B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2020; 36(06): 272
DOI: 10.1055/a-1292-6844
Journal Club

Die weltweiten Auswirkungen von COVID-19 auf Bewegung

Eine deskriptive Studie
 

Originalpublikation

Tison GH, Avram R, Kuhar P, Abreau S, Marcus GM, Pletcher MJ, Olgin JE. Worldwide Effect of COVID-19 on Physical Activity: A Descriptive Study. Annals of Internal Medicine 2020. Doi: 10.7326 / M20-2665


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Hintergrund

Zur Bekämpfung der COVID-19 Pandemie verabschiedeten zahlreiche Regierungen Maßnahmen zum social distancing. Es ist zu vermuten, dass diese Maßnahmen Einfluss auf das Bewegungsverhalten und damit auf die Gesundheit der Bevölkerung hatten. Eine vielfach angewendete Möglichkeit, um Bewegung im weitesten Sinne zu erfassen, bieten Schrittzähler. Ziel dieser Studie war die Untersuchung der weltweiten Veränderung der Schrittzahlen vor und nach der Einstufung von COVID-19 als globale Pandemie durch die WHO am 11. März 2020.


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Methoden

Die deskriptive Studie verwendete anonymisierte Daten von Nutzerinnen und Nutzern der Gesundheits-App Argus (Azumio) im Zeitraum vom 19. Januar bis 1. Juni 2020. Die täglichen Schrittzahlen wurden durch Akzelerometer der Smartphones und Algorithmen von Apple und Android erhoben. Der Standort der Nutzerinnen und Nutzer wurde über die IP-Adressen der Smartphones bestimmt. Durchschnitts-Schrittzahlen wurden auf täglicher Basis berechnet, die Prozentwerte beziehen sich auf Veränderungen im Vergleich zu den durchschnittlichen Schrittzahlen einer Region vor der Einstufung von COVID-19 als globale Pandemie. Kriterien für die Auswahl der Regionen waren, (a) dass die Hälfte der Regionen schwer und die andere Hälfte weniger von COVID-19 und Maßnahmen zum social distancing betroffen waren und (b) dass Daten von mehr als 1.700 Nutzerinnen und Nutzern der App in der jeweiligen Region verfügbar waren.


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Ergebnisse

Insgesamt wurden 19.144.639 tägliche Schrittzahlen von 455.404 Nutzerinnen und Nutzern aus 187 Ländern analysiert. Weltweit sank die durchschnittliche Schrittzahl innerhalb von 10 Tagen nach der Ausrufung der Pandemie um 5,5 % (287 Schritte) und innerhalb von 30 Tagen um 27,3 % (1.432 Schritte). Dabei gab es deutliche regionale Unterschiede: Während in Italien die durchschnittliche tägliche Schrittzahl um bis zu 48,7 % sank, konnte in Schweden lediglich ein Absinken von bis zu 6,9 % beobachtet werden. Außerdem unterschied sich der Zeitpunkt, ab dem die täglichen Schrittzahlen absanken, da sich das Bewegungsverhalten in Ländern mit frühen regionalen COVID-19 Ausbrüchen wie Iran oder Italien am frühesten änderte. In den verschiedenen Ländern dauerte es auch unterschiedlich lange, bis sich die durchschnittliche tägliche Schrittzahl um 15 % reduzierte: Italien (5 Tage nach der Ausrufung der Pandemie), Spanien (9 Tage), Frankreich (12 Tage), Indien (14 Tage), USA (15 Tage), Großbritannien (17 Tage), Australien (19 Tage) und Japan (24 Tage).


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Diskussion

Weltweit sind die Schrittzahlen gesunken, nachdem COVID-19 zu einer globalen Pandemie erklärt wurde. Hierbei gab es regionale Unterschiede. Allerdings sanken die Schrittzahlen auch in Ländern mit niedrigen Infektionsraten und ohne formalen Lockdown wie Südkorea, Taiwan oder Japan.

Limitationen der Studie sind der sampling bias, mögliche Messfehler der Smartphone-Schrittzähler, Veränderungen des Trage- und Nutzungsverhaltens der Smartphones sowie die fehlende Messung der Bewegungsintensität und anderer Aktivitäten ohne Schritte. Das Datenset ist eine nicht-repräsentative Zufallsstichprobe mit einer wechselnden Anzahl täglicher Nutzer. Außerdem fehlen Charakteristika der Nutzerinnen und Nutzer (mit der Ausnahme der IP-Adresse), was die Vergleichbarkeit zwischen Regionen und weitere Subgruppenanalysen einschränkt.

Der Effekt von Maßnahmen zum social distancing auf Bewegung sollte berücksichtigt werden, insbesondere wenn eine Verlängerung dieser Maßnahmen notwendig wird.


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Kommentar zur Studie

Die vorgelegten Daten zeigen, dass sich die COVID-19 Pandemie sowie die Maßnahmen zum social distancing stark auf das Bewegungsverhalten der Menschen weltweit ausgewirkt haben. Zudem wurden große länderspezifische Unterschiede festgestellt. Eine Analyse des Robert-Koch-Instituts zeigt, dass auch innerhalb Deutschlands deutliche Unterschiede bei der regionalen Verteilung der Infektionsraten mit COVID-19 über die Bundesländer sowie sozioökonomische Ungleichheiten bestehen. Gerade langfristig könnten verstärkt sozial benachteiligte Menschen von der Pandemie betroffen sein [1]. In diesem Zusammenhang sind auch internationale Forschungsergebnisse von Relevanz, die einen Zusammenhang zwischen dem Bewegungsverhalten von Kindern während der Pandemie und dem sozioökonomischen Status der Familie feststellten [2]. Somit werden sich durch die Pandemie bestehende gesundheitliche Chanchenungleichheiten weiter verstärken. Daher ist es besonders wichtig, dass trotz drohender Sparmaßnahmen in vielen gesellschaftlichen Bereichen, die aktuell diskutiert werden, gerade Maßnahmen zur Gesundheits- und Bewegungsförderung von sozioökonomisch schwächer gestellten Menschen unbedingt fortgeführt bzw. sogar weiter ausgebaut werden.

Literatur bei den Autoren.


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Korrespondenzadresse

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Dr. Sven Messing


FAU Erlangen-Nürnberg


Department für Sportwissenschaft und Sport


Gebbertstraße 123b


91058 Erlangen


Deutschland


sven.messing@fau.de

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Dr. Anna Streber


FAU Erlangen-Nürnberg


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Publication History

Article published online:
02 December 2020

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