Psychiatr Prax 2021; 48(02): 63-64
DOI: 10.1055/a-1229-7297
Debatte: Pro & Kontra

Biomarker in der Frühdiagnose der Demenz? – Kontra

Biomarkers in Early Diagnosis of Dementia? – Contra
Bernd Leplow
Institut für Psychologie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Die „Gesundheit ist einer der wichtigsten Glücksfaktoren“ der Deutschen und eine „Demenz senkt das Lebensglück am stärksten“, so weist es der Glücksatlas 2019 aus [1]. Gleichzeitig ergeben sich durch den biomedizinischen Fortschritt neue Möglichkeiten der Frühdiagnostik auch demenzieller Erkrankungen. Gerade bei dem wachsenden Anteil der Älteren an der Gesamtbevölkerung und der damit einhergehenden Zunahme der Demenzen kommt ihrer frühzeitigen Erkennung und Behandlung eine enorme Bedeutung zu.

Allerdings ist die Frühdiagnose einer Demenz mit dem Problem verbunden, dass weder der tatsächliche Ausbruch der infrage stehenden Demenz innerhalb der zur Verfügung stehenden Lebenszeit noch gar der Zeitpunkt ihrer Manifestation verlässlich vorhergesagt werden kann. Hinzu kommt, dass derzeit keine wirksamen Behandlungsoptionen verfügbar sind. Darüber hinaus geht eine Biomarkerpositivität nicht zwangsläufig mit kognitiven Einbußen einher. Dieses zeigt sich in einer zunehmenden Zahl größerer Studien, denen zufolge sich auch bei knapp 50 % der älteren Probanden eine Biomarkerpositivität fand, ohne dass zum Zeitpunkt der Untersuchung irgendein kognitives Defizit feststellbar war.

Sollte man eine solche Diagnostik trotzdem routinemäßig in die bislang vorrangig neuropsychologisch und an den Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-5 ausgerichtete Diagnostik integrieren? Oder sollte auch ohne eine neuropsychologische Befunderhebung generell mehr getestet werden, um Risikopersonen zu identifizieren? Die Befürworter eines solchen Vorgehens führen ins Feld, dass die Betroffenen sich dann „besser vorbereiten könnten“ und sie „ihr Leben so rechtzeitig auf die später sich verändernde Situation und die damit einhergehenden Einschränkungen und Verluste einstellen könnten“.

Inzwischen gibt es Bestrebungen, die Demenzdiagnose nur biomarkerbasiert und unabhängig vom klinischen Syndrom zu stellen. So sei die Diagnose der Alzheimer-Demenz gemäß der Kriterien des NIA-AA Research Framework nur noch biologisch und damit unabhängig vom klinischen Syndrom zu stellen. Bezeichnungen wie z. B. „Mild Cognitive Impairment“ o. Ä. indizierten demnach nur noch den Schweregrad einer Demenz [2].

Neben dem unbezweifelbaren Nutzen häufiger Biomarkeranalysen für die Forschung ist bei diesem Standpunkt mit einzubeziehen, dass Menschen sehr unterschiedlich mit negativen Informationen umgehen und dass Wahrscheinlichkeitsaussagen in der Regel nur schlecht verarbeitet werden können. Wird die Hoffnung auf ein „gutes“ Ergebnis nämlich enttäuscht, kann es zu klinisch bedeutsamen Angstzuständen, depressiven Reaktionen bis hin zu Suizidhandlungen, erheblichem (Selbst)Stigmatisierungs- und Diskriminierungserleben, nicht kontrollierbarem Rückzugsverhalten, der dysfunktionalen Übernahme einer Krankenrolle und assoziierten Verhaltensstörungen, vor allem aus dem Bereich der Substanzkonsumstörungen kommen.

Hinzu sind interindividuelle Unterschiede im Umgang mit Risikoinformationen zu berücksichtigen. Einige Menschen neigen zur Informationssuche und wollen alle Details möglicher Verläufe und möglicher Komplikationen wissen („Sensitivierer“), andere wiederum neigen zur Informationsabwehr und fühlen sich auch durch gut gemeinte Erläuterungen im Übermaß belastet („Unterdrücker“). Gerade für die zuletzt genannte Personengruppe ist das „Recht auf Nichtwissen“ in besonderem Maße zu berücksichtigen.

Ein weiteres Problem besteht in der menschlichen Schwierigkeit im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten. Jeder Test weist eine Ungenauigkeit mit einer gewissen Rate falsch positiver und falsch negativer Ergebnisse auf. Darüber hinaus resultiert auch ein perfekter Test immer in einer Wahrscheinlichkeitsaussage, derzufolge die Demenz innerhalb der zur Verfügung stehenden Lebenszeit auftreten kann. Wir Menschen neigen aber zur Überschätzung seltener (z. B. Flugreisen) und zur Unterschätzung hochwahrscheinlicher Gefahren (z. B. im Straßenverkehr). Eine Aussage wie z. B.: „mit 30 %iger Wahrscheinlichkeit kann das Ereignis x eintreten“, wird eben nicht so gelesen, dass das Ereignis mit 70 % nicht eintritt und dass die Ratewahrscheinlichkeit ohnehin bei 50 % liegt. Und schließlich können die meisten Menschen auch eine geringe Eintrittswahrscheinlichkeit emotional schlecht verarbeiten. Denn auch eine beispielsweise nur 5 %ige Wahrscheinlichkeit bedeutet ja keineswegs, dass das Ereignis für eine einzelne Person nicht eintritt, die Wahrscheinlichkeit ist lediglich gering. Und da Menschen generell nach eindeutigen Aussagen streben, können viele mit einer solchen wahrscheinlichkeitsbasierten Aussage nicht gut umgehen. Je nach emotionaler Ausgangslage, Persönlichkeitsstil oder Kompetenz in der Reaktion auf und Beurteilung von Unsicherheitsaussagen kann es deshalb zu emotionalen, psychophysiologischen und behavioralen Verwerfungen kommen, die nicht selten ihrerseits ein behandlungsbedürftiges Ausmaß erreichen. Auch neigt diese Personengruppe dazu, „sich fallen zu lassen“ und die derzeit als sinnvoll erwiesenen Maßnahmen der Lebensstiländerung wie zum Beispiel regelmäßige geistige und motorische Aktivitäten, Diabeteskontrolle, Prophylaxe kardiovaskulärer Erkrankungen sowie Stress- und Entzündungsmanagement nicht mit der gebotenen Sorgfalt zu betreiben („Hat ja eh’ keinen Zweck“).

Doch es gibt auch ein grundsätzliches Problem. Werden Demenzerkrankungen nur noch an den Biomarkern und nicht mehr am neuropsychologischen Syndrom definiert, bestünde eine Konsequenz dieses Vorgehens zunächst in einer massiven Erhöhung der Demenzraten in der Bevölkerung, denn es wäre definitionsgemäß auch jeder demenzkrank, der zwar komplett symptomfrei aber biomarkerpositiv ist. Wenn nun bedacht wird, dass in absehbarer Zeit für alle ernst zu nehmenden Erkrankungen Biomarker verfügbar sein werden, dann wird vermutlich jede Person unserer Gesellschaft irgendeine Biomarkerpositivität aufweisen. Damit wären 100 % der Bevölkerung im klinischen Sinne „krank“ – womit die Unterscheidung von krank und gesund hinfällig werden würde! Alle Kranken, also die gesamte Gesellschaft, hätte Anspruch auf eine Behandlung und deren Bezahlung. Eine offensichtlich erkenntnistheoretische wie praktische und gesundheitsökonomische Unmöglichkeit.

Deshalb bezieht sich die Haltung der Deutschen Neuropsychologie weiterhin auf die Diagnose am Syndrom, nämlich an dem Muster von Beschwerden, Defiziten und Kompetenzen. Die Biomarkerdiagnostik kann in diesem Zusammenhang eine Rolle bei der Sicherung der Diagnose spielen, zwingend erforderlich ist sie dafür aber nicht. Die syndromale (Differenzial)Diagnose eines Demenzsyndroms oder einer ihrer Vorstadien ist heutzutage bei sorgfältiger Untersuchung auch ohne Biomarker mit hoher Sicherheit gegeben.

Wegen der für die Betroffenen, das Gesundheitssystem und die Gesellschaft als Ganzes möglicherweise folgeschweren Konsequenzen einer rein biomedizinischen Demenzuntersuchung müssen genauer Regeln erarbeitet werden, nach denen die biologische Diagnostik durchgeführt und das Ergebnis kommuniziert wird. So sind parallel zu jeder Biomarker-Demenztestung formalisierte Beratungseinheiten vorzuhalten, in welchen die Motivation der Ratsuchenden genau abgeklärt werden kann, über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aufgeklärt wird („Recht auf Nichtwissen“) und in denen vor allem der psychische Status’ des/der Ratsuchenden, der Persönlichkeitsstil (z. B. Sensitization/Repression; s. o.), das Risiko psychischer Störungen oder anderer klinisch relevanter Reaktionen besprochen wird. Auf jeden Fall muss zudem sichergestellt werden, dass keine Informationspflicht gegenüber Dritten, wie zum Beispiel (Kranken)Versicherungen oder Arbeitgebern etc. entsteht.


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Autorinnen/Autoren

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Bernd Leplow

Interessenkonflikt

B. Leplow war als Shareholder für die Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP) Teilnehmer bei der bundesweiten Diskussionsrunde „Problemfall Demenzvorhersage“, bei der er sich bereits im Sinne der Hauptaussagen dieses Manuskriptes geäußert hatte.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Bernd Leplow
Institut für Psychologie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
06099 Halle (Saale)
Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung, IFT Nord, Kiel
Harmsstraße 2
24114 Kiel
Deutschland   

Publication History

Article published online:
02 March 2021

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