Deutsche Heilpraktiker-Zeitschrift 2020; 15(08): 44-46
DOI: 10.1055/a-1212-9776
Praxis
Interview
© Karl F. Haug Verlag in Georg Thieme Verlag KG

Vorsicht beim Import schamanischer Heilmethoden!

Michael Schlichting
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Publication Date:
16 December 2020 (online)

 

Summary

„Das zunehmende Unbehagen in unserer Gesellschaft gegenüber Konzepten und Behandlungsmethoden des wissenschaftlich-medizinischen Establishments führt unter Patienten zu einer seit Jahren steigenden Nachfrage nach alternativen Heilverfahren und veranlasst einige Therapeutenkreise zu entsprechenden Angeboten, wobei teils auch explizit schamanische Behandlungsansätze angepriesen werden“, beobachtet Dr. med. Michael Schlichting. Doch welche Risiken verbergen sich hinter dem Import von indigenen Heiltechniken, herausgelöst aus ihrem kulturellen und rituellen Kontext? Dieser zentralen Frage gehen er und die Interviewerin Dr. Claudia Müller-Ebeling nach.


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„Das zunehmende Unbehagen in unserer Gesellschaft gegenüber Konzepten und Behandlungsmethoden des wissenschaftlich-medizinischen Establishments führt unter Patienten zu einer seit Jahren steigenden Nachfrage nach alternativen Heilverfahren und veranlasst einige Therapeutenkreise zu entsprechenden Angeboten, wobei teils auch explizit schamanische Behandlungsansätze angepriesen werden“, beobachtet Dr. med. Michael Schlichting. Doch welche Risiken verbergen sich hinter dem Import von indigenen Heiltechniken, herausgelöst aus ihrem kulturellen und rituellen Kontext? Dieser zentralen Frage gehen er und die Interviewerin Dr. Claudia Müller-Ebeling nach.

Michael, wir kennen uns seit Mitte der 1980er-Jahre, als wir Mitglieder im Europäischen Collegium für Bewusstseinsforschung (ECBS) (Anmerkung der Redaktion: siehe Kasten) waren und gemeinsam Symposien und Kongresse organisierten, Du als Sekretär im Vorstand und ich im wissenschaftlichen Beirat. Du bist gut vertraut mit therapeutischen Kreisen und diversen Forschungen, die auch ethnomedizinische Ansätze berücksichtigen. Welche schamanischen Behandlungsansätze hast Du im Sinn? Kannst Du ein Beispiel nennen?

Einen Schwerpunkt der Bestrebungen des ECBS bildeten ethnomedizinische Studien über die Induktion tranceartiger Bewusstseinszustände im Rahmen indigener Heilrituale – sei es durch Trommeln, Tanz, Gesänge, Schlafentzug oder durch den traditionellen Gebrauch einheimischer psychoaktiver Pilze und Pflanzenmischungen, um unter der Leitung eines Schamanen eine Verbindung mit der Jenseits-Welt herzustellen und Hinweise zu empfangen für die Lösung individueller oder kollektiver Probleme. Besondere Bekanntheit haben zum Beispiel der Gebrauch der heiligen Pilze in den Heilritualen der Mazateken-Schamanin Maria Sabina in Mexiko und die Ayahuasca-Sitzungen indigener Schamanenkulturen in Peru erreicht. Die Folge war, dass sich auch einige abenteuersuchende Touristen aus Europa und Nordamerika für diese Heilrituale interessierten und daran teilnahmen. Manche von ihnen berichteten anschließend emphatisch von ihren tiefgründigen Erlebnissen. Sie empfanden ihre Teilnahme an diesen indigenen Heilzeremonien teilweise als eine Art Berufung oder Initiation und suchten nach ihrer Rückkehr nach Möglichkeiten, auch hier entsprechende psychoaktive Pilze oder Pflanzenmischungen in einem therapeutischen Kontext anzuwenden.

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Abb. 1 Psilocybinhaltige Pilze: In indigenen kulturellen und rituellen Kontexten können sie ihre volle heilige und heilsame Kraft entfalten. In der westlichen Welt werden sie in der Regel auf ihre psychotrope Wirkung reduziert genutzt – und so nicht nur zum rechtlichen, sondern auch gesundheitlichen Risiko (Symbolbild). © Alexander / stock.adobe.com

Wann ist es problematisch, einzelne Behandlungselemente aus dem spezifischen Kontext ihrer Herkunftskultur zu isolieren und sie als bloße Technik mit unserer anderen westlichen Weltanschauung zu vermischen? Weshalb ist der kulturelle Kontext elementar für eine mögliche Heilung?

Das Herauslösen einzelner Behandlungselemente aus ihrem kulturellen und rituellen Zusammenhang und ihre Verwendung in einem gänzlich anderen Kontext kann dazu führen, dass zum Beispiel die in einigen indigenen Heilritualen verwendeten heiligen Pilze oder Ayahuasca-Pflanzenmischungen nicht mehr als Repräsentanten der geistigen Welt der Indigenen erlebt und verstanden werden. Sie werden dann gemäß unserer westlich-positivistischen Weltanschauung auf ihre psychotropen Wirkeigenschaften reduziert und nur noch wie ein Medikament oder eine Droge konsumiert, um die Psyche des isolierten, von der inneren und äußeren Natur weitgehend entfremdeten Individuums zu beeinflussen. Das kann in einigen Fällen erlebnisintensiv sein, ist aber eben nicht mehr das Gleiche wie bei der traditionellen Anwendung im Kontext der Herkunftskultur dieser Pilze und Pflanzen. Deren spezielle Sprache und Botschaften werden von vielen westlichen Anwendern häufig nicht richtig verstanden. Dadurch kann dann auch der therapeutische Nutzen verfehlt werden: Denn er kann sich nur bei Einbettung dieser Pilze oder Pflanzen in den rituellen Kontext ihrer Herkunftskultur und unter sachkundiger Anleitung eines erfahrenen Schamanen voll entfalten.

Hintergrundwissen

Das Europäische Collegium für Bewusstseinsstudien

Das 1985 von Hanscarl Leuner und Albert Hofmann gegründete Europäische Collegium für Bewusstseinsstudien (ECBS) war ein multidisziplinäres Forum verschiedener Fachrichtungen, das sich der Erforschung von veränderten Bewusstseinszuständen widmete und deren therapeutische Anwendungsmöglichkeiten diskutierte.

Du sagtest einmal, beim Import schamanischer Heilmethoden müsse beachtet werden, dass dies möglicherweise gegen geltende Rechtsvorschriften, zum Beispiel das Arzneimittelgesetz, verstößt. Insbesondere, wenn die importierten Methoden den Gebrauch biologischer Wirkstoffe zur innerlichen oder auch nur äußerlichen Anwendung beinhalten …

Ja, das ist richtig. In den hier beispielhaft genannten Pilzen ist als psychoaktiver Wirkstoff das natürliche Alkaloid Psilocybin enthalten. Die Ayahuasca-Pflanzenmischungen wiederum enthalten das Halluzinogen Dimethyltryptamin (DMT). Diese Substanzen gelten gemäß dem Betäubungsmittelgesetz als nicht verkehrsfähig, und ihre Anwendung – zu welchem Zweck, mit welcher Intention und in welchem Kontext auch immer – ist verboten und wird strafrechtlich verfolgt.

Unabhängig davon müssen beim Gebrauch jeglicher – auch nicht dem Betäubungsmittelgesetz unterstehender – Substanzen in einem westlich-therapeutischen oder neo-schamanischen Kontext auch die Rechtsvorschriften des Arzneimittelgesetzes (AMG) beachtet werden. Das AMG dient dem Verbraucherschutz und soll insbesondere den Schutz der Menschen vor möglichen Gesundheitsschäden durch nicht oder nur unzureichend auf Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit geprüfte Stoffe gewährleisten. Nach der Arzneimitteldefinition des AMG stellt auch jegliches (zum Beispiel aus indigenen Kulturen importierte) pflanzliche oder andere Heilmittel, in welcher Zubereitungsform auch immer, ein Arzneimittel dar. Als solches muss es sämtliche Phasen der klinischen Prüfung gemäß AMG durchlaufen haben und zur Anwendung bei Menschen amtlich zugelassen sein. Das ist bei den Heilmitteln außereuropäischer indigener Kulturen in der Regel nicht der Fall – sofern sie nicht bereits von der westlichen Pharmaindustrie gekapert wurden und als Medikament oder Nahrungsergänzungsmittel vermarktet werden wie zum Beispiel Extrakte aus Ginkgo, Kava Kava und Maca.

In schamanisch geprägten außereuropäischen Gesellschaften gelten zum Beispiel bewusstseinsverändernde Pilze, der San Pedro-Kaktus oder das Ayahuascagebräu als probate und anerkannte Heilmittel mit langer kultureller Tradition und rituellem Gebrauch. In unseren Breitengraden führt ihr illegaler Status jedoch dazu, dass das nicht nur die Patienten verunsichert und sie möglicherweise unbekannten Gesundheitsrisiken aussetzt. Auch die verantwortlichen Therapeuten – selbst die wohlmeinenden und gut informierten unter ihnen – gehen dabei hohe Risiken ein. Welche gesundheitlichen Risiken gäbe es möglicherweise?

Psilocybinhaltige Pilze, der meskalinhaltige San-Pedro-Kaktus, DMT-haltige Ayahuasca-Pflanzenmischungen und andere psychoaktive Substanzen wirken immer auf den ganzen menschlichen Organismus. Sie können bei nicht fachgerechter Anwendung, bei falscher Dosierung oder auch in einem ungeeigneten Setting zu einer gesundheitsgefährdenden Beeinträchtigung sowohl körperlicher als auch psychischer Funktionen führen, insbesondere bei vorbestehenden somatischen oder psychischen Erkrankungen. Diese werden durch den Gebrauch der psychoaktiven Substanzen eben nicht automatisch oder auf magische Weise geheilt, sondern können sich unter Umständen sogar verschlimmern. Als Kontraindikation für ihren Gebrauch müssen alle ernsthaften internistischen und neurologischen Erkrankungen sowie psychotische oder wahnhafte Störungen, schwere affektive – also depressive, manische oder bipolare – Störungen, schwere Angsterkrankungen, schwere Persönlichkeitsstörungen oder auch eine vorbestehende Suchtmittelproblematik angesehen werden. Besondere Vorsicht ist darüber hinaus geboten bei regelmäßiger Einnahme von Medikamenten, da es möglicherweise zu unvorhersehbaren Wechselwirkungen kommt. Auch sollte bei einer Schwangerschaft vom Gebrauch psychoaktiver Substanzen unbedingt abgesehen werden.

Was ist mit der Wirkung der genannten psychoaktiven Substanzen auf die Psyche? Kann es nicht sein, dass unter ihrer Einwirkung auf das Nerven- und Gesamtsystem psychische Anteile und Unbewusstes zu Tage treten, auf die Klienten nicht vorbereitet und für die Therapeuten nicht geschult sind?

Dies ist ein wichtiger Hinweis. Halluzinogene und andere ähnlich wirkende psychoaktive Substanzen induzieren einen passageren außergewöhnlichen Bewusstseinszustand mit erhöhter innerer Reizproduktion und veränderter kognitiver Informationsverarbeitung, einhergehend mit Veränderungen der Wahrnehmung, des Denkens und des Selbsterlebens sowie einer Aktivierung von ansonsten unterschwelligen oder verdrängten beziehungsweise unbewussten Erlebnisinhalten. Dies wurde zum Beispiel in den 1950er- bis 1980er-Jahren von der Psycholytischen Therapie zur Intensivierung und Vertiefung des therapeutischen Erkenntnisund Veränderungsprozesses genutzt. Man setzte hierfür LSD oder ähnlich wirkende psychoaktive Substanzen als Hilfsmittel in der Psychotherapie von neurotischen und psychosomatischen Störungen ein. Heute ist das aufgrund der genannten gesetzlichen Restriktionen nicht mehr zulässig. Bei unvorbereiteten, psychisch labilen, ich-schwachen oder an einer schweren psychischen Störung erkrankten Personen besteht tatsächlich ein erhöhtes Risiko für unerwünschte abnorme und angsterfüllte Erlebnisreaktionen und andere psychopathologische Symptome. Dasselbe gilt bei einem ungeeigneten Setting ohne ausreichenden Angstschutz und ohne die haltgebende Funktion eines erfahrenen Therapeuten. Die Symptome können bis hin zur Entwicklung einer reaktiven Mini-Psychose reichen, die bei einer fachgerechten psychiatrischtherapeutischen Betreuung jedoch in der Regel komplikationslos wieder abklingt.

Vielen Dank, Michael, für das erhellende Gespräch.

Das Interview führte Claudia Müller-Ebeling.

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Dr. med. Michael Schlichting war als Psychiater und Psychotherapeut jahrzehntelang Oberarzt an einer psychiatrischen Klinik in Göttingen und danach an universitären Einrichtungen in Basel und Bern tätig. Seit 2017 arbeitet er als forensisch-psychiatrischer Gutachter in eigener Praxis in Basel.

Dieser Artikel ist online zu finden:
http://dx.doi.org/10.1055/a-1212-9776


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Abb. 1 Psilocybinhaltige Pilze: In indigenen kulturellen und rituellen Kontexten können sie ihre volle heilige und heilsame Kraft entfalten. In der westlichen Welt werden sie in der Regel auf ihre psychotrope Wirkung reduziert genutzt – und so nicht nur zum rechtlichen, sondern auch gesundheitlichen Risiko (Symbolbild). © Alexander / stock.adobe.com
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Dr. med. Michael Schlichting war als Psychiater und Psychotherapeut jahrzehntelang Oberarzt an einer psychiatrischen Klinik in Göttingen und danach an universitären Einrichtungen in Basel und Bern tätig. Seit 2017 arbeitet er als forensisch-psychiatrischer Gutachter in eigener Praxis in Basel.