Nervenheilkunde 2021; 40(04): 219-220
DOI: 10.1055/a-1298-0592
Zu diesem Heft

Nervenheilkunde

Zeitschrift für interdisziplinäre Fortbildung
Henrik Walter
,
Oliver Tüscher
 
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Prof. Dr. Dr. Henrik Walter Research Division of Mind and Brain Department for Psychiatry and Psychotherapy, CCM (Research) Charité Universitätsmedizin Berlin; Quelle: Wonder Photo Shop Berlin
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Prof. Dr. Oliver Tüscher Clinical Investigation Center LIR, Clinical Resilience Research University Medical Center of the Johannes Gutenberg-University Mainz; Quelle: T. Böhm, Presse und Öffentlichkeitsarbeit, Universitätsmedizin Mainz

Die Resilienz in den Zeiten von Corona

Das 1985 erschienene Buch „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ des kolumbianischen Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez erzählt von einer tödlichen Choleraepidemie in Kolumbien, die von dem Arzt Juvenal Urbino erfolgreich bekämpft wird sowie vom Bürgerkrieg, der damals herrschte. Vor allem aber erzählt die Geschichte von der „cóleral“, der Wut, Hitze, Zorn, also im übertragenen Sinne der Leidenschaft und Seelenqual der Liebe.

Auch in der gegenwärtigen COVID-19-Pandemie beobachten wir einerseits die pandemische Ausbreitung einer Erkrankung (COVID-19) und deren Bekämpfung. Andererseits belasten uns zunehmend auch ihre Auswirkungen auf unseren Alltag, auf die ökonomischen Verhältnisse und auf unsere Gesellschaft als Ganzes. Viele der damit einhergehenden Einschränkungen und Belastungen wirken emotional, wir kriegen einen „Koller“. Kommen zu viele Belastungsfaktoren zusammen und werden sie chronisch, können wir psychisch krank werden. Doch zugleich gilt: Wir kommen mit Extremsituationen oft besser zurecht, als wir selbst glauben. Wie also gelingt es Menschen, trotz widriger Umstände und erheblicher Stressoren psychisch gesund zu bleiben bzw. sich nach einer Tiefphase rasch wieder zu erholen?

Eine Frage, die sich zurzeit in neuer Schärfe stellt. Sie wird schon seit mehreren Jahrzehnten interdisziplinär erforscht, zunächst von Anthrophologie und Soziologie, aber zunehmend auch von der Psychologie und nunmehr den kognitiven Neurowissenschaften. Es gibt eine Reihe von Faktoren, die Resilienz fördern, u. a. zählen dazu die (virtuelle) Nähe zu engen Bezugspersonen, soziale Unterstützung, kognitive Flexibilität, oder die Fähigkeit, auch positive Aspekte in negativen Ereignissen sehen zu können. Eine effektive Regeneration nach belastenden Phasen ist vermutlich von Bedeutung. Es gibt immer mehr Artikel, Bücher, Forschungsprogramme und Institutionen, die sich diesem wichtigen Thema widmen. Dabei wurde „Resilienz“ häufig als eine Art Persönlichkeitseigenschaft verstanden, die man entweder hat oder nicht hat, und zu deren Stärkung man folglich nicht viel beitragen kann. Doch die moderne Forschung zeichnet ein anderes Bild. Für sie ist „Resilienz“ nicht eine vorgegebene Persönlichkeitseigenschaft, sondern das Ergebnis eines dynamischen Anpassungsprozesses, der prinzipiell trainierbar und erlernbar ist. Doch erreichen kann man Resilienz nur in Auseinandersetzung mit echten Problemen. Tatsächlich ist ein gewisses Ausmaß von Stresserleben und -bewältigung in der Entwicklung sogar notwendig, um später im Leben, unter widrigen Umständen, persönlichen und globalen Krisen, psychisch einigermaßen gesund zu bleiben oder sich rasch zu erholen. Dieses Phänomen ist als „Stressimpfung“ bekannt: Wir können uns durch und mit Bewältigung sehr belastender Umstände Erfahrungswissen und Fertigkeiten aneignen, die als „psychische Abwehrkräfte“ wirken. So können wir die Fähigkeit, Resilienz zu erreichen, trainieren. Damit steht zu erwarten, dass die Widrigkeiten der gegenwärtigen Pandemie auch die Chance bieten, eigene Resilienzfaktoren zu stärken und weiterzuentwickeln. Dies mag als positive Aussicht angesichts all der Schwierigkeiten dienen, mit denen viele Menschen derzeit zu kämpfen haben. Und damit ist nicht gemeint, dass es zur Norm werden soll alles auszuhalten, sondern vielmehr, dass es auch in schwierigen Zeiten Anlass zur Hoffnung gibt.

Um die Spreu vom Weizen zu trennen, brauchen wir auch hier, wie so oft, solide Forschung. In den Beiträgen in diesem Heft werden daher Grundlagen und Anwendungen der modernen Resilienzforschung dargestellt. Der Beitrag von Oliver Tüscher und Kollegen erläutert grundlegende Konzepte, Begriffe und Vorgehensweisen der Resilienzforschung. Seit kurzem existiert in Mainz ein in seiner Art in Europa einzigartiges Leibniz-Institut für Resilienzforschung, dessen Struktur und Tätigkeit in der Arbeit von Isabella Helmreich et al. dargestellt wird. Der Erforschung von Interventionen zur Stärkung der Resilienz widmet sich sodann der Beitrag von Andrea Chmitorz und Kollegen. Obwohl Resilienz gerade bei Personen erforscht wird, die unter großen Belastungen nicht erkranken, stellt sich die Frage nach der Resilienz auch in klinischen Populationen, also bei Personen mit psychischen Erkrankungen, ein Thema, das im Beitrag von Christina Berndt und Andrea Pfennig erörtert wird und die Leser der Nervenheilkunde besonders interessieren wird. Der Beitrag von Carolin Wackerhagen und Mitarbeitern schließlich gibt eine Übersicht darüber, was wir aus Sicht der kognitiven Neurowissenschaft über die neurobiologischen Faktoren und Mechanismen wissen, die zur Resilienz beitragen.


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Publication History

Article published online:
01 April 2021

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Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

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Prof. Dr. Dr. Henrik Walter Research Division of Mind and Brain Department for Psychiatry and Psychotherapy, CCM (Research) Charité Universitätsmedizin Berlin; Quelle: Wonder Photo Shop Berlin
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Prof. Dr. Oliver Tüscher Clinical Investigation Center LIR, Clinical Resilience Research University Medical Center of the Johannes Gutenberg-University Mainz; Quelle: T. Böhm, Presse und Öffentlichkeitsarbeit, Universitätsmedizin Mainz