ergopraxis 2020; 13(11/12): 10-15
DOI: 10.1055/a-1236-9156
Wissenschaft

Auswirkungen des Lockdowns auf Betätigung – Occupational Transition in der Pandemie

Rebecca Lang
 

Für viele war der Lockdown in der Corona-Pandemie herausfordernd. Aus Sicht der Occupational Science verdeutlicht die Zeit, welch zentrale Rolle menschliches Handeln in lebensverändernden Situationen einnimmt, wie sich Betätigungsverluste auf das Wohlbefinden auswirken und was zur Anpassung beitragen kann.


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Rebecca Lang, BScOT (NL), ist seit 1996 Ergotherapeutin. Sie hat langjährige Berufs- und Leitungserfahrung im akutpsychiatrischen Arbeitsfeld, ist seit 2006 Honorar-Lehrkraft an verschiedenen Berufsfachschulen für Ergotherapie in NRW und seit 2018 hauptberufliche Dozentin für Ergotherapie in Köln. Ihr Dank gilt allen Lernenden, die sich an der Umfrage beteiligt haben und den Mut und die Offenheit besaßen, ihre Empfindungen und Erfahrungen mit dem Lockdown mitzuteilen. Ihre Aussagen ermöglichten es, den Prozess einer Occupational Transition in einer aktuellen und sehr persönlichen Art und Weise zu präsentieren.

Weltweit beschäftigt die Menschen seit Beginn des Jahres 2020 die Verbreitung von COVID-19. Insbesondere der Lockdown, den Millionen in Deutschland und Europa nahezu zeitgleich erlebten, wirkte sich umfassend auf ihre Betätigungsausführungen aus. Die Ausgangssperre stellt als unerwartet eintretendes sowie lebens- und betätigungsveränderndes Ereignis eine Occupational Transition dar.

Ich vermisse es, meine Freunde zu treffen, Fußball zu spielen, in Bars oder Restaurants zu gehen und mit mehreren Menschen in Interaktion zu sein.

Bereits in Ausgabe 7-8/20 thematisierte der Artikel „Lebensübergänge mit Betätigung bewältigen“ das Konstrukt Occupational Transitions (ERGOPRAXIS 7-8/20, S. 10). Er zeigte, wie es Menschen mithilfe von angepassten oder neuen Betätigungen gelingen kann, eine lebensverändernde Situation auf persönlicher Ebene zu überwinden, zum Beispiel eine Erkrankung oder die Berentung. Der Lockdown im Rahmen der Corona-Pandemie führte Millionen von Menschen nicht nur auf persönlicher, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene in eine Occupational Transition. Dabei erlebten größere Bevölkerungsgruppen ein von außen auferlegtes, lebensveränderndes Ereignis, durch das sie ihre gewohnten Routinen und Aktivitäten nicht mehr ausführen konnten [1], [2].

Betätigung im Lockdown dokumentieren

Ich arbeite an zwei Berufsfachschulen für Ergotherapie in Nordrhein-Westfalen und nutzte den Online-Unterricht während des Lockdowns, um den Lernenden die Bedeutung von Betätigung und Betätigungsverlust anhand des eigenen Erlebens zu verdeutlichen. Gemeinsam mit einer Kollegin bat ich zwischen Ende März und Ende April 2020 insgesamt 72 Lernende des ersten und zweiten Ausbildungsjahres, mehrere Tage hintereinander Aktivitätsprotokolle, Bögen zu Aktivitätsmuster und -experimente des Therapieprogramms „Handeln gegen Trägheit“ [3] auszufüllen sowie Lernprotokolle zum Betätigungsverhalten und -erleben im Lockdown zu führen.

Im Folgenden verknüpfe ich die Zitate aus den Lernprotokollen mit den Aspekten einer Transition, den sogenannten sieben Strängen ([TAB]., S. 12) [2]. Dies verdeutlicht aus Sicht der Occupational Science, wie der Lockdown im Rahmen der Corona-Pandemie menschliche Betätigung beeinflusste und wie es den befragten Lernenden gelang, sich mithilfe von alternativen Betätigungen und Betätigungsausführungen an die veränderten Bedingungen anzupassen.

TAB. Die sieben Stränge der Occupational Transition nach Scalzo [1], [2]

Stränge

Inhalt

1. Die Erfahrung des Übergangs

Eine Transition ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Mensch ein lebensveränderndes Ereignis erfährt, das seine Alltagsroutine unterbricht und bisherige Lebensziele in Frage stellen kann. Das Ereignis kann zunächst negativ (schmerzhaft, verlustreich, beängstigend) empfunden werden und die bisherige Betätigungsidentität sowie das Empfinden der eigenen Selbstwirksamkeit erschüttern.

2. Verarbeitung der Erfahrung

Transitionsprozesse fordern Menschen heraus, die tiefgreifenden Veränderungen anzuerkennen und zu betrauern, um dann die negativen Emotionen zu überwinden und sich innerhalb der veränderten Bedingungen anzunehmen. Anpassungs- und Bewältigungsstrategien unterscheiden sich individuell erheblich.

3. Beibehalten der Rollen und Aufrechterhalten von Sinnhaftigkeit

Im Rahmen einer Transition kommt es zu Rollenveränderungen oder Rollenverlusten, wenn Funktionsverluste oder andere Einschränkungen der Betätigungsausführung die Teilnahme an bedeutungsvollen Aufgaben einschränken. Dies führt zu Gefühlen der Inkompetenz sowie der verstärkten Abhängigkeit von anderen und wirkt sich stark auf das Selbstwertgefühl aus. Daher ist die Auseinandersetzung mit der Frage, welche Rollen man trotz des lebensverändernden Ereignisses erhalten kann, wichtig für die Bewältigung der Transition.

4. Betätigungsanpassung zur Unterstützung von Wachstum und Wohlbefinden

Transitionen beeinflussen die Bedeutung und Muster von Betätigungen. Betätigungen können im Laufe der Transition aufgegeben, verändert, neu gestaltet oder nach Unterbrechung wieder aufgenommen werden. Durch die Anpassung an veränderte Bedingungen können Transitionsprozesse bewältigt werden, da sie individuell bedeutsame Betätigungen weiterhin ermöglicht und somit zu Wachstum und Wohlbefinden beiträgt.

5. Die sich ständig verändernde Umwelt in der Transition

Vor allem die soziale, aber auch die physische Umwelt beeinflussen den Transitionsprozess und werden von ihm beeinflusst. Sie haben starken Einfluss auf die individuelle Erfahrung und erfolgreiche Bewältigung einer Transition.

6. Faktoren, die den Übergang behindern

Negative Gefühle, Erschöpfung und kognitive Beeinträchtigungen können das Bewältigen eines Transitionsprozesses erschweren. Auch fehlender Zugang zu Wissen, mangelnde Unterstützung zur Integration in die Gemeinschaft sowie schlecht adaptierte Strategien, um mit den funktionellen Veränderungen umzugehen, können erfolgreiche Übergänge behindern.

7. Faktoren, die den Übergang erleichtern

Sowohl das Ausführen von Betätigungen als auch soziale Unterstützung erleichtern die Bewältigung einer Transition. Die Teilhabe an Betätigung führt zu Betätigungskompetenz, reduziert Angst vor Abhängigkeit und ermutigt, über die Zukunft nachzudenken. Die sich neu entwickelnde Betätigungsidentität führt zu Selbstakzeptanz und somit zur Überwindung der Transition. Mit der Unterstützung von Freunden oder Familie kann die Teilhabe am alltäglichen Leben und ein Gefühl der Zugehörigkeit erfahren werden.


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Zu Beginn der Occupational Transition „Lockdown“ – Physische und soziale Umwelt

Die umfassenden staatlich angeordneten Kontakt- und Bewegungsbeschränkungen sowie die Schließung von Schulen, Kindertagesstätten, kulturellen Einrichtungen und weiten Bereichen des Groß- und Einzelhandels wirkten sich in Deutschland in der Zeit vom 23.3. bis 19.4.2020 auf die physische und soziale Umwelt aus.

Ich tanze sehr gerne, aber das kann ich in der kleinen Wohnung nicht tun.

Crider et al. (2015) identifizieren dies als ein Kennzeichen von Occupational Transition (TAB., STRANG 5, S. 12). In den als „Lockdown“ bezeichneten Wochen veränderte sich die physische Umwelt:

  • wenig Straßenverkehr

  • kaum belebte Straßen und Plätze

  • geschlossene Geschäfte bzw. Warteschlangen vor geöffneten Geschäften

  • leere Regale

  • Abstandsmarkierungen

  • geschlossene Sportstätten

  • geschlossene Spielplätze

Der Bewegungsradius der Bürger/-innen innerhalb ihrer physischen Umwelt verringerte sich. Sie suchten gewohnte Ausbildungs-, Arbeits- oder Freizeiteinrichtungen nicht mehr auf und zogen sich zunehmend in ihre Wohnungen und Häuser zurück.

Sie erlebten eine stark veränderte soziale Umwelt, da sich ihre physischen Sozialkontakte auf die Angehörigen des eigenen Haushalts beschränkten bzw. sie Mitmenschen nur noch im „Social Distancing“, also mit räumlichem Abstand, begegnen durften.


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Unterbrechung der Alltagsroutine

Der Lockdown beeinflusste die Betätigungen aller Menschen in Deutschland weitreichend. Er unterbrach oder schränkte Alltagsroutinen unerwartet ein (TAB., STRANG 1, S. 12). Derartige zeitlich begrenzten Unterbrechungen vieler oder aller Betätigungen können in Transitionsprozessen vorkommen und werden in der Occupational Science als „Occupational Disruption“ bezeichnet [4].


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Occupational Disruptions

Der Lockdown löste Occupational Disruptions in allen drei Betätigungsbereichen aus:

  • Selbstversorgung

  • Produktivität

  • Freizeit

Die befragten Lernenden erlebten Unterbrechung vor allem in ihrem Freizeitverhalten (78,82 %). Etwas über ein Drittel der Aussagen bezog sich auf den Verlust, Freunde und Familie physisch treffen zu können ([ABB. 1], S. 14). Sie vermissten es, auszugehen und Restaurants, Bars, Kino oder Konzerte zu besuchen sowie Hobbys wie Singen, Musizieren oder Reisen auszuführen. Viele litten darunter, sportliche Betätigungen wie Fitness, Tanzen, Klettern, Schwimmen oder Yoga nicht mehr wie gewohnt ausführen zu können, da die entsprechenden Einrichtungen und Vereine geschlossen waren.

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ABB. 1 Die Lernenden unterbrachen ihre Betätigungen insbesondere in der Freizeit.

Betätigungsunterbrechungen in den Bereichen Produktivität (15,3 %) und Selbstversorgung (5,88 %) erwähnten die Lernenden nachrangig. Infolge des Lockdowns fielen hinsichtlich der Produktivität der Präsenzunterricht und die damit verbundenen Fahrwege zur Schule sowie viele Nebenjobs weg. In Bezug auf ihre Selbstversorgung beschrieben sie Einschränkungen beim Einkauf von Kleidung sowie in Bezug auf Friseur- und Barbierbesuche.


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Veränderte Betätigungsmuster

In der Selbstversorgung kam es seltener zu Betätigungsunterbrechungen, da Lebensmittelgeschäfte, Drogeriemärkte, Apotheken oder Arztpraxen als sogenannte systemrelevante Geschäfte unter Hygieneauflagen geöffnet blieben. Stattdessen veränderten sich Betätigungen und Betätigungsmuster, was laut Crider et al. (2015) Transitionsprozesse kennzeichnet (TAB., STRANG 4). Einerseits führten Einlassregulierungen und Abstandsregeln zu Wartezeiten, andererseits veränderte sich das Kaufverhalten der Bevölkerung stark, sodass es phasenweise zu Lieferengpässen bei bestimmten Waren wie Mehl, Hefe, Seife und Toilettenpapier kam. Dies wirkte sich bei Lebensmitteln wiederum auf Betätigungen in der Nahrungszubereitung aus.

Die Lernenden nennen in Bezug auf veränderte Betätigungen den Bereich der Selbstversorgung an zweiter Stelle (32,08 %) ([ABB. 2], S. 14). Zum einen führen sie ein durch Hygieneabstände und Maskenpflicht verändertes Einkaufsverhalten an. Ferner investierten sie weniger Energie in Körperpflege, Make-up oder Kleidung.

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ABB. 2 Betätigungsveränderungen in Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit

Zum Großteil beziehen sich die Aussagen zu Betätigungsveränderungen, wie schon bei den Betätigungsunterbrechungen, auf die Freizeit (45,29 %). Hier erwähnten die Befragten einen gesteigerten Medienkonsum und veränderte Kommunikationsformen wie Videokonferenzen.

Aber auch in Bezug zur Produktivität (22,64 %) schildern sie Betätigungsveränderungen. Die Äußerungen beziehen sich hierbei fast ausschließlich auf die veränderte Unterrichtsgestaltung mit Online-Unterricht oder Selbstlern-Aufgaben.


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Auseinandersetzung mit der Occupational Transition – Auswirkungen auf das Well-Being

Vereinzelt erlebten Lernende Betätigungsverluste und -veränderungen positiv. Sie beschrieben reduzierte bzw. veränderte Betätigungsmöglichkeiten im Lockdown als entschleunigend und entspannend.

Bei der Mehrheit der Befragten führte die Erfahrung plötzlicher Betätigungsverluste und -veränderungen jedoch zu negativen Gefühlen. Dies entspricht den Ausführungen von Crider et al. (2015), Transitionsprozesse könnten zunächst negativ empfunden werden (TAB., STRANG 1). Neben Wut und Frustration gegenüber den Einschränkungen und Veränderungen erläuterten die Lernenden, dass sich insbesondere die reduzierten Kontaktmöglichkeiten negativ auf ihr psychisches Wohlbefinden (Well-Being) auswirkten. Diesbezüglich beschrieben sie Gefühle von Trauer und waren unglücklich, genervt oder wütend.

Die negativen Empfindungen entspringen darüber hinaus der Erschütterung bisheriger Überzeugung über sich selbst als handelndes Wesen. Die Auswirkung auf die Betätigungsidentität, beispielsweise infolge der Hygienemaßnahmen die bedeutungsvolle Betätigung des Begrüßens nicht mehr wie gewohnt ausführen zu können, beschreibt eine Person wie folgt: „Seit ich beim Freundetreffen das Social Distancing einhalte, fühle ich mich nicht mehr als vollwertiger Freund, [weil zum Beispiel das Umarmen nicht mehr möglich ist].“

Als weitere Ursache negativer Gefühle beschrieben die Lernenden die Angst vor einer Infektion mit COVID-19. Auch Crider et al. (2015) weisen darauf hin, dass ein lebensveränderndes Ereignis als beängstigend erlebt werden bzw. zu negativen Gefühlen führen kann.


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Occupational Imbalance

Ich trage ständig nur sportlich bequeme Sachen, bin ungeschminkt und sehe immer gleich aus.

Die Lernenden führen ihre negativen Empfindungen im Lockdown vor allem darauf zurück, dass es infolge der unterbrochenen und veränderten Betätigungen zu einem Ungleichgewicht zwischen Freizeit, Produktivität und Selbstversorgung kam. Durch die Schließung von Ergotherapieschulen, Sportstätten und Freizeiteinrichtungen überwiege die Freizeit.

Die Unausgewogenheit zwischen den Betätigungsbereichen wird in der Occupational Science „Occupational Imbalance“ genannt. Sie kann innerhalb einer Occupational Transition entstehen, da sich die Anzahl und der Umfang der täglichen Betätigungen in Transitionsprozessen verringern und verändern [5]. Das zeigte sich auch bei den Lernenden: „Ich habe heute festgestellt, dass ich zurzeit sehr wenig unternehme, bzw. mir gehen einfach die Ideen aus, was man noch alles in der Situation zu Hause machen kann.“

Infolge der übermäßigen Freizeit hat sich das Gefühl von Langeweile und Demotivation ausgebreitet, und es gab keine Betätigungsideen mehr. Parallel dazu gaben viele der Lernenden ihre gewohnte Tagesstruktur auf. Statt der früheren Aktivitäten schliefen sie lange und unregelmäßig, saßen viel auf der Couch, aßen mehr und konsumierten vermehrt Medien.

Die Aussagen über Langeweile und das Gefühl von Unproduktivität entsprechen den Angaben der Occupational Science, dass sich Occupational Imbalance negativ auf das Well-Being auswirkt [6]. Ein Übermaß an freier Zeit könne bis hin zu Angst und Depression führen [7], [8], was wiederum die Bewältigung einer Transition erschweren kann (TAB., STRANG 6) [9], [10].

Ich habe viel mehr Zeit, um meinen Freizeitaktivitäten und meiner Selbstfürsorge nachzugehen. Durch Joggen, Yoga oder Stretching fühle ich mich physisch und psychisch deutlich besser.

Ich bin wütend darüber, weil ich Menschen, die mir wichtig sind, nicht sehen kann. Vor allem merke ich es an meinem psychischen Wohlbefinden. Mir ist bewusst geworden, dass ich viele früher normale und alltägliche Dinge nicht mehr ausüben kann und dass mich das sehr nervt und stresst.

Das „schnelle Einkaufen“ von einem Brötchen oder Obst ist jetzt schon ein halbes Abenteuer, bei dem ich unglaublich auf mich selbst achten muss, um das Risiko einer Infektion gering zu halten. Dieser ständige Druck, bloß nichts zu bekommen und gesund zu bleiben, lastet doch mehr auf mir als gedacht.


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Bedeutungsveränderung

Im Laufe der Occupational Transition „Lockdown“ und im Zusammenhang mit der Erfahrung einer Occupational Imbalance nahmen einige Lernende wahr, wie sie ihre Betätigungen nicht nur in veränderter Art und Menge ausführten [5], sondern auch, wie sie ihnen unter dem Einfluss der Transition veränderte Bedeutungen (TAB., STRANG 4) zuschrieben. Einige schilderten, wie im Lockdown Betätigungen, die früher sehr wichtig waren, an Bedeutung verloren und andere Betätigungen neuen Wert erfuhren: „Es gab die Zeit, da war man den ganzen Tag unterwegs und hat sich auf zu Hause gefreut: einfach die Jogginghose an, auf die Couch gehen und abschalten. Nun empfindet man das nicht mehr so, weil es alltäglich ist.“ „Wir wollten immer Ferien und viel Freizeit, jetzt wünsch ich mir die Arbeit oder Schule etwas zurück, weil mein Bedürfnis nach sozialen Kontakten so immens hoch ist, dass ich dafür sogar freiwillig Unterricht machen würde.“ Ferner bemerkten die Lernenden in dieser Phase der Occupational Transition, wie wichtig ihnen Betätigung bzw. eine feste Struktur bei ihren Betätigungen ist. Sie beschrieben verschiedene Strategien, um nach dem Erleben der Occupational Disruption Betätigungen wieder aufzunehmen (TAB., STRANG 4, S. 12) [6], [10]: „Ich habe angefangen, mir Ziele für jeden Tag vorzunehmen und aufzuschreiben. Die erreichten Ziele habe ich abgehakt.“


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Die Occupational Transition bewältigen – Angepasste Betätigungen

Um die Transition zu durchlaufen und Well-Being zu erlangen, ist es hilfreich, die tiefgreifenden Veränderungen anzuerkennen und die Verluste zu betrauern (TAB., STRANG 2, S. 12). Dadurch wird es möglich, seine individuell bedeutsamen Betätigungen an die veränderten Bedingungen anzupassen und auszuführen. Das führt zu Wachstum und Wohlbefinden (TAB., STRANG 4, S. 12) [6], [10]: „Ich bin mit der momentanen Situation unglücklich. Dinge, die ich früher sehr zu schätzen wusste, wie einfach mal rumsitzen oder nichts tun, sind zur Normalität geworden. Ich habe gemerkt, dass ich zunehmend keine Lust mehr auf irgendetwas habe. Das finde ich erschreckend und traurig. Deshalb habe ich beschlossen, mehr für mich zu tun und andere Dinge zu finden, um meinen Unmut auszugleichen.“

Die Befragten beschrieben in ihren Lernprotokollen unter anderem, wie sie unter dem Einfluss des Lockdowns alternative Betätigungen oder Betätigungsausführungen anstelle der gewohnten Routinen und Aktivitäten wählten (TAB., STRANG 4, S. 12). Sie empfanden es als notwendig, sich für die Bereiche, „die im Moment nicht zufriedenstellend sind, eine Lösung zu überlegen“. Am häufigsten erwähnten sie mit insgesamt 73,47 % auch hier die Freizeit ([ABB. 3]).

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ABB. 3 Angepasste und neue Betätigungen in Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit

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Veränderte Freizeit

In Bezug auf ihre sportlichen Betätigungen schilderten die Lernenden, dass sie Schwimmen, Tanzen oder Fitness wegen der Schließung der Einrichtungen an andere Orte wie Privatbäder oder das eigene Zuhause verlegten. Darüber hinaus berichteten sie von neuen sportlichen Betätigungen wie Kopfstandüben, Joggen und Spazierengängen. „Zu Anfang der Corona-Zeit habe ich mir ganz viele ‚Projekte‘ gesucht, die ich nach und nach mache, zum Beispiel ein Vogelhaus oder ein Paletten-Sofa bauen.“

Im Rahmen ruhiger Freizeitaktivitäten entdeckten sie neue Betätigungen für sich, zum Beispiel das Lesen, Nähen, Puzzeln, Malen und die Gartenarbeit. Einige erlernten ein Musikinstrument, zum Beispiel Kalimba, Ukulele oder Gitarre.


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Veränderte Selbstversorgung

Viele neue und veränderte Betätigungen im Rahmen der Selbstversorgung (insgesamt 22,45 %) drehen sich um das Kochen bzw. die Ernährung sowie um das Gestalten der eigenen Wohnung: „Ich habe begonnen, ohne Mehl zu backen. Da habe ich gelernt, Ressourcen kreativ zu nutzen.“


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Veränderte Produktivität

Betätigungen, welche die Lernenden in Bezug auf ihre Produktivität bewusst verändert oder neu begonnen hätten, um den Lockdown zu bewältigen, erwähnen sie kaum (4,08 %).

Ich habe eine ganz neue häusliche Identität entdeckt!


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Veränderte Occupational Identity

Das Ausführen veränderter bzw. neuer Betätigungen wirkt sich auf die Überzeugungen über sich selbst aus: „Ich habe die Home Workouts als sehr angenehm und entspannt empfunden und mich immer mehr damit identifiziert.“

Dies entspricht den Forschungsergebnissen zu Occupational Transitions. Diese besagen, dass angepasstes Handeln neben der Überwindung negativer Gefühle und dem Erleben von Betätigungskompetenz zu einer neu entwickelten Betätigungsidentität und somit zur Bewältigung von Transitionsprozessen führt (TAB., STRANG 7, S. 12) [11].

Die Aussagen der Lernenden verdeutlichen, wie sie durch die Ausführung angepasster Betätigungen Selbstwirksamkeit und Betätigungskompetenz erleben, ihr individuelles Wohlbefinden steigern und damit die Transition „Lockdown in der Corona-Pandemie“ zufriedenstellend bewältigen: „Mir fehlen die Besuche in der Schule. Es fehlt mir, mich zu zeigen und zu ‚präsentieren‘ mit hübschen Klamotten. Zum Teil habe ich versucht, das in meinem Instagram-Profil auszukosten, allerdings ist es etwas anderes, sich für ein Foto zurechtzumachen als für seinen Alltag. Trotzdem hat sich so ein Fotoshooting schon ganz gut angefühlt, und ich werde dies öfter machen, um mein Selbstbewusstsein und mein Selbstwertgefühl zu steigern.“


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Betätigung zentral

Der Lockdown stellte für viele Menschen ein herausforderndes und teilweise existenzbedrohendes Ereignis dar. Aus Sicht der Occupational Science verdeutlicht diese Zeit vor allem die zentrale Rolle menschlichen Handelns in lebensverändernden Situationen, welche Auswirkungen Betätigungsverluste auf das Wohlbefinden haben können und wie neue oder veränderte Betätigungen zur Anpassung an veränderte Lebensbedingungen beitragen können.

Die Erfahrung der Occupational Transition „Lockdown“ ermöglicht es Ergotherapeut/-innen, unabhängig vom Erleben einer Erkrankung, eines Unfalls oder einer Behinderung Transitionsprozesse ihrer Klient/-innen nachzuvollziehen. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das eigene Betätigungsverhalten zu reflektieren, sensibilisiert für die zentrale Bedeutung von menschlicher Betätigung als Kernthema der Ergotherapie. Dies kann sowohl die ergotherapeutische Arbeit als auch die individuelle berufliche Identität beeinflussen.

Podcast – ergopraxis geht ins Ohr

Was genau steckt eigentlich hinter Occupational Science? Darüber spricht Rebecca Lang im Podcast „Performance Skills“ – ganz praxisnah! Außerdem vertieft sie das Artikelthema und erzählt, wie ihre Lernenden den Lockdown erlebt und damit eine Occupational Tansition am eigenen Leib erfahren haben. Das überträgt sie auch auf den ergotherapeutischen Arbeitsalltag. Neugierig? Einfach neben-stehenden QR-Code scannen.


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  • Literaturverzeichnis

  • 1 Scalzo K, Forwell SJ, Suto M. An integrative review exploring transition following an unexpected health-related trauma. Journal of Occupational Science 2016; 4: 464-483
  • 2 Crider C, Calder CR, Bunting KL, Forwell S. An Integrative Review of Occupational Science and Theoretical Literature Exploring Transition. Journal of Occupational Science 2015; 3: 304-319
  • 3 Pfeiffer A, Höhl W. Action over Inertia. Handeln ermöglichen - Trägheit überwinden: Therapieprogramm für Gesundheit durch Aktivität - Handeln gegen Trägheit. 2. Auflage. Stuttgart: Schulz-Kirchner Verlag; 2018
  • 4 Hammel K. 2020 Engagement in livingduringthe Covid-19 Pandemic and ensuing Occupational Disruption. Abgerufen von www.caot.ca/documents/ DOI: 16.7.2020
  • 5 Polatajko HJ, Backman C, Baptiste S, Davis J, Eftekhar P, Harvey A, Connor-Schisler A. Human occupation in context. In Townsend EA, Polatajko HJ, Eds. Enabling Occupation II: Advancing an Occupational Therapy Vision for Health, Well-being, & Justice through Occupation (p. 37-61) Ottawa, Ontario: CAOT Publication ACE; 2013
  • 6 Backman CL. Occupational Balance and Well-being In C Christiansen & E. Townsend (Eds.), Introduction to Occupation: The Art of Science and Living (p. 209-227). Ottawa, Ontario: Pearson Education Limited; 2014
  • 7 Gillen G. Positive consequences of surviving a stroke. American Journal of Occupational Therapy 2005; 59 (03) 346-350
  • 8 Turner BJ, Fleming JM, Ownsworth TL, Cornwell PL. The transitionfromhospitalto home for individuals with acquired brain injury: A literature review and research recommendations. Disability & Rehabilitation 2008; 30 (16) 1153-1176
  • 9 Chan J, Spencer J. Adaptation to hand injury: An evolving experience. American Journal of Occupational Therapy 2004; 58 (02) 128-139
  • 10 Williams S, Murray C. The lived experience of older adults’ occupational adaptation following a stroke. Australian Occupational Therapy Journal 2013; 60 (01) 39-47
  • 11 Klinger L. Occupational adaptation: Perspectives of people with traumatic brain injury. Journal of Occupational Science 2005; 12 (01) 9-16
    • 12 Whiteford G. Occupational Deprivation: Understanding Limited Participation In C Christiansen & E. Townsend (Eds.), Introduction to Occupation: The Art of Science and Living (p. 281-306). Harlow: Pearson Education Limited; 2014

Publication History

Article published online:
05 November 2020

© 2020. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literaturverzeichnis

  • 1 Scalzo K, Forwell SJ, Suto M. An integrative review exploring transition following an unexpected health-related trauma. Journal of Occupational Science 2016; 4: 464-483
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ABB. 1 Die Lernenden unterbrachen ihre Betätigungen insbesondere in der Freizeit.
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ABB. 3 Angepasste und neue Betätigungen in Selbstversorgung, Produktivität und Freizeit