ergopraxis 2021; 14(01): 40-41
DOI: 10.1055/a-1300-5789
Ergotherapie

Ein Interview für den Schulalltag – Im Test: Sag mir, was dir wichtig ist

Jessika Gräfe
 

Manchen Kindern und Jugendlichen fällt es in der Schule schwer, Fuß zu fassen. In ihrer Arbeit als Schulbegleiterin testete Jessika Gräfe das Interview „Sag mir, was dir wichtig ist“, das speziell für Schulkinder mit AD(H)S und im Autismus-Spektrum entwickelt wurde. Ihrer Meinung nach ist das Instrument geeignet, um das Thema Schule umfassend zu beleuchten.


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ABB. 1 Mithilfe verschiedener Checkkarten schätzt ein Kind bestimmte Situationen in der Schule ein, ob z. B. ein Problem vorliegt bzw. wie wichtig ihm etwas ist. Abb.: Therapädia A. Böhme

Das Interview „Sag mir, was dir wichtig ist!“ dient der Ressourcenerfassung von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigung im Schulalltag. Ziel ist es, die Fähigkeiten, Interessen und Möglichkeiten des Kindes in seinem direkten Alltag in der Schule zu erfassen und daraus Ziele abzuleiten, die dann im Rahmen der Schulbegleitung bzw. der Ergotherapie bearbeitet werden.

Entwickelt hat das halbstrukturierte Interview die Ergotherapeutin Anita Böhme. Sie gründete auch den Jugendhilfeträger Therapädia, organisiert Schulbegleitung und bietet Fortbildungen für Therapeuten, Lehrer und Erzieher an. 2020 veröffentlichte sie das Arbeitsheft „Sag mir, was dir wichtig ist!“ ([ABB. 2]), das sich an Schulkinder mit AD(H)S oder im Autismus-Spektrum richtet.

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ABB. 2 Arbeitsheft inklusive Interview und Checkkarten Abb.: Therapädia A. Böhme

Kenntnis des Schulalltags ist Voraussetzung

Das Interview führte ich mit einem 14-jährigen Klienten durch, den ich im Schulalltag als Schulbegleitung unterstütze. Ich bin Ergotherapeutin und arbeite im Bereich Pädiatrie in einer ergotherapeutischen Praxis.

Das Arbeitsheft gibt einen Überblick über die Rechtsgrundlagen und Aufgabenbereiche der Schulbegleitung. Diese oder ein regelmäßiger Einblick in den Schulalltag des Kindes (z. B. durch Eltern- Lehrer-Gespräche, „Beratung zur Integration ...“) ist Voraussetzung für die Durchführung. Das Manual enthält weiterhin einen Leitfaden zum Interview sowie Auswertungsbögen und sogenannte Checkkarten ([ABB. 1]).


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Fünf Bereiche und mehr als 100 Fragen

Das Interview ist in fünf Bereiche eingeteilt. Für jeden Bereich gibt es eine bestimmte Anzahl an Fragen und je einen Auswertungsbogen:

  • Rahmenbedingungen/Unterricht (18 Fragen)

  • Routinedurchführung (18 Fragen)

  • Arbeitsverhalten (24 Fragen)

  • Sozialverhalten/emotional-soziale Fähigkeiten (27 Fragen)

  • Hausaufgaben/Kognition (16 Fragen)

Fragen im Bereich Rahmenbedingungen/Unterricht sind zum Beispiel: „Geben dir Lehrer Tipps, wenn du Hilfe brauchst?“ und „Wie ist für dich die Lautstärke in der Klasse?“. Fragen beim Arbeitsverhalten sind zum Beispiel: „Weißt du, was du tun kannst, wenn du Probleme hast?“ und „Macht dir Mitarbeiten im Unterricht Spaß?“.

Das Kind beantwortet die Fragen mithilfe der Checkkarten ([ABB. 1]). Die Checkkarten legt man dem Kind vor und trägt seine Antworten in die Auswertungsbögen ein. Die Karten enthalten die jeweilige Frage und eine Reihe von Symbolen: Daumen und Sterne. Anhand des Daumens schätzt das Kind selbst in vier Wertungsstufen ein, ob und wie stark in bestimmten Bereichen ein Problem ausgeprägt ist:

  • großer Daumen hoch = das Problem ist nicht vorhanden

  • kleiner Daumen hoch = das Problem ist leicht ausgeprägt

  • kleiner Daumen runter = das Problem ist mäßig ausgeprägt

  • großer Daumen runter = das Problem ist voll ausgeprägt

Geeignet für Kinder und Jugendliche mit Betätigungsschwierigkeiten in der Schule.

Den Sternen wird die Wichtigkeit zugeordnet. Das Kind schätzt ebenfalls in vier Wertungsstufen ein, wie wichtig ihm etwas ist:

  • großer grüner Stern = sehr wichtig

  • mittelgroßer gelber Stern = wichtig

  • kleiner orangenfarber Stern = nicht so wichtig, aber ich würde es gerne können

  • sehr kleiner roter Stern = gar nicht wichtig


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Ausreichend Zeit einplanen

Das Manual gibt keinen speziellen Ort vor, um das Interview durchzuführen. Durch die Erfahrungen meiner eigenen Schulbegleitung weiß ich, dass an einem Schultag direkt meist nur wenig Zeit besteht, um mit dem Kind Betätigungen oder Strategien in einem geschützten Raum besprechen zu können. Daher empfehle ich, sich bewusst Zeit dafür einzuplanen.

Ich benötigte vor Beginn des ersten Interviews einiges an Vorbereitungszeit, um die Auswertungsbögen zu kopieren, die Karten aus dem Heft heraus- und voneinander abzutrennen. Da das Papier der Kärtchen sehr glatt ist und die Karten leicht auf dem Tisch haften bleiben, habe ich sie zusätzlich laminiert. Dadurch sind sie griffiger und können spielerisch eingesetzt werden.


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Flexibel handhabbar

Die insgesamt 103 Fragen sind zahlreich, außerdem wiederholen sich einige Fragen (z. B. „Fühlst du dich in der Klasse wohl?“, „Lässt du dich schnell ablenken?“). Daher ist es sinnvoll, eine Vorauswahl zu treffen. Der Interviewer kann Fragen weglassen, die Abfolge der Fragen verändern, sie spielerisch, zum Beispiel als Memory beantworten oder sich nur auf einen Bereich konzentrieren. Das Interview lässt sich auch gut über mehrere Tage verteilen. Im Arbeitsheft enthalten ist zudem eine Zeigeleiste, die alle Symbole nochmals abbildet und den Kindern das Beantworten der Fragen erleichtern soll.

Ich benötigte für das Interview mit meinem Klienten zwei Einheiten à 45 min. Zunächst erwiesen sich die vier Wertungsstufen der Antwortmöglichkeiten als schwer verständlich. Ich kann mir vorstellen, dass vor allem jüngere Kinder mit diesem System stärker auf die Unterstützung der Therapeutin angewiesen sind. Ich würde mir daher eine einfachere Abstufung mit maximal drei Antwortmöglichkeiten oder eine Skala wünschen. Mein Klient hatte sich nach einigen Karten dann aber hineingefunden und konnte die Fragen entsprechend beantworten und einschätzen.

Das Ziel, Ressourcen und Fähigkeiten herauszuarbeiten, ist uns gut gelungen. Gemeinsam stellten wir fest, dass mein Klient schon sehr viele Dinge super macht: Er erkennt z. B. Probleme und kann zunehmend selbstständig um Hilfe bitten. Es hat sich gezeigt, dass seine Schwierigkeiten fachbezogen sind, nämlich auf Fächer mit überwiegend mündlichem Unterricht bzw. Gruppenarbeiten oder Sport (Interaktion mit anderen). Mein Klient und ich haben uns für Sport auf ein Time-out-Zeichen geeinigt, das ihm signalisiert, dass er ein zu hohes Stresslevel hat und aus der Situation herausgehen soll, um einen Regulationstrick anzuwenden. Für die mündlichen Fächer arbeiten wir an Strategien für das Mitschreiben und bei Gruppenarbeiten an deren Strukturierung.


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Eine gute Checkliste für den Schulbereich

Meiner Meinung nach ist dieses Interview nicht nur für Kinder mit AD(H)S oder im Autismus-Spektrum geeignet, sondern für alle Kinder und Jugendlichen mit Betätigungsschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten in der Schule. Für sehr junge Schulkinder (Klasse 1 bis 3) halte ich dieses Interview nicht bzw. nur bedingt geeignet. Für ältere Kinder aber stellt das Arbeitsheft mit seinen umfangreichen Fragen eine gute „Checkliste“ dar, um den Bereich Schule umfassend zu beleuchten, sollte dies ein Thema sein. Ich kann es Schulbegleitern und Therapeutinnen weiterempfehlen. Auch der Preis von 24,99 Euro ist für mich in Ordnung.


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Publication History

Article published online:
04 January 2021

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ABB. 1 Mithilfe verschiedener Checkkarten schätzt ein Kind bestimmte Situationen in der Schule ein, ob z. B. ein Problem vorliegt bzw. wie wichtig ihm etwas ist. Abb.: Therapädia A. Böhme
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ABB. 2 Arbeitsheft inklusive Interview und Checkkarten Abb.: Therapädia A. Böhme