Hebamme 2020; 33(04): 50-56
DOI: 10.1055/a-1213-8039
Wochenbett & 1. Lebensjahr
Fortbildung

Sensorische Verarbeitungsstörung bei Säuglingen – wie Hebammen unterstützend begleiten können

Julia Bauschke
,
Silke Scholz
 

Regulationsstörungen bei Säuglingen sind für Familien oft sehr belastend. Hebammen, als wichtige Ansprechpartnerinnen und Vertrauenspersonen, leisten hier die entscheidende Unterstützung. Zudem lassen sich durch frühzeitige und vorbeugende Interventionen Entwicklungsrisiken positiv beeinflussen.


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Hintergrund

Fallbeispiel: Eine Hebamme besucht eine junge Familie mit ihrer neugeborenen Tochter. Sie hat schon viele Familien betreut und kennt sich gut aus mit den Fragen und Bedürfnissen frischgebackener Eltern. Die Mutter öffnet die Tür. In ihrem Arm hält sie ihre Tochter aufrecht ganz eng am Körper. Sie zeigt mit dem Finger auf ihren Mund und deutet an, dass die Hebamme leise sein müsse, da die Tochter gerade eingeschlafen sei.

Hebammen sind vom ersten Tag an bei den Familien und gerade in der Anfangsphase meist wichtige Bezugspersonen, denen sich die Eltern anvertrauen. Für uns als Ergotherapeutinnen mit der Spezialisierung in der Säuglingstherapie ist die Zusammenarbeit mit Hebammen bedeutsam, da diese besonders bei Regulationsstörungen der frühen Kindheit eine gute Ressource darstellen. Wenn Symptome wie exzessives Schreien, Fütterprobleme und Schlafschwierigkeiten über mehrere Wochen bestehen bleiben, sind gerade Hebammen bei der Vermittlung von weiterführenden Maßnahmen und Therapien in Absprache mit dem behandelnden Arzt wegweisend.


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Diagnose Regulationsstörung

Als die Mutter sich mit der Hebamme in der Küche hinsetzt, wird das Kind unruhig. Sofort springt die Mutter auf und läuft im Raum umher. Sie erzählt, dass das Kind nur schlafe, wenn sie in Bewegung bleibe. Zudem berichtet die Mutter, dass geringste Störungen, wie das Knarren einer Tür, ihre Tochter wecken würden. Die Eltern müssten für jedes Schläfchen großen Aufwand betreiben, das Kind lange im Arm umhertragen und könnten es nicht ablegen, da es sonst sofort aufwachen würde. Generell hätte das Kind tagsüber nur sehr kurze Schlafphasen von maximal 30 Minuten. Es klingt so, als müssten die Eltern außergewöhnlich viel dafür tun, den Alltag mit ihrem Kind zu gestalten. Die Hebamme sieht Anzeichen, die auf Schwierigkeiten bei der Regulation hindeuten, vielleicht sogar auf eine Regulationsstörung.

DEFINITION

Die Diagnose Regulationsstörung wird im deutschsprachigen Raum als Teil eines multifaktoriellen Störungskonzepts erfasst. Dem Kind zuordenbare Symptome sind demnach regelhaft mit dysfunktionalen Mustern der Eltern-Kind-Interaktion verbunden.

Entsprechend der AWMF-Leitlinie „Psychische Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter“ werden zwei Subtypen unterschieden [5]:

  • Typ A: Regulationsstörung ohne Störung der sensorischen Verarbeitung

  • Typ B: Regulationsstörung mit Störung der sensorischen Verarbeitung

Typ A wird primär durch die Störung der Eltern-Kind-Interaktion gekennzeichnet. Durch alltägliche Krisen, wie die Verkennung kindlicher Signale, die überschießenden Reaktionen des Kindes sowie die Summation kleiner Missverständnisse und Unachtsamkeiten ist die Feinabstimmung zwischen Eltern und Kind beeinträchtigt. Dabei sind mindestens zwei Regulationsbereiche betroffen. Die betroffenen Regulationsbereiche und Symptome können typischerweise sehr variabel bezüglich der Intensität, Dauer und Häufigkeit ihres Auftretens sein und sich im Entwicklungsverlauf ablösen.

Häufig betroffene Regulationsbereiche sind Schlafen, Füttern, Beruhigung (versus exzessives Schreien) und der Umgang mit stressigen Situationen.

Die Regulationsstörung Typ B ist als anlagebedingte Störung der Verarbeitung sensorischer Stimuli zu verstehen. Betroffene Kinder zeigen aufgrund der sensorischen Verarbeitungsstörung persistierende Schwierigkeiten in der Eigenregulation von Verhalten, Emotion und Motorik, die u. a. spezifische Verhaltensmuster nach sich ziehen [10] [9].

Laut der oben erwähnten Leitlinie unterscheiden sich Typ A und Typ B zudem darin, dass sich bei Typ A die betroffenen Regulationsbereiche innerhalb weniger Wochen ändern können. Bei einem Kind, das anfangs gut getrunken hat, zeigen sich nach einigen Wochen beispielsweise Schwierigkeiten beim Stillen. Das Kind trinkt unruhig, ist schnell ablenkbar und überstreckt sich häufig. Dann wird das Stillen wieder entspannter, dafür wird plötzlich das Einschlafen deutlich aufwendiger und die Schlafphasen werden kürzer. Anders bei Typ B: Aufgrund einer zugrundeliegenden Verarbeitungsstörung, die in der Regel nicht von selbst verschwindet, bleibt das Trinken schwierig.

Aus der Beobachtung der Fälle in unserer ergotherapeutischen Praxis wissen wir, dass der Übergang zwischen den beiden Typen oft fließend ist. Einerseits führen sensorisch bedingte Schwierigkeiten typischerweise auch zu Störungen in der Eltern-Kind-Interaktion. Die Regulationsstörung bleibt bestehen, obwohl sich die sensorische Verarbeitung schon deutlich verbessert hat. Andererseits ist oft nur schwer zu definieren, ab wann eine Besonderheit der sensorischen Verarbeitung soweit beeinträchtigt ist, dass sie die primäre Ursache für die Regulationsstörung darstellt. Es ist auch vorstellbar, dass die dysfunktionale Interaktion von Anfang an das Hauptproblem darstellte.

Für das obengenannte Beispiel bedeutet das: Das Kind scheint eine Regulationsstörung des Typs B zu haben: Man kann eine Überreaktivität bei vestibulären Reizen beobachten. Lageveränderungen wie das Ablegen scheinen es sehr zu irritieren. Auch waagrechte Positionen (z. B. Schlafen im Bett oder in der Wiegestellung im Arm der Mutter) empfindet das Kind oft als unangenehm, da in dieser Lage das Gleichgewichtssystem mehr Input bekommt, als wenn es aufrecht auf dem Arm gehalten würde. Bei einer Regulationsstörung können die sensorischen Informationen nicht angemessen verarbeitet werden. Die Mutter kennt diesen Zusammenhang nicht und fragt sich, was sie falsch macht. Da der Alltag meist sehr anstrengend ist, ist sie erschöpft und dadurch manchmal weniger feinfühlig.

All diese Aspekte zusammengenommen können die intuitiven Kompetenzen der Eltern beeinträchtigen und langfristig auch Auswirkungen auf die Eltern-Kind-Beziehung haben.


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Ursachen

Die Mutter berichtet von ihrer Freundin und deren Sohn, der ebenfalls nur im Arm einschlafe. Das würde jedoch nicht so lange dauern. Er schreie auch nicht dabei und wache entspannt und friedlich auf. Die Mutter fragt sich, warum es bei ihr und ihrem Kind so anstrengend ist.

Als Bedingungsfaktoren für die Entstehung von Regulationsstörungen beschreiben Papousek et al. pre-, peri- und postnatale Risikofaktoren, die sie wiederum in organische und psychosoziale Risikofaktoren unterteilen [9].

In einer Stichprobe der Spezialambulanz am Kinderzentrum München wiesen ca. 70 % der Mütter pränatal mindestens einen der erhobenen organischen Risikofaktoren auf: u. a. Hyperemesis, vorzeitige Wehen mit medikamentöser Behandlung, Nikotinkonsum, Zustand nach Infertilisationsbehandlung, Zustand nach  >  2 Aborten. Perinatal sind vor allem Kaiserschnitt, Mangelgeburt, Frühgeburt und Forzeps oder Vakuumextraktion als organische Risikofaktoren angegeben. Diese Risikofaktoren finden sich häufig auch in der Anamnese unserer Klienten.

Bei den psychosozialen Risikofaktoren sind laut Papousek vor allem Paarkonflikte, Stress und Ängste in der Schwangerschaft, psychische Störungen der Mutter, aber auch belastete Beziehungserfahrungen aus der Kindheit der Eltern und unbewältigte Traumata der Eltern relevant für die Entstehung von Regulationsstörungen.

In diesem Zusammenhang ist es interessant zu betrachten, in welcher Häufigkeit Regulationsstörungen auftreten. In einer Untersuchung von Wolke et al. zu Schrei-, Schlaf- und Fütterproblemen wurden bei 14,6 % der Kinder einer nicht klinischen Stichprobe von 430 Kindern im Alter von 5 Monaten mindestens zwei dieser Probleme festgestellt [12].

Laut einer Erhebung der Spezialsprechstunde des Münchner Kinderzentrums tritt vor allem das exzessive Schreien fast nie isoliert auf. Bei der klinischen Stichprobe zeigten sich bei allen Säuglingen zwischen dem 4. und 6. Lebensmonat zusätzlich weitere Regulationsprobleme (90,7 % Schlafprobleme, 41,2 % Fütterprobleme, 13,2 % disphorische Unruhe) [9].

Im Bereich der Regulation sind nach einem Modell von Winnie Dunn die sensorischen Reizschwellen und die individuellen Selbstregulationsprozesse entscheidend [3]. Kinder mit einer niedrigen Reizschwelle brauchen nur wenige Reize, um ihre Reizschwelle und damit eine Grunderregung im Gehirn zu erreichen. Weitere Reize führen dann schnell zur Übererregung, die sich nach außen als Hyper- oder auch Überreaktivität darstellt. Da bei Säuglingen die Fähigkeit zur aktiven Selbstregulation noch nicht ausreichend ausgeprägt ist, reagieren diese auf die Übererregung häufig mit Schreien, meist schon vom ersten Lebenstag an.

Kinder mit einer hohen Reizschwelle verpassen häufiger Sinnesreize und brauchen eine höhere Intensität des Reizes, ehe sie ihn wahrnehmen. Sie sind damit hypo- bzw. unterreaktiv. Deshalb sind diese Kinder oft entspannt und lassen sich weniger vom Umfeld stören.


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Typische Anzeichen für Regulationsstörungen

In der folgenden Übersicht sind typische Beobachtungen aus unserem Praxisalltag von Säuglingen mit sensorischen Verarbeitungsstörungen dargestellt.

Überreaktiv/überempfindlich

Taktile Verarbeitung:

  • dichter Körperkontakt wird häufig nur beim Stillen ertragen

  • Streicheln beruhigt nicht; Kind überstreckt sich beim Kuscheln

  • Unwillen beim An- und Ausziehen und bei der Körperpflege

  • Fütterschwierigkeiten beim Übergang zur Beikost

  • oftmals kein Nuckel

Vestibuläre Verarbeitung:

  • häufige Schreckreaktion / aufgerissene Augen

  • häufig zurückgezogene Schultern; Kind „klebt“ auf der Unterlage

  • viel Strecktonus

  • Unwillen nach Lagewechsel; Kind bevorzugt aufrechte Positionen

  • häufig vegetative Reaktionen wie Spucken; kaltschweißige Hände / Füße

  • Schreien beim Kinderwagen- und Autofahren

Unterreaktiv / unterinformiert

  • die Kinder wirken oft pflegeleicht

  • schlafen viel, sind häufig unteraktiviert

  • bewegen sich selbst wenig; werden gern bewegt

  • wenig Mimik; oft mangelnder Mundschluss

  • Exploration durch stereotypes Klopfen

  • wenig Bein- und Fußbewegungen

  • einseitiges Spiel

Stimulationssuchend

  • oft vom ersten Lebenstag an überdurchschnittlich lebhaft und schwierig

  • selten zufriedener Wachzustand

  • selten innehaltend; selbst beim Stillen oder Füttern hektisch

  • häufig kräftiges Klopfen auf der Unterlage

  • findet tagsüber oft schwer in den Schlaf; kurze Schlafphasen

  • viele Entwicklungsschritte scheinbar früh, aber nicht in ausreichender Qualität und Wiederholung (z. B. Krabbeln ab 5. Monat)

In der Zuordnung und Erkennung der sensorischen Verarbeitungsmuster entsteht die Schwierigkeit, dass das Verhalten der Säuglinge durch erste Eigenregulationsversuche ein scheinbar paradoxes Erscheinungsbild zeigt. So kann der primär überreagierende Säugling seine Reizaufnahme als Schutzreaktion zeitweise „abschalten“ und dadurch unterinformiert wirken. Diese Kinder fallen teilweise erst nach einigen Lebenswochen auf oder werden übersehen.

Dieses Muster beobachten wir häufig bei Frühgeborenen und Säuglingen mit schwierigen Geburten wie beispielsweise einer Not-Sectio. Wenn diese Babys dann wacher werden, kommt die Überreaktivität wieder zum Vorschein und sie schreien dann in den frühen Abendstunden oft über mehrere Stunden lang und sind mit den Methoden, die sich tagsüber bewährt haben, nicht mehr zu beruhigen.

Der unterreagierende Säugling hingegen wird zeitweise in dem Wunsch, etwas zu spüren sehr aktiv und beginnt dann (vorzugsweise auch abends) vermehrt zu schreien. Dies kann dadurch erklärt werden, dass sich die Kinder aufgrund ihrer Reizsuche mit Informationen „überladen“ und es nicht mehr schaffen, diese ausreichend zu verarbeiten.


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Bedeutung von Oxytocin

Durch das Herumtragen in der Küche ist das Kind wieder im Arm der Mutter eingeschlafen. Die Mutter erzählt flüsternd, dass sie ihre Tochter schon den ganzen Tag herumträgt, da sie nur am Körper der Eltern einschlafen kann und auch sonst schnell unzufrieden sei, wenn man sie ablege. Der Hebamme ist diese Situation auch von anderen Eltern gut bekannt.

Grundsätzlich ist Körperkontakt die beste und natürlichste Methode, Babys zu beruhigen. In vielen Studien, z. B. in der Arbeit von Holt-Lunstad, Birmingham und Light oder auch Feldman et al., konnte nachgewiesen werden, welche positiven Auswirkungen ein entspannter Körper- und Blickkontakt sowohl auf die Interaktionsfähigkeit als auch auf den physischen, psychischen und emotionalen Gesundheitszustand hat [6] [4]. Vor allem in den ersten Lebenswochen, in denen ein Baby mit vielen ihm noch unbekannten Reizen aus der Umwelt in Kontakt kommt, ist die Nähe zu den Eltern eine wichtige Regulationshilfe.

INFO

Oxytocin

Durch Körperkontakt und Blickkontakt wird das Hormon Oxytocin im Körper freigesetzt, welches laut Jansen, Streit, Moberg u. a. folgende Effekte im Körper erzielt [11].

  • Stressabbau / Regulation von Stresshormonen

  • wirkt regulierend auf den Blutdruck

  • unangenehme Situationen werden besser ertragen / verarbeitet

  • Schmerz wird weniger empfunden

  • baut Bindung auf

  • gibt Gefühl von Geborgenheit

  • hilfreich bei der generellen Reizverarbeitung

  • hat einen günstigen Einfluss auf das Schlafverhalten

  • hat einen günstigen Einfluss auf das Lernen

Aus unserer Sicht können sich Kinder mit einer ausgewogenen Regulationsfähigkeit, die im Körperkontakt tief entspannen, dann auch ohne direkten Körperkontakt gut regulieren.

Jansen, Streit und Nantke ermittelten in ihrer Studie mit 20 Säuglingen, dass Säuglinge mit einer Regulationsstörung einen schlechteren Körperkontakt hatten. Das beobachten wir auch häufig in der Praxis. Der Körperkontakt ist dann oft angespannt und störanfällig. Er gelingt häufig nur unter ganz konkreten Bedingungen, z. B. nur beim Stillen, im Stehen oder mit Schuckeln.

Jansen und Streit wiesen zudem nach, dass Kinder mit einem erhöhten Oxytocinspiegel besser lernen [8]. Das erleichtert sowohl das Erlernen von Eigenregulation als auch das Lernen in allen weiteren Entwicklungsbereichen.


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Der Alltag mit einem regulationsgestörten Säugling

Die Mutter geht zum Wickeltisch, um ihrer Tochter die Windel zu wechseln. Sobald sich die beiden dem Wickeltisch nähern, wirkt die Mutter angespannt. Das Kind beginnt prompt zu schreien, als es auf dem Wickeltisch abgelegt wird. Das Wickeln dauert nur wenige Minuten, da die Mutter sich beim Aus- und Anziehen und beim Säubern beeilt. Dabei versucht sie, ihre Tochter durch Ansprache und vorsichtiges Streicheln zu beruhigen.

Im Alltag ist häufig zu beobachten, dass Eltern schneller und vielleicht auch hektischer im Handling werden, wenn ein Säugling beim Wickeln anfängt zu schreien. Die Eltern wollen die unangenehme Situation verständlicherweise sowohl für den Säugling als auch für sich selbst möglichst schnell beenden.

Dies kann sich nach unseren Erfahrungen langfristig ungünstig auswirken:

  • die Reize kommen zu schnell hintereinander

  • es gibt keine Verarbeitungspausen

→ Die Einordnung von Reizen und die sensorische Verarbeitung bleiben schwierig.

Außerdem:

  • der Säugling und die Eltern machen keine positive Erfahrung mit der Wickelsituation; das Wickeln wird mit unangenehmen Gefühlen verknüpft

  • der Säugling und dessen Eltern empfinden Stress in der Situation

  • die Eltern erleben sich als wenig kompetent, ihr Kind zu verstehen und zu beruhigen

→ Die Interaktion und das Lernen bleiben schwierig.


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Voraussetzung für gutes Lernen schaffen

Das Einordnen von Informationen und somit das Lernen wird aus unserer Sicht bei allen Regulationsstörungen durch die Beachtung folgender Grundsätze begünstigt:

  • Ankündigung vor Beginn

  • Langsamkeit der einzelnen Handlungsschritte („Zeitlupe“)

  • Pausen zwischen jedem Handlungsschritt

  • sowohl die Aufforderung als auch das Anfassen dürfen dafür eindeutig und kräftig sein

  • Wiederholungen mit Rhythmus erleichtern die Regulation durch die Erwartbarkeit

Handling im Alltag

Das Wickeln könnte wie in [Abb. 1] bis [Abb. 5] dargestellt aussehen:

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Abb. 1 Kind aufrecht nah fest am Körper halten, Bewegung ankündigen: „Achtung, ich lege dich ab!“ Kurz warten, dann erst beginnen. (Quelle: Manuela Clemens; www.manuelaclemens.de)
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Abb. 2 LANGSAMES (!) Ablegen mit flächigem Druck am Körper. (Quelle: Manuela Clemens; www.manuelaclemens.de)
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Abb. 3 Druck auf den Brustkorb, Pause. (Quelle: Manuela Clemens; www.manuelaclemens.de)
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Abb. 4 Lob, positive Verstärkung über Mimik und Stimme. (Quelle: Manuela Clemens; www.manuelaclemens.de)
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Abb. 5 Wickeln mit Rotation der Hüfte. Langsam! (Quelle: Manuela Clemens; www.manuelaclemens.de)

Nach dem Wickeln und vor dem langsamen Hochnehmen, sollte es wiederum eine Pause mit Druck auf den Brustkorb geben. Erst dann wird der nächste Schritt angekündigt und ausgeführt.


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Was sonst noch hilft

Bei einer Regulationsstörung ist die Fähigkeit der Anpassung beeinträchtigt. Eine große Unterstützung für die Regulation ist daher die Erwartbarkeit von externen Reizen, Situationen und Anforderungen. An etwas, was das Baby erwartet oder schon kennt, kann es sich leichter anpassen, als wenn etwas plötzlich passiert oder unbekannt ist. Wie bereits beschrieben, ist dies unter anderem mit dem Ankündigen von Veränderungen zu erreichen. Aber auch Rituale (z. B. das Hinlegen zum Wickeln immer mit dem gleichen Spruch und auf die gleiche Art) und feste Tagesstrukturen (z. B. immer zur gleichen Schlafenszeit mit dem Kinderwagen fahren) helfen dem Baby bei der Anpassung und damit bei der Regulation.

Bei Schwierigkeiten mit der Regulation ist der Familie häufig mit den oben genannten Tipps schon gut geholfen. Wenn die Schwierigkeiten länger als vier Wochen anhalten, besteht der Verdacht auf eine Regulationsstörung mit sensorischer Verarbeitungsstörung. In diesem Fall ist eine therapeutische Intervention und Diagnostik notwendig. Die Kinder sollten unbedingt der Kinderärztin oder dem Kinderarzt vorgestellt werden. Hebammen könnten den Familien vorab ein Tagesprotokoll an die Hand geben. Es kann im Gespräch mit der Kinderärztin oder dem Kinderarzt helfen, einen Eindruck zu vermitteln, wie sich das Kind im Lauf des Tages verhält. Während der Untersuchung kann es einen anderen Eindruck hinterlassen, weil es z. B. herabschaltet oder schläft, statt zu schreien.


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Ausblick

Die Hebamme hat der Mutter gut zugehört und nimmt den Bericht sehr ernst. Sie weiß, dass junge Mütter oft gesagt bekommen, das würde sich verwachsen und dass alle Kinder schreien. Sie gibt der Mutter eine kurze Erklärung zu den möglichen Wahrnehmungsbesonderheiten ihrer Tochter und den damit verbundenen Regulationsschwierigkeiten. Beim nächsten Wickeln zeigt sie ihr günstige Möglichkeiten für das Handling. Nach einer Weile liegt die Tochter nackt auf dem Wickeltisch und „plaudert“ vergnügt mit ihrer Mutter, die mit ihr kleine Krabbelspiele spielt. Die Mutter weiß jetzt, dass sie beim Wickeln mehr Pausen machen muss und die Füßchen ruhig etwas kräftiger anfassen darf. Sie ist sehr beruhigt, dass sie keine Schuld am Schreien ihres Kindes hat und dass sie nun besser weiß, was helfen kann.

Auch wenn bei vielen Säuglingen die Regulationsschwierigkeiten vorübergehend sind, kann diese Situation von den Familien als sehr belastend empfunden werden. Informationen für die Eltern und situationsbedingte Beratung, z. B. durch Hebammen, entlasten in diesen Fällen und können bereits eine ausreichende Unterstützung sein. Dies trifft besonders dann zu, wenn nur ein Regulationsbereich betroffen ist und / oder die Eltern über gute intuitive Kompetenzen verfügen.

Auf der anderen Seite beschreiben Papousek et al., dass frühkindliche Regulationsstörungen als Vorbote einer späteren Verhaltensauffälligkeit betrachtet werden können [9]. In einer Prospektivstudie der Münchner Spezialambulanz hatten lediglich 9,9 % von den Kindern, die erstmals mit 7 Monaten oder später vorgestellt wurden, im ersten Lebenshalbjahr keine Verhaltensschwierigkeiten. In derselben Studie zeigten sich deutliche Hinweise, dass besonders das exzessive Schreien ein Risikofaktor für klinisch relevante Verhaltensauffälligkeiten im Alter von 30 Monaten ist.

Die nachhaltigen Folgen von frühen Entwicklungsrisiken sind nach Papousek allerdings nicht unausweichlich, sondern hängen von weiteren Entwicklungsbedingungen ab [10]. Die Prognose der frühkindlichen Regulationsstörungen ist umso ungünstiger, je mehr Regulationsbereiche betroffen sind, je beeinträchtigter die Interaktion, je belasteter das familiäre Umfeld und je gefährdeter die organische Entwicklung des Kindes ist. Vorbeugende und frühzeitige Intervention haben dementsprechend gerade für stärker belastete Familien eine große Bedeutung, weil dadurch Entwicklungsrisiken positiv beeinflusst werden können.

Die oben beschriebenen frühen Interventionen, wie sie z. B. von Hebammen als wichtigen Ansprechpartnerinnen und Vertrauenspersonen der Familien ausgeführt oder angebahnt werden können, sind niederschwellig und wenig invasiv möglich und gleichwohl erfolgversprechend. Diese Interventionen bilden damit eine bedeutsame Ressource in der Unterstützung der Familien und in der Prävention von Entwicklungsstörungen.


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Autorinnen / Autoren

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Julia Bauschke ist Ergotherapeutin und Säuglingstherapeutin nach IntraActPlus (IAP) mit zwei Ergotherapiepraxen in Berlin.

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Silke Scholz ist Ergotherapeutin und Säuglingstherapeutin (IAP). Sie ist niedergelassen in eigener Praxis in Berlin.

  • Literatur

  • 1 Borchardt D, Borchardt K, Kohler J. Sensorische Verarbeitungsstörung: Theorie und Therapie der Sensorischen Integration. 1. Aufl. Idstein: Schulz-Kirchner-Verlag; 2005
  • 2 Dunn W. Sensory Profile – Manual (deutsche Fassung). Pearson; 2017
  • 3 Dunn W. The impact of sensory processing abilities on the daily lives of young children and their familys: A conceptual model: Infants & Young Children; 1997: 23-25
  • 4 Feldman R, Gordon I, Schneiderman I, Weisman O, Zagoory-Sharon O. Natural Variations in maternal and paternal care are associated with systematic changes in oxytocin following parent-infant contact. Psychoneuroendocrinol 2010; 35 (08) : 1133-1141
  • 5 von Gontard A, Möhler E, Bindt C. S2k Leitlinie 028 / 041 - Psychische Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter: AWMF online Stand 09 / 2015
  • 6 Holt-Lunstad J, Birmingham WA, Light KC. Influence of a „warm touch“ support enhancement intervention among married couples on ambulantory blood pressure, oxytocin, alpha amylase and cortisol. Psychosom Med 2008; 70 (09) : 976-985
  • 7 Jansen F, Streit U. Fähig zum Körperkontakt: Körperkontakt und Körperkontaktstörungen – Grundlagen und Therapie – Babys, Kinder & Erwachsene. Berlin Heidelberg: Springer; 2004
  • 8 Jansen F, Streit U. Fähig zum Körperkontakt: Körperkontakt und Körperkontaktstörungen – Grundlagen und Therapie – Babys, Kinder & Erwachsene – IntraActPlus-Konzept. Berlin Heidelberg: Springer; 2015
  • 9 Papousek M, Schieche M, Wurmser H. Regulationsstörungen der frühen Kindheit. Frühe Risiken und Hilfen im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Beziehungen. Bern: Verlag Huber; 2004
  • 10 Papousek M. Regulationsstörungen der frühen Kindheit. In: Oerter R. von Hagen C. Röper G. Noam G. Hrsg. Klinische Entwicklungspsychologie: Ein Lehrbuch. Weinheim: Psychologie Verlags Union; 1999
  • 11 Uvnäs Moberg K. Oxytocin, das Hormon der Nähe: Gesundheit – Wohlbefinden – Beziehung. 1.. Aufl. Berlin Heidelberg: Springer Spektrum; 2016
  • 12 Wolke D, Meyer R, Ohrt B. et al. Co-morbidity of crying and feeding problems with sleeping problems in infancy: Conccurrent and predictive associations. Early Devolpment and Parenting 1995; 4 (04) : 191-207

Korrespondenzadresse


Publication History

Article published online:
24 August 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York

  • Literatur

  • 1 Borchardt D, Borchardt K, Kohler J. Sensorische Verarbeitungsstörung: Theorie und Therapie der Sensorischen Integration. 1. Aufl. Idstein: Schulz-Kirchner-Verlag; 2005
  • 2 Dunn W. Sensory Profile – Manual (deutsche Fassung). Pearson; 2017
  • 3 Dunn W. The impact of sensory processing abilities on the daily lives of young children and their familys: A conceptual model: Infants & Young Children; 1997: 23-25
  • 4 Feldman R, Gordon I, Schneiderman I, Weisman O, Zagoory-Sharon O. Natural Variations in maternal and paternal care are associated with systematic changes in oxytocin following parent-infant contact. Psychoneuroendocrinol 2010; 35 (08) : 1133-1141
  • 5 von Gontard A, Möhler E, Bindt C. S2k Leitlinie 028 / 041 - Psychische Störungen im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter: AWMF online Stand 09 / 2015
  • 6 Holt-Lunstad J, Birmingham WA, Light KC. Influence of a „warm touch“ support enhancement intervention among married couples on ambulantory blood pressure, oxytocin, alpha amylase and cortisol. Psychosom Med 2008; 70 (09) : 976-985
  • 7 Jansen F, Streit U. Fähig zum Körperkontakt: Körperkontakt und Körperkontaktstörungen – Grundlagen und Therapie – Babys, Kinder & Erwachsene. Berlin Heidelberg: Springer; 2004
  • 8 Jansen F, Streit U. Fähig zum Körperkontakt: Körperkontakt und Körperkontaktstörungen – Grundlagen und Therapie – Babys, Kinder & Erwachsene – IntraActPlus-Konzept. Berlin Heidelberg: Springer; 2015
  • 9 Papousek M, Schieche M, Wurmser H. Regulationsstörungen der frühen Kindheit. Frühe Risiken und Hilfen im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Beziehungen. Bern: Verlag Huber; 2004
  • 10 Papousek M. Regulationsstörungen der frühen Kindheit. In: Oerter R. von Hagen C. Röper G. Noam G. Hrsg. Klinische Entwicklungspsychologie: Ein Lehrbuch. Weinheim: Psychologie Verlags Union; 1999
  • 11 Uvnäs Moberg K. Oxytocin, das Hormon der Nähe: Gesundheit – Wohlbefinden – Beziehung. 1.. Aufl. Berlin Heidelberg: Springer Spektrum; 2016
  • 12 Wolke D, Meyer R, Ohrt B. et al. Co-morbidity of crying and feeding problems with sleeping problems in infancy: Conccurrent and predictive associations. Early Devolpment and Parenting 1995; 4 (04) : 191-207

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Abb. 1 Kind aufrecht nah fest am Körper halten, Bewegung ankündigen: „Achtung, ich lege dich ab!“ Kurz warten, dann erst beginnen. (Quelle: Manuela Clemens; www.manuelaclemens.de)
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Abb. 2 LANGSAMES (!) Ablegen mit flächigem Druck am Körper. (Quelle: Manuela Clemens; www.manuelaclemens.de)
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Abb. 3 Druck auf den Brustkorb, Pause. (Quelle: Manuela Clemens; www.manuelaclemens.de)
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Abb. 4 Lob, positive Verstärkung über Mimik und Stimme. (Quelle: Manuela Clemens; www.manuelaclemens.de)
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Abb. 5 Wickeln mit Rotation der Hüfte. Langsam! (Quelle: Manuela Clemens; www.manuelaclemens.de)