ergopraxis 2021; 14(03): 41-43
DOI: 10.1055/a-1300-5524
Perspektiven

Ruheinseln schaffen – Ängsten trotzen

Barbara Freitag-Herse
 

Die Corona-Pandemie ist für die meisten Menschen eine echte Herausforderung. Das Infektionsrisiko und die Sorge um den Arbeitsplatz lösen bei vielen Angst aus. Als Führungskraft sind Sie besonders gefordert, wenn es darum geht, die Angst nicht das Handeln bestimmen zu lassen. Um das zu erreichen, gibt es ein paar einfache, aber wirkungsvolle Dinge, die Sie gemeinsam mit Ihren Mitarbeitenden tun können.


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Barbara Freitag-Herse

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ist selbstständige Ergotherapeutin, Coach, Dozentin und Kommunikationstrainerin. Seit vielen Jahren begleitet sie therapeutische und pädagogische Teams in Findungs- und Konfliktsituationen. Hier und auch in den Familiencoachings liegt ihr besonders der wertschätzende und gleichwürdige Umgang miteinander am Herzen. „Gemeinsam zu Begeisterung, Lachen und Entwicklung“ ist ihr Grundthema bei Workshops und Seminaren.

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Auf Ihrer ganz persönlichen Insel der Ruhe können Sie abschalten und durchatmen, die belastenden Dinge des Alltags ausblenden, sich auf alles Positive konzentrieren und so die Kraft schöpfen, die Sie brauchen, um Ihren Ängsten zu begegnen. © Thieme Group/S. Schaaf

Die vergangenen Monate haben uns Praxisinhaber in nie geahnte Dimensionen der kurzfristigen Flexibilität und des Handelns gebracht. Von heute auf morgen war bekanntlich alles anders, und seither müssen in einem Rhythmus von etwa vierzehn Tagen immer wieder neue Regelungen oder Voraussetzungen angepasst werden: Pädiatrie vormittags, weil die Kinder zu Hause sind, dann wegen des Homeschoolings doch wieder zu anderen Zeiten, möglichst nicht parallel zu Risikopatienten in der Praxis. Dann gehen die Kinder wieder in die Schule, also wieder ältere Patienten auf den Vormittag legen, um die Kontakte so gering wie möglich zu halten. Das Spiel haben wir ja schon mehrmals mitgemacht und es sieht im Moment nicht danach aus, dass es zügig vorbeiginge. Inzwischen sind wir erfahrene Hygienefachkräfte, planen Zeiten für Desinfektion und Durchlüftung und hören bereits am Telefonklingeln, ob es bei dem Anrufer womöglich schon wieder um eine kurzfristige Absage wegen Quarantäne oder zumindest Erkältungssymptomen ist. Ich kann in unserer Praxis die Arbeitstage, an denen einfach mal alles wie geplant abläuft, sehr übersichtlich abzählen. Im Gegensatz zu den Leerläufen, Absagen oder den unvorhergesehenen Situationen, bei denen zum Beispiel eine Mitarbeiterin im Heim nur drei der eigentlichen acht Patienten behandeln kann, da einige Stationen aufgrund positiver PCR-Tests erneut für mindestens 14 Tage geschlossen sind.

In den vergangenen Wochen sind natürlich auch meine Coachings und Begleitungen der Praxisinhaber in die virtuelle Welt der Begegnung verlegt worden. So hatte ich trotz allem mit vielen von Ihnen Kontakt. Jeden von Ihnen habe ich gefragt, was das augenblicklich am meisten Belastende ist. Diese Umfrage ist natürlich nicht repräsentativ, jedoch haben mir viele berichtet, dass sie sich große Sorgen machen. Manche von Ihnen benennen es ganz offen: Angst.

Der Einfluss von Angst

Angst hindert uns daran, überlegte Entscheidungen zu treffen. Ständig im Amphibienhirn, also zwischen Angriff oder Flucht zu pendeln, ist eine massive Belastung mit verheerenden somatischen Auswirkungen. Auch unsere sozialen Fähigkeiten leiden unter dem Einfluss von Angst, auch unsere Führungskompetenzen. Glücklicherweise haben die Methoden des Achtsamkeitstrainings die breite Öffentlichkeit erreicht. Ein Aspekt der Achtsamkeit ist das bewusste Wahrnehmen der Situation, der internen Störung, also auch der Ängste. Wie wir dies als Praxisinhaber aktuell für das Führen und bei Konflikten im Team nutzen können, haben ein paar meiner Klienten gemeinsam mit mir ausprobiert.

Nicht jeder hat die gleiche Angst. Viele Konflikte entstehen gerade dadurch, dass die eigene Angst wichtiger und bedrohlicher erscheint als die Ängste des Gegenübers. Lassen wir den Ängsten die Möglichkeit der Führung, sind wir ihnen hilflos ausgeliefert und handeln oft sicher nicht so besonnen und klug, wie wir es eigentlich könnten.


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Es gibt unterschiedliche Ängste

Viele Sorgen meiner Klienten bezogen sich auf die geringe Möglichkeit, längerfristig zu planen. „Man weiß nie, was als nächstes kommt“, war eine gängige Antwort. Ebenso natürlich die wirtschaftlichen Sorgen, wenn man betrachtet, wie viele Behandlungen ausfallen, selbst wenn wir sehr gut planen und strukturieren. Eine leitende Logopädin in einer Praxis aus Bonn berichtet, dass es immer wieder vorkommt, dass Eltern vormittags den Termin des Kindes am Nachmittag absagen müssen, da es in der Klasse einen positiv Getesteten gegeben habe, weshalb sie nun in Quarantäne sind. Solche Situationen, erst recht, wenn sie sich regelmäßig unregelmäßig wiederholen oder häufen, machen Ängste, finanzielle Ängste! Andere berichteten davon, dass Sie sich sorgen, alle Hygieneregeln einzuhalten und trotzdem einer Ansteckungsgefahr ausgesetzt zu sein. Natürlich bezieht sich dies auch auf die Mitarbeiter, Patienten und die eigenen Angehörigen, die womöglich ebenfalls einer Risikogruppe angehören. Oft besteht auch die Sorge, dass sich ein Mitarbeiter nicht ausreichend an die Vorgaben hält und so die Ansteckungsgefahr mit allen möglichen Konsequenzen erhöht.

Nehmen Sie die aktuelle Situation bewusst wahr – auch die Angst, die Sie spüren.

Zwischen diesen beiden Polen der Emotion Angst – der Angst vor Krankheit und der Existenzangst – ließen sich im Verlauf der Gespräche alle irgendwo einsortieren, je nachdem, welcher Faktor stärker ausgeprägt war. Was können wir nun tun?


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Schritt 1: wahrnehmen und skalieren

Ängste können unterschiedlich ausgeprägt sein. Sie kommen diesen sehr leicht auf die Spur, indem Sie sich Zeit nehmen, um aus dem wilden Aktionismus auszusteigen und sich selbst wahrnehmen und befragen. Was macht Ihnen Angst? Wo liegen Ihre Sorgen? Was spielt sich in Ihrem Kopfkino ab? Welche Horrorszenarien finden dort ihre Bühne? Welche Bilder haben dort die Führung übernommen? Sind es finanziell existenzielle Ängste? Wie skalieren Sie diese mit Werten zwischen 1 und 5? Sind es gesundheitliche Ängste geprägt von Ängsten vor Ansteckung, Beatmung, Leid? Und wie hoch bewerten Sie diese Ängste auf einer Skala von 1 bis 5? Vermutlich können Sie jetzt schon wahrnehmen, dass sich die zwei Werte unterscheiden. Beide haben ihre Berechtigung und zeigen zunächst einmal den Ist-Zustand.


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Schritt 2: Ruhe finden

Auch wenn es sich so anfühlen mag: Sie haben nicht die ganze Zeit die gleiche Angststärke. Wir laufen nicht täglich mit dauerhafter Ansteckungsangst der Stärke 4,7 herum. Ich gebe zu, dass es sich so anfühlen kann. Wie wir Therapeuten jedoch wissen, geschehen Emotionen in Wellen der Ausschüttung der Neurotransmitter. Wir müssen also etwas tun, um Angst zu haben. Wir müssen uns darüber Sorgen „machen“. Durch Bilder, Nachrichten zum jeweiligen Thema, durch Gespräche, die sich ausschließlich darum drehen, also durch Fokussierung sorgen wir dafür, die Angst auf einem möglichst hohen Level zu halten. In meiner Ausbildung nannte das der Professor für Psychiatrie „Sensationsjunkies“. Klingt hart, zeigt uns aber auf, was wir konkret tun können, um den Alltag in unseren Praxen wieder gesünder und konstruktiver zu führen.

Schaffen Sie kleine und kleinste Inseln der Ruhe und des Atmens für sich und Ihre Mitarbeiter. Wir müssen sowieso ständig lüften. Warum nicht einen kleinen Zettel an das Fenster hängen mit der Frage: „Was ist heute gut?“. Während des Lüftens, drei Minuten, dabei bewusst atmen. Warum nicht mal eine Teamsitzung in einen Spaziergang verwandeln? Mal ehrlich: Natürlich gibt es ständig wichtige Dinge zu besprechen, zu klären und zu organisieren. Jedoch wird es sicherlich allen guttun, einen kurzen gemeinsamen Spaziergang zu erleben. Einfach mal gemeinsam gehen, ohne zu sprechen. Die Zeit nutzen und darüber nachdenken, was alles gut funktioniert, was an genau Ihrem Team klasse ist. Nach dem Gang alles auf ein großes Papier schreiben und im Gemeinschaftsraum aufhängen. Tut gut! Ganz persönliche Inseln der Ruhe kann man auch schaffen, wenn man den Fernseher, das Internet und das Radio mal abschaltet …

Angst vor Ansteckung und Existenzangst sind derzeit die am häufigsten genannten Ängste.


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Angstkonflikte untereinander

Nehmen wir nun beispielsweise einen Konflikt zwischen zwei Ihrer Mitarbeiter, nennen wir sie Nina und Michael. Während bei Nina die Angst vor einem wirtschaftlichen Kollaps sehr stark ausgeprägt ist, ist es bei Michael die Angst vor Krankheit beziehungsweise Ansteckung. Hier sind Konflikte geradezu programmiert. Wenn bei Nina ein Heim seine Pforten für die Therapeuten schließt, wird sie die Situation bedrohlicher erleben als Michael. Dieser wird diese Maßnahme vermutlich eher begrüßen, soll sie doch Schutz vor Ansteckung bieten. Nina wird wahrscheinlich eher die vielen nun fehlenden Therapieeinheiten, den unterbrochenen Behandlungsverlauf, den Leerlauf in der Praxis und Kurzarbeit im Fokus haben.

Wer kann sagen, welche Angst „berechtigter“, „richtiger“ oder „wahrer“ ist? Weder Nina noch Michael könnten dies tatsächlich neutral bewerten, sprechen beide doch stets aus ihrer persönlichen Position der Angst heraus. Diese ist individuell vollkommen richtig und geprägt von bisherigen Erfahrungen, Selbstbild, Glaubenssätzen und Identität.


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Wie sieht die Lösung des Konflikts aus?

Bei Konflikten im Team, die sich um diese Themen herum entwickeln, ist es also zunächst einmal hilfreich anzuerkennen, dass der Mitarbeiter, die Kollegin, der Praktikant oder die Teamleiterin nicht per se im Unrecht ist, sondern dass sich deren Ängste vermutlich auf einer gänzlich anderen Skala abspielen als auf Ihrer eigenen. Das ist, wollen wir dem Ansatz des Leaderships und der Gleichwürdigkeit folgen, zunächst einmal vollkommen in Ordnung.

So kann es ein Schritt zur Lösung eines Konflikts sein, wenn wir genau dies als Führungskraft ansprechen. „Michael, für mich stellt es sich so dar, dass du über jeden Ausfall, der sich bei den Patienten ergibt, eigentlich froh bist, denn du suchst nicht aktiv nach einem Ausweichtermin oder einem Patienten, der die Lücke füllen könnte. Steht dahinter eine Angst vor Ansteckung und Krankheit? Hast du eine konkrete Idee, was wir verändern oder verbessern können?“

„Nina, ich bemerke, dass du sehr heftig darauf reagierst, wenn ein Patient absagt. Hast du Sorge vor finanziellen Einbußen oder Kurzarbeit? Wollen wir uns mal zusammensetzen und sehen, ob es für dich noch andere Möglichkeiten für zusätzliche Arbeitsstunden gibt?“

Natürlich verändern wir so nichts an der Situation selbst. Das Heim bleibt geschlossen, Patienten sagen ab, und auch die Angst des anderen können wir nicht nehmen. Das liegt nicht in unserem Einflussbereich. Jedoch können wir verändern, in welchem Zustand wir den Gegebenheiten begegnen.


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Social connecting und physical distancing statt social distancing

Social distancing ist mein persönliches Unwort des Jahres, denn es beschreibt das Falsche. Physical distancing ist das, was von uns verlangt wird. Gleichzeitig sollte gerade in unseren Berufen social connecting im Fokus stehen, denn nur sozial verbunden können wir den Herausforderungen begegnen.

Zu sehen und wahrzunehmen, was genau meine Ängste sind, die Verantwortung dafür zu übernehmen und sich ihnen nicht ausgeliefert zu fühlen und kopflos zu agieren, ist zurzeit erste Führungspflicht. Nehmen wir dann auch noch all unsere Empathie und Kompetenz zusammen, um die Ängste der anderen zu sehen, auch wenn sie nicht die eigenen sind, können wir uns gegenseitig tatsächlich unterstützen.Schließlich sind Ängste nicht nur evolutiv wichtig, sondern erst die Ängste schaffen die Gelegenheit für Mut. In diesem Sinne: Seien Sie herzlich und mutig gegrüßt.


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Publication History

Article published online:
23 February 2021

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Georg Thieme Verlag KG
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