Anamnese
Wegen eines seit Monaten bestehenden dumpfen Schmerzes im linken distalen Unterschenkel
und – weniger ausgeprägt – seit einigen Wochen auch rechts suchte der 62-jährige Mann
eine Rheumaambulanz auf. Die Schmerzen hätten nach einer angiologischen Untersuchung
beider Unterschenkel wegen einer Varikosis begonnen und sprachen zunächst gut auf
Ibuprofen (200 mg über 10 Stunden) an, doch dann wurde ein zusätzliches Morphinpflaster
(12,5 mg/3 Tage) notwendig.
Anamnestisch war noch zu erfahren, dass der Patient wegen einer in der Vorgeschichte
diagnostizierten bipolaren Störung seit 11 Jahren eine regelmäßige laborkontrollierte
Lithiumtherapie hatte, unter der er beschwerdefrei sei. Vor 8 Jahren sei dann eine
Psoriasis capitis aufgetreten, die erfolgreich dermatologisch behandelt wurde.
Klinischer Befund
Klinisch bestand eine schmerzhafte Weichteilschwellung oberhalb des Außenknöchels
links, ohne Rötung bei leichter Unterschenkelvarikosis beiderseits. Im Ultraschall
ergab sich der Verdacht auf ein verkalktes periossäres Hämatom. Die Finger zeigten
eine mäßige Polyarthrose, aber keine Daktylitis, die Bauchhaut einzelne Psoriasiseffloreszenzen.
Labor: BKS in der 1. Stunde 61 mm, CRP 15 mg/l, Elektrolyte und Nierenwerte im Normbereich.
ANA Titer 1 : 1280 (schwach positiv); doppelsträngige DNS negativ.
Bildgebung
Die Projektionsradiogramme, das CT und die Ganzkörper-Skelettszintigraphie ([Abb. 1]a–e) zeigen knöcherne, wabig strukturierte Auflagerungen, die vom Periost der distalen
linken Fibulametadiaphyse ausgehen. Vom Gesamtaspekt her ist dieser Befund gut mit
der Diagnose einer systemischen Enthesitis (Spondarthritis) bei Psoriasis zu vereinbaren,
auch wenn die für dieses Krankheitsbild sonst so typische Kombination von Osteodestruktion
und Osteoproliferation nicht voll ausgeprägt ist. Der Begriff „systemische Enthesitis“
leitet sich von dem systemischen Auftreten destruktiv-proliferativer Skelettveränderungen
an allen Übergängen vom Periost und von Muskel- Sehnen- und Gelenkkapselansätzen –
den Enthesen [1] – am Knochen ab. Er ersetzt den konventionellen Begriff „seronegative Spond(ylo)arthritis“
[2]. Systemische Enthesitiden gibt es vor allem bei Psoriasis und Pustulosis palmoplantaris,
reaktiv z.B. bei M. Reiter, idiopathisch vor allem bei jüngeren Männern (sog. M. Bechterew/ankylosierende
Spondarthritis) und bei entzündlichen Darmerkrankungen. In der Regel lässt sich nichtinvasiv
die Diagnose aus den anamnestischen, klinischen und radiologischen Befunden stellen.
Unter der externen Verdachtsdiagnose „Ossifizierende Periostitis“ und zum Tumorausschluss
erfolgte eine offene Biopsie am linken Unterschenkel mit Entnahme von Gewebeproben
aus fibrös veränderter Muskulatur und Verknöcherungen von der Oberfläche der distalen
Fibulametaphyse beugeseitig und medial.
Abb. 1a–e: Pelzig-wabige Verknöcherungen, die der distalen linken Fibuladiametaphyse aufsitzen
(a, b). Die CT-Aufnahmen (c, d) beweisen, dass die darunter gelegene Kompakta solide
ist. Auf der Gegenseite überraschenderweise ähnliche, aber weniger ausgeprägte Periostverknöcherungen.
Das Ganzkörperskelettszintigramm (e) zeigt in den distalen Fibulae – links stärker
als rechts – pathologische Aktivitätseinlagerungen. Ebenfalls überraschend findet
sich eine starke exzentrische Tracereinlagerung in BWK 8 und 9. Radiologisch stellten
sich dort ausgeprägte hyperostotische Veränderungen dar, wie sie typisch für eine
systemische Enthesits (sog. seronegative Spondarthritis) sind. Insgesamt betrachtet
lässt sich unter Berücksichtigung der psoriatischen Veränderungen an der Kopf-und
Bauchhaut der Schluss ziehen, dass der Patient eine psoriatische systemische Enthesitis
hat. Damit wäre eine histologische Abklärung aus radiologischer Sicht nicht notwendig
gewesen. a–c Plain radiographs of the left fibula show hairy and bubble-forming ossifications at
the distal metaphyseal bone surface (a, b), without interruption of the underlying
corticalis as CT sections reveal (c, d). The right-sided fibula shows similar lesions,
albeit in a lesser degree. Accordingly, bone scintigraphy shows hot spots at both
distal fibulae, although in a different activity. Additionally, high activity was
displayed at the 8th and 9th thoracic vertebra in a somewhat excentric configuration,
caused by hyperostotic spurs as plain radiographs reveal. This is a highly characteritic
finding in systemic enthesitis (so called seronegative spondylarthritis). Taken together
the patients history, the skeletal findings and the psoriatic lesions, from a radiologic
perspective the diagnosis of a systemic enthesitis in lithium related psoriasis can
be reasonable established – without the need of a bioptic confirmation.
Histopathologie
Histologisch fand sich ein fibrös verbreitertes Periost mit unregelmäßiger metaplastischer
Knochenbildung und bereits fokaler Ausreifung zu lamellärem Knochen sowie vereinzelte
knorpelige Matrix. Eine geringe perivasale lymphozytäre Infiltration war ebenfalls
nachweisbar. Die aufliegende Skelettmuskulatur war in den Prozess einbezogen, mit
Einschluss stehengebliebener Muskelfasern im fibrösen Gewebe [Abb. 2 a–d]. Immunhistologisch fiel die MDM2-Reaktion negativ aus. Molekularpathologisch (FISH)
fand sich keine Amplifikation des MDM2-Gens. Zusammenfassend lag somit rein histomorphologisch
eine chronische ossifizierende Periostitis mit Einbeziehung der angrenzenden Skelettmuskulatur
vor.
Abb. 2 a–d: Histobioptische Befunde (HE, 10X). a) Umbau der Kortikalis (*) mit Fibrose und
metaplastischer Verknöcherung im Periost (←); b) Zellreiche fibrosierende Entzündung
an der Knochenoberfläche (←) mit metaplastischer Knochen(*)- und Knorpel(∆)-Bildung;
c) Zellreiche Fibrose mit reaktiven Kernatypien (*) und unregelmäßige Knochenstruktur
können die Differenzialdiagnose zu einem Low-grade-parossalen-Osteosarkom in der Biopsie
schwierig machen; d) Einbeziehung der angrenzenden Skelettmuskulatur (*) in die Enthesitis
mit reaktiver lymphozytärer Entzündung in der Grenzzone können histologisch einen
invasiven Prozess vortäuschen. a–d Histobioptic findings (HE, 10X). (a) Compacta remodelling (*) and periostal spindle
cell fibrosis with metaplastic bone formation (←); b) Cellular fibrosing inflammation
at the bone surface (←) with calluslike bone (*)- and cartilage (∆)-formation; c)
spindle cell proliferation with reactive nuclear atypia (*) and irregular bone structure
may be focally very similar to a low grade parosteal osteosarcoma. Correct assessment
of the process within the limited tissue of a biopsy, exclusively on histologic grounds
can become problematic; d) Inclusions of muscle parenchyma within the process with
dense lymphocytic infiltrates in the border zone may mimic an infiltrative tumor.
Additional clinical, imaging and scintigraphic findings may be of paramount importance
to reach the correct diagnosis.
Diagnose in der Zusammenschau aller klinischen, radiologischen und histopathologischen
Befunde
Systemische Enthesitis der distalen Fibulae – links stärker als rechts – unter Lithiumerhaltungstherapie
mit wenig florider Psoriasis.
Diskussion
Die Enthesen sind spezialisierte Übergangszonen in der Insertion von Muskelsehnen
und Gelenkkapseln an der Knochenoberfläche und dienen der Kraftübertragung [3]. Mehr als 100 derartige Strukturen liegen im menschlichen Körper vor. Enthesitiden
unterscheiden sich fundamental von der Synovialitis. Während bei der Enthesitis eine
extraartikuläre Entzündung des Bindegewebes und Knochens vorliegt, ist bei der Synovialitis
die intraartikuläre Synovialmembran betroffen [4], [5].
Histologisch unterscheidet man bei den Enthesen den fibrösen vom fibrokartilaginären
Typ. Bei ersterer, der selteneren und typischerweise metadiaphysär gelegenen Form,
treten Kollagenfasern vom Sehnengewebe direkt in das Periost oder den mineralisierten
Knochen über, bei der zweiten – der häufigeren und typischerweise apo-und metaphysär
lokalisierten Form – ist eine Schicht von avaskulärem Faserknorpel intermediär zwischen
Bindegewebe und Knochen ausgebildet [1].
Im vorliegenden Fall ist die Enthese der Mm. flexor digitorum und hallucis longus
in der distalen Fibulametaphyse betroffen. Da die Veränderungen beiderseits vorliegen
und sich ein typischer Befund an der unteren BWS fand, handelt es sich um eine systemische
Enthesitis. Während der unilokulären Enthesitis (z.B. Tennis-/Golfer-Ellenbogen) in
aller Regel eine mechanische Überlastung zugrunde liegt, ist die Pathogenese der systemischen
Enthesitis noch weitgehend unklar. Anscheinend ist die Grenzzone zwischen gering-
oder nicht-vaskularisiertem Bindegewebe und dem gut vaskularisierten Knochen Ort der
Störung. Für die Differenzialdiagnose ist die Detektion mehrerer Herde, z.B. durch
eine Skelettszintigrafie, äußerst hilfreich, da solche eine Neoplasie praktisch ausschließen.
Bei der Inzisionsbiopsie kann die mikroskopische Differenzialdiagnose zwischen einer
Enthesitis einerseits und einem primären low grade parossalen Osteosarkom andererseits
Schwierigkeiten bereiten. Letzteres liegt definitionsgemäß an der Knochenoberfläche
und tritt bevorzugt metaphysär an langen Röhrenknochen auf, auch noch im Erwachsenalter.
Mikroskopische Zellatypien, Proliferationsaktivität und Invasivität können bei diesen
Tumoren minimal und nur fokal ausgebildet sein. Da auch immunhistochemische und molekularpathologische
Zusatzuntersuchungen (MDM2-Nachweis bzw. -Amplifikation) negativ verlaufen können,
ist die Einbeziehung der klinisch-radiologischen Befunde in solchen Fällen zur Diagnosestellung
unabdingbar.
Im hier präsentierten Fall erhielt der Patient seit Jahren eine Lithiumerhaltungstherapie.
Deren Nebenwirkungen sind gut erforscht; vor allem Störungen der Nierenfunktion, eine
Hypothyreose und erhöhte Serumcalciumspiegel können auftreten [6], [7]. Der Patient zeigte diesbezüglich bei regelmäßigen Kontrollen keine Auffälligkeiten.
Die neuropsychiatrische Wirkung von Lithium wird unter anderem seiner Eigenschaft
zugeschrieben, durch eine Hemmung der Glykogensynthase- Kinase3ß (GSK-3) den kanonischen
WNT/ß-catenin-Signalweg zu aktivieren, der ein hochkonservierter Signalweg für die
Zellentwicklung ist [8]. Er ist entsprechend auch wichtig für verschiedenen Strukturprozesse im Gehirn [9]. Diese Kaskade stimuliert aber auch die Proliferation der Osteoblasten und deren
Produktion von Osteoprotegerin (OPG) mit konsekutiver Erhöhung des OPG/Rankl-Quotienten
und einer Verschiebung des Knochenstoffwechsels zugunsten des Knochenanbaus im Verhältnis
zur osteoklastären Knochenresorption. Diesen über den WNT/ß-Catenin-Signalweg vermittelten
positiven Effekt auf die Knochenbildung durch Lithium – sowohl bei einer systemischen
Supplementation als auch bei einer lokalen Applikation – wurde experimentell in vivo
und in vitro bestätigt [10]–[12]. Zurzeit wird in einer Phase-II-Studie untersucht, ob eine niedrig dosierte orale
Lithiumapplikation eine positive Wirkung auf die Knochenfrakturheilung hat [13].
Das Risiko, dass es unter einer Lithiumtherapie zu einer Exazerbation einer vorbestehenden
Psoriasis kommen kann, ist klinisch schon lange bekannt [14]. Lithium kann jedoch auch eine Psoriasis einschließlich einer komplizierenden Enthesitis
induzieren [15], [16], wobei die Latenzperiode nach Beginn der Lithiumtherapie im ersten Fall mehrere
Wochen und im zweiten meistens viele Monate betragen kann. Da sich anamnestisch bei
unserem Patienten die Psoriasis capitis erst Jahre nach Beginn der Lithiumtherapie
entwickelt hat, kann man annehmen, dass sie durch Lithium induziert ist. 2012 konnten
Hampton et al. [17] in einer In-vitro-Studie nachweisen, dass diese dermatologische Komplikation der
Lithiumtherapie auch auf die GSK-3-hemmende pharmakologische Wirkung des Lithium zurückzuführen
sein dürfte.
Wie oben erwähnt, ist das typische pathoanatomische Element einer systemischen Enthesitis
die simultan bestehende Osteodestruktion und Osteoproliferation. Die Frage, weshalb
im vorliegenden Fall einer systemischen psoriatischen Enthesitis mit typischem Befallsmuster
die destruktive Komponente an den Fibulae radiologisch fehlt, könnte durch die offensichtlich
dominierende osteoproliferative Wirkung des Lithiums beantwortet werden.
Wegen der sonstigen guten Toleranz der Therapie mit stabiler psychischer Verfassung
einerseits und der nur geringen Aktivität der auf die Kopfhaut beschränkten Psoriasis
andererseits wurde beschlossen, die Lithiumtherapie weiterzuführen. Wegen der Enthesitis
der Fibula beiderseits wurde außerdem eine niedrig dosierte Methotrexattherapie mit
– bei Bedarf – zusätzlicher Schmerztherapie eingeleitet.
Zusammenfassung
Vorgestellt wird ein Fall einer systemischen Enthesitis bei einem 62-jährigen Mann
mit langjähriger, gut vertragener Lithiumtherapie wegen einer Bipolaren Störung in
der Jugend und darunter aufgetretenen Psoriasis capitis. Die Algorithmen der korrekten
Diagnosestellung in Klinik, Bildgebung und Histobiopsie werden aufgezeigt. Die Pathophysiologie
der systemischen Enthesitis mit Bezug zur bekannten pharmakologischen Lithiumwirkung
auf die Osteoblastenaktivität und Knochenbildung über die Beeinflussung des WNT/ß-Catenin-Signalwegs
werden dargestellt.
Schlüsselwörter:
Enthesitis, Lithiumtherapie, Osteoblastenaktivierung, WNT/ß-Catenin Signalweg, parosteales
Osteosarkom
Abstract
We present a case of a systemic enthesitis in a 62-year old man under a maintenance
lithium therapy since an episode of a bipolar disorder in his adolescence and with
a psoriasis capitis of low activity since years. The pathophysiology of the enthesitis
is discussed in relation to the pharmacology of lithium and its well-known induction
of osteoblastic activity and bone formation via the WNT/ß-catenin pathway.
Keywords:
Enthesitis, lithium maintenance therapy; osteoblasts; WNT/ß-catenin pathway; parosteal
osteosarcoma
Autorinnen / Autoren
Helmut Ostertag, Helmut*
*Pathologisches Institut Klinikum Region Hannover, Nordstadtkrankenhaus Hannover
Jürgen Freyschmidt, Jürgen§
§ Klinikum Bremen Beratungsstelle und Referenzzentrum für Osteoradiologie Bremen
Pia Freyschmidt Pia°
° Dermatologische Praxis Schwalmstadt-Treysa
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. med. Helmut Ostertag
Pathologisches Institut Krankenhaus Nordstadt
Haltenhoffstr 41
30167 Hannover
E-Mail: Helmut.Ostertag@krh.eu