Atogepant in der Prophylaxe der episodischen Migräne
Atogepant in der Prophylaxe der episodischen Migräne
***** Goadsby PJ, Dodick DW, Ailani J et al. Safety, tolerability, and efficacy of
orally administered atogepant for the prevention of episodic migraine in adults: a
double-blind, randomised phase 2b/3 trial. Lancet Neurol 2020; 19(9): 727–737
Atogepant ist in allen untersuchten Dosierungen in der Prophylaxe der episodischen
Migräne sowohl wirksam als auch sicher und gut verträglich.
Hintergrund
Pharmakologische Interventionen im Signalweg des Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP)
sind sowohl pathophysiologisch begründet als auch in der Akut- (z. B. Triptane/Ditane)
und prophylaktischen Therapie (z. B. CGRP Rezeptor-/Ligandenantikörper) der Migräne
wirksam. Die Gruppe der Gepante umfasst small molecules, welche als direkte CGRP-Rezeptorantagonisten
in eben diesem Signalweg wirksam sind. Sie können sowohl in der Akuttherapie (intermittierende
Einnahme) als auch zur Prophylaxe (regelmäßige Einnahme) der Migräne eingesetzt werden
[1]. Der ersten Generation der Gepante standen dieser möglichen Wirksamkeit jedoch bedenkliche
hepatotoxische Nebenwirkungen oder eine unzureichende Bioverfügbarkeit gegenüber.
Atogepant ist ein Vertreter der zweiten Generation, welcher in der vorliegenden Studie
auf seine Sicherheit und Verträglichkeit in der Prophylaxe der episodischen Migräne
getestet wird. Als Phase-IIb/III-Studie werden zudem Dosisfindung und Wirksamkeit
kombiniert geprüft.
Zusammenfassung
Das Design entspricht einer multizentrischen, randomisierten, placebokontrollierten
und doppelblinden Studie. Es konnten Patienten im Alter von 18–75 Jahren mit durchschnittlich
4–14 Migränetagen/Monat mit oder ohne Aura über 3 Monate eingeschlossen werden. Patienten
mit einem Übergebrauch von Akutmedikation und unzureichendem Ansprechen auf 3 vorherige
Prophylaxen von mindestens 2 Klassen wurden ausgeschlossen. Eine schwere Niereninsuffizienz
sowie mäßige bis schwere Leberfunktionsstörung waren weitere Ausschlussgründe.
Es wurden 1772 Patienten in eine 4-wöchige Baseline-/Screening-Phase eingeschlossen.
Von diesen wurden 834 Patienten randomisiert und in die 12-wöchige Behandlungsphase
überführt. Die Randomisierung erfolgte 2:1:2:1:2:1 in Placebo sowie Atogepant 10 mg
1x tgl., 30 mg 1x tgl., 30 mg 2x tgl., 60 mg 1x tgl. und 60 mg 2x tgl.. Als primärer
Wirksamkeitsendpunkt wurde die mittlere Änderung der monatlichen Migränetage in der
12-wöchigen Behandlungsphase gegenüber der 4-wöchigen Baselinephase definiert. Sicherheit
und Verträglichkeit wurden anhand von behandlungsassoziierten unerwünschten Ereignissen
(TEAE; entsprechend AEs, die mit Beginn der Behandlungsphase begannen oder sich verschlechterten)
und behandlungsbedingten TEAEs beurteilt. Patienten der Behandlungsphase waren durchschnittlich
40,1 ± 12,2 Jahre alt, 87 % weiblich, hatten die Diagnose einer Migräne seit ca. 19
Jahren und 28 % hatten zuvor mindestens eine prophylaktische Pharmakotherapie erhalten.
Die durchschnittlichen monatlichen Migränetage lagen bei 7,7 ± 2,5 in der Baselinephase
und unterschieden sich nicht zwischen den Interventionen.
Alle Dosierungen von Atogepant erreichten den primären Wirksamkeitsendpunkt. Atogepant
reduzierte die Migränetage pro Monat signifikant gegenüber Placebo (–2,9 ± 0,2 Tage)
um weitere –0,7 Tage [95 % CI: –1,4 bis –0,1; 60 mg 1x tgl.] bis –1,4 Tage [95 % CI:
–2,2 bis –0,6; 30 mg 2x tgl.]. Eine signifikante Überlegenheit von Atogepant in der
Reduktion der Migränetage konnte bereits nach 4 Wochen nachgewiesen werden. Der sekundäre
Endpunkt einer 50 %igen Reduktion der Migränetage wurde in der 30 mg 2x tgl. Gruppe
(58 %, Odds Ratio vs. Placebo: 1,8 [95 % CI: 1,2 bis 2,9]) und 60 mg 2x tgl. Gruppe
(62 %, Odds Ratio vs. Placebo: 2,0 [95 % CI: 1,3 bis 3,2]) signifikant häufiger als
unter Placebo (40 %) erreicht. TEAEs waren unter Atogepant signifikant häufiger (von
58 % in der 60 mg 1x tgl. bis 66 % in der 10 mg 1x tgl. Gruppe) als unter Placebo
(49 %). Häufigste behandlungsbedingte TEAEs mit positiver Dosis-Wirkungs-Beziehung
waren Übelkeit (Placebo: 3 %, 10 mg 1x tgl.: 3 %, 60 mg 2x tgl.: 9 %), Obstipation
(Placebo: 1 %, 10 mg 1x tgl.: 1 %, 60 mg 2x tgl.: 4 %) und Fatigue (Placebo: 2 %,
10 mg 1x tgl.: 1 %, 60 mg 2x tgl.: 7 %). Schwere behandlungsbedingte TEAEs traten
in keiner der Gruppen auf. Die Leberverträglichkeit war für alle Dosierungen auf Placeboniveau.
Kommentar
Die vorliegende Studie zeigt eine Wirksamkeit bei gleichzeitig guter Verträglichkeit
und Sicherheit von Atogepant in der Prophylaxe der episodischen Migräne. Insbesondere
ist erfreulich, dass sich keine Hinweise auf eine Hepatoxizität ergaben. Behandlungsbedingte
unerwünschte Wirkungen entsprechen teilweise denen, die auch aus der Therapie mit
CGRP Rezeptor-/Ligandenantikörpern bekannt sind. Langzeiteffekte können auf Grundlage
der Daten noch nicht abgeschätzt werden und die Bestätigung der Wirksamkeit aus laufenden
Phase-III- Studien steht noch aus (NCT03700320, NCT03777059).
Trotz Begeisterung für diese positiven Ergebnisse stellt sich die Frage nach dem Zusatznutzen
gegenüber existierenden Prophylaxen. Die Wirksamkeit liegt, auch wenn hier das Fehlen
von Head-to-head-Studien und der Phase-III-Studien betont werden muss, in etwa auf
dem Niveau bekannter Prophylaktika einschließlich der CGRP Rezeptor-/Ligandenantikörper.
Die Autoren selbst sehen einen möglichen Vorteil in der kürzeren Halbwertzeit der
small molecules gegenüber Antikörpern, was ein schnelleres Auswaschen in dringlichen
Situationen ermöglicht. Darüber hinaus könnten Patienten eine orale Medikation gegenüber
Injektionen bevorzugen. Aus pathophysiologischer Sicht ist interessant, dass Gepante
im Gegensatz zu Zolmitriptan im Tiermodell die Kontraktilität von Koronararterien
nicht beeinflussen [2]. Darüber hinaus führten Ditane (5-HT-1F-Rezeptoragonisten), aber nicht Gepante zu
typischen Veränderungen im Tiermodell, die als Surrogat eines Kopfschmerzes bei Medikamentenübergebrauchs
angesehen werden [3]. Hinsichtlich Interessenkonflikten ist zu erwähnen, dass 4 von 7 Autoren Mitarbeiter
von AbbVie sind.
Robert Fleischmann, Greifswald
Migräne mit Aura: unabhängiger Schlaganfall-Risikofaktor besonders bei jungen Patienten
mit kryptogenem Stroke
Migräne mit Aura: unabhängiger Schlaganfall-Risikofaktor besonders bei jungen Patienten
mit kryptogenem Stroke
****Martinez-Majander et al. Association between migraine and cryptogenic ischemic
stroke in young adults. Ann Neurol 2020 Oct 19. doi: 10.1002/ana.25937
Zusammenfassung
Hintergrund: Die Rolle der Migräne (v. a. der Migräne mit Aura, MA) als robuster Risikofaktor
für ischämischen Schlaganfall ist durch zahlreiche Studien und Metaanalysen gut etabliert.
Die aktuelle Arbeit untersuchte diesen Zusammenhang im Kontext der internationalen
multizentrischen prospektiven Fall-Kontrolle Studie SECRETO (Searching for Explanations
for Cryptogenic Stroke in the Young: Revealing the Etiology, Triggers, and Outcome)
spezifisch in einem Kollektiv juveniler Schlaganfallpatienten mit kryptogenem stroke
(crypotgenic ischemic stroke, CIS).
Methodik: Es wurden über einen Zeitraum von ca. 7 Jahren n = 347 konsekutive CIS Patienten
eingeschlossen (medianes Alter 40,6 Jahre, 46,4 % Frauen) und mit n = 347 Alters-
und geschlechtsgematchten Kontrollen, die lokal am jeweiligen Studienzentrum rekrutiert
wurden, verglichen. Wichtig: Ein in der ätiologischen Diagnostik ggf. detektiertes
offenes Foramen ovale (PFO) wurde als ‚uncertain causality‘ eingeschätzt und war somit
mit der Diagnose CIS kompatibel. Der Migränestatus wurde mit Hilfe einer eigens entwickelten
Kurzversion eines validierten und publizierten semistrukturierten Fragebogens (Screener)
erhoben, wobei für je 50 Patienten und Kontrollen eine Validierung dieser Vorgehensweise
mittels eines ausführlichen Interviews durch einen erfahrenen Kopfschmerzneurologen
erfolgte.
Ergebnisse: Sowohl für Migräne allgemein (any migraine) als auch für MA (nicht aber
für Migräne ohne Aura) fand sich eine klare Assoziation mit CIS, und zwar unabhängig
von demografischen Faktoren und klassischen vaskulären Risikofaktoren (adjustierte
Odds Ratio, OR, für any migraine: 2,48; für MA: 3,50). Der Effekt zeigte sich sowohl
für Männer als auch, noch deutlicher, für Frauen (adjustierte OR für Frauen mit MA:
4,32). Bei einer Subgruppe von n = 187 (53,9 %) der Patienten und n = 155 (44,7 %)
der Kontrollen war als Surrogatmarker für das Vorliegen eines offenen Foramen ovale
(PFO) eine transkranielle Dopplersonografie mit Bubble-Test (TCD-BS) verfügbar. In
der Gruppe der Patienten mit PFO zeigte sich zwar mit zunehmender Größe des Rechts-Links-Shunts
eine zunehmende MA-Prävalenz (ein Effekt, der sich bei den Kontrollen mit PFO übrigens
nicht fand); der Zusammenhang MA und CIS war jedoch in einer logistischen Regressionsanalyse
unabhängig vom Vorhandensein eines PFO.
Kommentar
Trotz der mittlerweile umfangreichen Datenbasis für den epidemiologischen Zusammenhang
zwischen Migräne und Schlaganfall verdient die aktuelle Studie von Martinez-Majander
und Kollegen besondere Beachtung. Methodische Stärken sind das prospektive Design
und die sorgfältige Erhebung des Migränephänotyps mittels eines dezidierten „Screeners”,
der eine sehr gute Übereinstimmung mit der Diagnosestellung durch einen erfahrenen
Kopfschmerz-spezialisten zeigte. Inhaltliche Besonderheit im Vergleich zu früheren
Arbeiten ist der exklusive Fokus auf juvenile Patienten (d. h. < 50 Jahre) mit kryptogenem
Schlaganfall. Wichtige Befunde sind, dass der Zusammenhang Migräne/MA und CIS bei
beiden Geschlechtern und unabhängig von demografischen und anderen Faktoren gilt.
Interessanter Aspekt dabei: Die Effektstärken für MA sind im Vergleich zur Literatur
(z. B. Spector et al. Am J Med 2010 mit OR von 2,25) deutlich höher, was möglicherweise
auf dem selektionierten Kollektiv (juveniler CIS) beruhen könnte. Der Effekt scheint
zudem unabhängig vom Vorhandensein eines PFO zu sein, wobei die Befunde in Hinblick
auf das PFO im Detail komplex sind; gerade der differenzielle Effekt der Größe des
Rechts-Links-Shunts auf die MA-Prävalenz bei Patienten vs. Kontrollen ist nicht ohne
Weiteres zu verstehen. Limitierend muss berücksichtigt werden, dass in dieser Analyse
nur TCD-Daten (die auch bei den Kontrollen nicht invasiv erhoben werden konnten) als
Marker für ein PFO zugrunde gelegt wurden.
Einschränkend beachtet werden muss zudem, dass die Erhebung zum Kopfschmerzphänotyp
in der frühen Akutphase stattfand und dass überwiegend Schlaganfälle geringer Schwere
(medianer NIHSS 2) eingeschlossen wurden. Für zukünftige Analysen wäre es wünschenswert,
genauere Informationen zum jeweils vorliegenden MA-Phänotyp (z. B. Attackenfrequenz,
genaue Charakteristik und Dauer der Aurasymptome) und zur Rolle der Kopfschmerzmedikation
(akut und prophylaktisch) zu erhalten. Eine wichtige Perspektive wäre die Berücksichtigung
genetischer Einflussfaktoren. In Summe eine sehr gut gemachte und qualitativ hochwertige
Studie zu einem klinisch und wissenschaftlich relevanten Thema.
Tobias Freilinger, Passau
Ich bleibe mit Kopfschmerzen zu Hause. Eine Untersuchung, wie sich der COVID-19-Lockdown
auf Kopfschmerzen bei italienischen Kindern auswirkte
Ich bleibe mit Kopfschmerzen zu Hause. Eine Untersuchung, wie sich der COVID-19-Lockdown
auf Kopfschmerzen bei italienischen Kindern auswirkte
**** Laura Papetti et al. Cephalalgia 2020; 40(13): 1459–1473
Lockdown führte zu Kopfschmerzreduktion bei Schülern.
Hintergrund
Risikofaktoren wie Schulstress, eine schlechte Familiensituation, Angst und zu wenig
Freizeit beeinflussen Migräne und Kopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen. Die Lockdown-Maßnahmen
haben einen großen Einfluss auf die Ökonomie, Gesundheit und den Lebensstil. Diese
durch den Lockdown geschaffene Extremsituation hat einen Effekt auf unterschiedliche
Umweltfaktoren, welche sich als zusätzliche Stressfaktoren auf Kopfschmerzen bei Kindern
und Jugendlichen auswirken können.
Zusammenfassung
Dieser Artikel behandelt eine online Umfrage, die in der Anfangsphase des Lockdowns
2020 stattgefunden hat, in der es erst geringe Informationen zu Covid-19 gab. 707
Patienten mit Migräne mit und ohne Aura und/oder Spannungskopfschmerz aus 9 italienischen
Kinderkopfschmerzzentren im Alter von 5–18 Jahren wurden in die retrospektive Studie
eingeschlossen. Daten zu Demografie, Kopfschmerz während des Lockdowns, Akuttherapie
und Prophylaxe der Kopfschmerzen, Kopfschmerzintensität, und -frequenz wurden erhoben,
letztere für einen Zeitraum von 2 Monaten vor dem Lockdown und während des Lockdowns.
Außerdem wurden psychische Faktoren wie Angst vor Covid-19, allgemeine Stimmung, Schulangst
und positive Bewältigungsstrategien erfragt. 46 % der Befragten gaben eine Verbesserung
der Kopfschmerzsituation im Lockdown an, 39 % eine unveränderte Situation und nur
15 % eine Verschlechterung. Kinder mit chronischem Kopfschmerz hatten eine deutlich
höhere Reduktion der Kopfschmerztage als Kinder mit episodischen Kopfschmerzen. Eine
positive oder negative Entwicklung der Kopfschmerzfrequenz und Intensität war abhängig
vom Alter, schulischen Erwartungen und einer depressiven Stimmung. Die multivariate
Analyse wies Verringerung der Schulanstrengung und -angst als verantwortliche Faktoren
der Reduktion von Kopfschmerzintensität und -häufigkeit nach (p < 0,001). Je höher
der Schweregrad der Kopfschmerzen, desto größer war die klinische Verbesserung (p
< 0,001). Die Erkrankungsdauer war negativ mit der Verbesserung assoziiert (p < 0,001).
Die klinische Besserung war unabhängig von der Prophylaxe, dem Vorliegen chronischer
Kopfschmerzerkrankungen und der geografischen Region. Ein Zusammenhang zwischen dem
Covid-19-Lockdown und einer Verschlechterung der Kopfschmerzsituation konnte nicht
festgestellt werden.
Kommentar
Eine fast 50 %ige Besserung der Kopfschmerzsituation während des Lockdowns zeigt,
dass Änderungen im Alltag eine große Auswirkung auf den Kopfschmerz haben. Für fast
50 % der Schüler ging der Wechsel vom regulären Unterricht auf Online-Beschulung mit
einer Reduktion des Schulstresses einher, wodurch sich die Kopfschmerzen in Frequenz
und Intensität signifikant (p < 0,001) verbesserten. Trotz nicht signifikantem Unterschied
in Bezug auf die Einnahme einer Prophylaxe fällt auf, dass mehr Schüler ohne Prophylaxe
eine Besserung der Intensität aufwiesen als die Gruppe mit Prophylaxe (41 % vs. 24
%). Das ist zu erwarten, denn hier bildet sich eine Gruppe ab, die aufgrund der ungenügenden
Wirksamkeit von nicht medikamentösen Prophylaxen, wie z. B. Stressmanagement eine
medikamentöse Prophylaxe erhielt. Nichtsdestotrotz erfuhr auch fast ein Viertel der
Patienten mit medikamentöser Prophylaxe eine deutliche Verbesserung der Kopfschmerzen
durch die Schulstressreduktion. Interessant ist die multivariate Analyse, die eine
globale Besserung der Kopfschmerzen auch bei Schülern mit chronischen Kopfschmerzen
zeigte. Diese Daten weisen einmal mehr darauf hin, dass Verbesserung von Lebensstil
und Stressbewältigung grundlegende Elemente für das Management von Kopfschmerzen bei
Kindern sind.
Berit Höfer und Gudrun Goßrau, Dresden
CGRP-(Rezeptor-)Antikörper für die Behandlung von chronischen Clusterkopfschmerz-Patienten
CGRP-(Rezeptor-)Antikörper für die Behandlung von chronischen Clusterkopfschmerz-Patienten
***Silvestro M, Tessitore A, Scotto di Clemente F et al. Erenumab efficacy on comorbid
cluster headache in patients with migraine: a real-world case series. Headache 2020;
60: 1187–1195
*Riederer F, Wenner AM. Erenumab for chronic cluster headache: A case report. Cephalalgia
Reports 2020; 3: 1–4
Ruscheweyh R, Broessner G, Goßrau G et al. Effect of calcitonin gene-related peptide(-receptor)
antibodies in chronic cluster headache: results from a retrospective case series support
individual treatment attempts. Cephalalgia 2020; doi: 10.1177/0333102420949866
In 3 Fallberichten/-serien konnte eine Wirksamkeit der CGRP-(Rezeptor-)Antikörper
in der Behandlung von chronischen Clusterkopfschmerz-Patienten gezeigt werden
Hintergrund
Der CGRP-Antikörper Galcanezumab 300 mg s. c. zeigte in einer randomisiert-kontrollierten
Studie für die Behandlung des episodischen Clusterkopfschmerzes eine gute Wirkung,
verfehlte aber seinen primären Endpunkt in der parallelen Studie bei chronischen Clusterkopfschmerz-Patienten
[1], [2]. Galcanezumab wurde in der Folge für die Behandlung des episodischen Clusterkopfschmerzes
in den Vereinigten Staaten durch die FDA zugelassen, nicht aber in Europa. Die Europäische
Arzneimittelbehörde (EMA) begründete die Entscheidung damit, dass die Daten nicht
eindeutig zeigten, dass die Medikation das Auftreten von Clusterkopfschmerzattacken
wirksam verhindere und somit die Risiken gegenüber dem Nutzen der Behandlung überwiegen
[3]. Fremanezumab, ein weiterer CGRP-Antikörper, wurde ebenfalls für die Behandlung
des Clusterkopfschmerzes getestet, allerdings wurden diese Studie 2018 bzw. 2019 vorzeitig
abgebrochen [4]. Aus klinischer Sicht ist die Behandlung von chronischen Clusterkopfschmerz-Patienten
häufig schwierig. Es gibt eine Reihe von refraktären Patienten, bei denen die klassischen
Prophylaktika auch in Kombinationstherapie nicht ausreichend wirksam oder nicht verträglich
sind. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass CGRP-(Rezeptor-)Antikörper
bei einigen Patienten mit chronischem Clusterkopfschmerz off-label bzw. bei gleichzeitig
bestehender Migräne ausprobiert wurde. Bislang wurden 3 Fallberichte bzw. -serien
mit 27 chronischen Clusterkopfschmerz-Patienten veröffentlicht. Diese möchte ich hier
zusammenfassen. Ich möchte aber erwähnen, dass ich Mitautorin einer der Studien (Ruscheweyh
et al. 2020) bin.
Zusammenfassung
Silvestro et al. stellt eine Fallserie mit 5 Patienten (m = 3, 30–63 Jahre) vor, die
aufgrund einer begleitend bestehenden Migräne mit Erenumab 140 mg behandelt wurden.
Ein chronischer Clusterkopfschmerz wurde in 4 Patienten diagnostiziert, ein Patient
zeigte einen episodischen Verlauf mit 6–7 Monaten-andauernden Episoden. Alle Patienten
hatten in der Vorgeschichte mind. 3 prophylaktische Medikationen mit unzureichender
Wirkung ausprobiert. In 2 Patienten wurde mit Erenumab 70 mg s. c. begonnen, die Dosis
bei unzureichender Wirksamkeit im Verlauf auf 140 mg s. c. erhöht, in den anderen
3 Patienten wurde direkt mit der höheren Dosierung begonnen. Erenumab 140 mg s. c.
führte in allen 5 Patienten zu einer signifikanten Reduktion von Clusterkopfschmerzattacken;
im Verlauf (frühestens nach der 3. Gabe) sogar in allen Patienten zu einer vollständigen
Remission. Bis auf das Auftreten einer Obstipation in einem Patienten wurden keine
Nebenwirkungen berichtet.
Riederer und Wenner beschreiben eine 38-jährige Patientin mit einem chronischen Clusterkopfschmerz
und einer Migräne ohne Aura. Der Clusterkopfschmerz wurde mit einer Kombinationstherapie
aus Verapamil, Trazodon und Melatonin behandelt, darunter traten täglich bis zu 3
Attacken auf. Nach erster Gabe von Erenumab 70 mg s. c. kam es zu einer Reduktion
auf insgesamt 9 Attacken/4 Wochen. Dieser Effekt hielt während 3 weiterer Gaben Erenumab
70 mg s. c. über einen Zeitraum von 25 Wochen an, wobei die genaue Attackenanzahl
im Verlauf nicht benannt wird.
In der dritten Fallserie (Ruscheweyh et al. 2020) wurde die Zahl der Clusterkopfschmerzattacken
vor und nach Gabe eines CGRP-(Rezeptor-)Antikörpers in 22 chronischen Clusterkopfschmerz-Patienten
(m = 7, 46,6 ± 12,3 Jahre) untersucht. Zum Zeitpunkt der Gabe des CGRP-(Rezeptor-)Antikörpers
wurden 1,6 ± 0,9 prophylaktische Medikationen eingenommen und durchschnittlich wurden
6,5 ± 2,4 Prophylaxen ausprobiert. 6 Patienten berichteten eine Migräne in der Vorgeschichte.
16 Patienten erhielten Galcanezumab 240 mg s. c., 3 Patienten erhielten Erenumab 70
mg s. c. und 3 Patienten erhielten Erenumab 140 mg s. c. Im Baseline-Monat, d. h.
im Monat vor erster Gabe der Medikation hatten die Probanden durchschnittlich 23,3
± 16,4 Clusterkopfschmerzattacken/Woche, im ersten Monat nach Anwendung der Medikation
durchschnittlich 14,2 ± 18,8 Attacken/Woche; insgesamt zeigte sich eine signifikante
Reduktion um 9,2 ± 9,7 Clusterkopfschmerzattacken/Woche im ersten Monat sowie eine
signifikante Reduktion der Verwendung von Akutmedikation und der Schmerzintensität.
Von 14 bzw. 9 Patienten liegen Daten für Monat 2 bzw. 3 vor, die eine anhaltende Reduktion
der Attackenfrequenz (Monat 2: –8,0 ± 8,4 Clusterkopfschmerzattacken/Woche; Monat
3: –9,1 ± 10,0 Clusterkopfschmerzattacken/Woche) zeigen. Ein Patient berichtete über
Fatigue am ersten Tag nach Gabe von Galcanezumab, darüber hinaus wurden keine Nebenwirkungen
berichtet.
Kommentar
Zusammenfassend liegen mit diesen Studien gute Hinweise für die Wirksamkeit von CGRP-(Rezeptor-)Antikörpern
für die Behandlung von chronischen Clusterkopfschmerz-Patienten vor. Darüber hinaus
berichtete Silvestro et al. erstmals über die Wirksamkeit von Erenumab in der Behandlung
von Clusterkopfschmerzen. Allerdings muss einschränkend gesagt werden, dass die vorgestellten
Studien Fallberichte mit wenigen Patienten sind und keine Placebokontrolle erfolgte.
Es ist daher nicht auszuschließen, dass der berichtete Effekt überwiegend auf einen
Placeboeffekt zurückzuführen ist. Die randomisiert-kontrollierte Studie zu Galcanezumab
hatte einen großen Placeboeffekt berichtet [1].
Bezüglich der Wahl der Dosierung kann keine abschließende Aussage getroffen werden,
da in den vorliegenden Studien unterschiedliche Dosierungen bei sehr kleinen Fallzahlen
verwendet wurden. So berichtet Silvestro et al. keine Wirksamkeit für Erenumab 70
mg (n = 2), wohingegen Riederer und Wenner eine gute Wirksamkeit (n = 1) berichten.
Darüber hinaus wurde Galcanezumab in den randomisiert-kontrollierten Studien [1], [2] in einer Dosierung von 300 mg/Monat getestet, in der berichteten Fallserie wurde
Galcanezumab 240 mg/Monat gegeben.
Unklar bleibt auch der genaue Wirkeintritt der Medikation. Silvestro et al. berichtet
eine Wirkzunahme nach mehrmaliger Gabe, wohingegen die Daten von Ruscheweyh et al.
und Riederer und Wenner einen schnellen Wirkeintritt nach erster Dosis mit anhaltendem
Effekt nach weiteren Dosierungen zeigen. Silvestro et al. berichtet in allen Patienten
(n = 5) ein vollständiges Sistieren der Clusterkopfschmerzattacken, was gerade in
den schwer betroffenen Patienten überraschend ist, und sicherlich durch längere Beobachtungszeiträume
und eine größere Patientenzahl weiter untersucht werden sollte.
Für die Zukunft wäre eine erneute kontrollierte, klinische Testung der CGRP-(Rezeptor)-Antikörper
für Clusterkopfschmerz-Patienten wünschenswert. Dennoch ermutigen die Fallberichte,
dass ein Off-label-Therapieversuch mit einem CGRP-(Rezeptor)-Antikörper in Patienten
mit schlechtem Ansprechen auf die klassischen Prophylaktika eine Möglichkeit sein
könnte. Positiv hervorzuheben ist die gute Verträglichkeit.
Katharina Kamm, München
Risiko kardialer Komplikationen durch Triptane
Risiko kardialer Komplikationen durch Triptane
*** Ghanshani S, Chen C, Lin B et al. Risk of Acute Myocardial Infarction, Heart Failure,
and Death in Migraine Patients Treated with Triptans. Headache: The Journal of Head
and Face Pain 2020. doi:10.1111/head.13959
In einer populationsbasierten Studie zeigte sich kein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre
Ereignisse durch Anwendung von Triptanen.
Zusammenfassung
Eine US-amerikanische Kohorte mit 189 684 Migränepatienten wurde retrospektiv auf
das Auftreten von kardiovaskulären Ereignissen hin untersucht. Die Daten wurden für
eine Gesundheitsdatenbank (Kaiser Permanente Southern California Heath System) in
einem Zeitraum von 10 Jahren (01/2009–12/2018) elektronisch erfasst. Als Endpunkte
der Auswertung wurden Hospitalisierung wegen akutem Myokardinfarkt oder dekompensierter
Herzinsuffizienz sowie das Auftreten von Todesfällen definiert.
130 656 (68,9 %) der Migränepatienten wurden im vorgegebenen Zeitraum Triptane verschrieben.
Die behandelte Gruppe war im Durchschnitt jünger, wies einen größeren Frauenanteil
und weniger kardiovaskuläre Risikofaktoren auf. Insgesamt konnte kein signifikanter
Zusammenhang zwischen Inzidenz von kardiovaskulären Ereignissen und Behandlung mit
Triptanen aufgezeigt werden. Die Inzidenz der Myokardinfarkte bei Triptan – exponierten
Patienten lag sogar noch unter der von Patienten ohne Triptane (0,67 vs. 1,44/1000
Patienten pro Jahr). Auch Subgruppenanalysen zur Stratifizierung von Alter, Geschlecht,
ethnischer Zugehörigkeit und kardiovaskulären Risikofaktoren (Hypertonus, Hyperlipidämie
und Diabetes) erfassten keine signifikante Zunahme des Risikos für kardiovaskuläre
Ereignisse durch Triptane.
Kommentar
Trotz der guten Wirksamkeit der Triptane zur Akutbehandlung von Migräne leidet die
Medikamentengruppe immer noch unter gewissen Vorbehalten durch verschreibende Ärzte.
Ein Grund hierfür sind Befürchtungen hinsichtlich kardiovaskulärer Komplikationen
durch deren vasokonstriktive Wirkung. Mit diesem Vorurteil möchte die hier zitierte
Studie aufräumen. In einer sehr großen US-amerikanischen Kohorte wurden Migränepatienten
in einem Zeitraum von 10 Jahren erfasst. Von diesen Patienten waren etwa zwei Drittel
mit Triptanen versorgt. Damit lag der Anteil der Patienten mit Triptan deutlich höher
als in einer populationsbasierten Querschnittsstudie aus Europa, wo gerade einmal
11 % der Migränepatienten in Deutschland ein Triptan erhielten [1]. Entgegen möglicher Befürchtungen war die Inzidenz von kardiovaskulären Komplikationen
in dem amerikanischen Kollektiv durch die Einnahme von Triptanen nicht erhöht. Dies
galt auch für Patienten mit zusätzlichen kardiovaskulären Risikofaktoren wie Diabetes
oder arterielle Hypertonie. Der Artikel bestätigt damit einmal mehr die Sicherheit
der Substanzgruppe – selbst bei Patienten mit kardiovaskulärem Risikoprofil – und
ermutigt zu einem breiten Einsatz von Triptanen.
Victoria Ruschil, Tübingen
INFORMATION
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Exzellente Arbeit, die bahnbrechende Neuerungen beinhaltet oder eine ausgezeichnete
Übersicht bietet
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Gute experimentelle oder klinische Studie
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***
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Gute Studie mit allerdings etwas geringerem Innovationscharakter
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**
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Studie von geringerem klinischen oder experimentellen Interesse und leichteren methodischen
Mängeln
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*
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Studie oder Übersicht mit deutlichen methodischen oder inhaltlichen Mängeln
|
Die Kopfschmerz-News werden betreut von: Priv.-Doz. Dr. Ruth Ruscheweyh, Klinik und
Poliklinik für Neurologie, Klinikum der Universität München, Marchioninistr. 15, 81377
München, Tel. 089/440073907, ruth.ruscheweyh@med.uni-muenchen.de
Sie wird dabei unterstützt von Dr. Thomas Dresler, Tübingen (Bereich Psychologie und
Kopfschmerz), PD Dr. Gudrun Goßrau, Dresden (Bereich Kopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen)
und Dr. Katharina Kamm, München (Bereich Clusterkopfschmerz).
Die Besprechungen und Bewertungen der Artikel stellen die Einschätzung des jeweiligen
Autors dar, nicht eine offizielle Bewertung durch die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft.