongresserlebnis in all seinen fachlich-inhaltlichen und zwischenmenschlichen Facetten digital nicht abbildbar ist. Der Kongress lebt von der Unmittelbarkeit des gemeinsamen Erlebnisses. Der Charme des Klassentreffens und der vielen zufälligen Begegnungen ist nicht ersetzbar. Der große Vorzug eines Präsenzkongresses, alles und alle zur selben Zeit an einem Ort, geht verloren. Virtuelle Tagungen sind besser als keine, aber eine gewisse digitale Übersättigung und der Hunger auf „echte“ Beteiligung sind schon deutlich spürbar.

So werden der DGPPN Kongress 2020 und die diesjährigen Hauptstadtsymposien, welche pandemiebedingt virtuell stattfinden, das Beste davon bieten, was die heutigen digitalen Möglichkeiten hergeben. Bewährte Formate wie Lectures, State-of-the-Art-Symposien, Meet-the-Expert-Sessions, E-Poster und besondere Vorträge von hochkarätigen Persönlichkeiten werden in kompakten und interaktiven Online-Formaten an mehreren Kongresstagen Ende November präsentiert. Dies ist aber nicht als neue Normalität gedacht, sondern ausdrücklich als eine den Umständen geschuldete Ausnahme. Umso mehr darf man sich auf die vielen geplanten und ungeplanten persönlichen Begegnungen, die kleinen und großen Höhepunkte und die besonderen Momente zukünftiger Präsenzkongresse freuen.

Hinweis: Dieser Artikel stellt die Meinung der Autoren dar und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung des DGPPN-Vorstands wider.


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Autorinnen/Autoren

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Gabriel Gerlinger

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Julie Holzhausen


Korrespondenzadresse

Dr. rer. medic. Gabriel Gerlinger
Dipl.-Psych. Julie Holzhausen
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN)
Reinhardtstraße 27b
10117 Berlin
Deutschland

Publication History

Article published online:
02 November 2020

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