ergopraxis 2021; 14(01): 36-39
DOI: 10.1055/a-1300-5806
Ergotherapie

Therapie von der Klinik bis nach Hause – Telemedizinisch gestützte Tagesklinik

Victoria Witt
,
Ann-Kristin Hoffmann
,
Jule Ecke
,
Anja Kirchner
,
Björn Hauptmann
 

Menschen mit Parkinson eine spezialisierte und effektive Therapie anbieten – nicht immer eine leichte Aufgabe. Gründe gibt es neben dem Therapeutenmangel genügend. Eine Parkinson-Fachklinik in Schleswig-Holstein hat sich dieses Ziel auf die Fahne geschrieben und leistet mit dem Projekt TIZIAN (telemedizinisch gestützte Tagesklinik) ganze Arbeit.


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Dr. med. Victoria Witt

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MSc in Public Health, ist Fachärztin für Neurologie an der Fachklinik für Parkinson und Bewegungsstörungen der Segeberger Kliniken und Lehrbeauftragte an der MSH – Medical School Hamburg im Bereich Rehabilitationssysteme.

Ann-Kristin Hoffmann

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BSc, sind Physiotherapeutinnen an der Fachklinik für Parkinson und Bewegungsstörungen der Segeberger Kliniken.

Jule Ecke

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BSc, sind Physiotherapeutinnen an der Fachklinik für Parkinson und Bewegungsstörungen der Segeberger Kliniken.

Anja Kirchner

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ist dort Diplom-Ergotherapeutin.

Prof. Björn Hauptmann

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ist Chefarzt der Fachklinik und Leiter des Departments Performance, Neuroscience, Therapy and Health an der MSH – Medical School Hamburg. Projekt TIZIAN wird aus Mitteln des Versorgungssicherungsfonds des Landes Schleswig-Holstein gefördert.

Während er im digitalen Wartezimmer auf seinen Termin wartet, nimmt Herr Müller[*] noch einmal entspannt einen Schluck Kaffee. Im heimischen Wohnzimmer hat er gerade auf seinem Computer den Link angeklickt, den ihm seine Ergotherapeutin geschickt hat. Vor einem Jahr bekam Herr Müller Parkinson diagnostiziert. Seine Beweglichkeit wurde schon länger schlechter, trotzdem war das ein Schock. Neben vielen anderen Ängsten beschäftigte ihn sehr, wie und wo er in der Nähe seines Dorfes eine angemessene Therapie erhalten könne. Bei einer stationären Behandlung erfuhr er dann von einem telemedizinisch gestützten Angebot der Fachklinik für Parkinson und Bewegungsstörungen der Segeberger Kliniken.

Besonders Patienten mit hochfrequentem Therapiebedarf profitieren von telemedizinischen Angeboten.

Punkt elf Uhr loggt sich die Therapeutin wie vereinbart ein. Die beiden führen jetzt ein Videotelefonat und starten mit der telemedizinischen Therapieeinheit: „Wie sind Sie mit den Übungen auf dem Tablet zurechtgekommen, die ich Ihnen während des kurzen Klinikaufenthaltes zusammengestellt habe?“, fragt die Therapeutin. Herr Müller erzählt, dass ihm erste, leichte Übungen am Boden zunehmend besser gelingen – er fühlt sich weniger steif seit der letzten Medikamentenumstellung und kommt aus dem Liegen etwas besser wieder hoch. Da würde er gerne weitere Fortschritte erzielen, um wieder an den Badesee gehen zu können und selbst vom Boden aufzustehen. Seine Therapeutin nimmt die Anregung auf, verstellt ihre Kamera in den entsprechenden Winkel und zeigt ihm, wie er zwei neue Übungen in den Alltag einbaut. Er soll das Aufstehen vom Boden mithilfe eines Stuhls üben und seine Oberschenkelmuskulatur mit Kniebeugen kräftigen. Herr Müller soll die Übung gleich selbst einmal vor der Kamera durchführen, sodass ihm die Therapeutin unterstützendes Feedback geben kann. Im Anschluss an die Einheit hat Herr Müller einen weiteren Termin, diesmal zur telemedizinischen Visite mit seiner betreuenden Ärztin, die werktäglich stattfindet.

Therapiezeit hat sich erhöht

Mit der Lockerung des Fernbehandlungsverbotes durch den Ärztetag 2018 [1] standen in Deutschland die Vorzeichen für einen Ausbau der Telemedizin günstig. Bedingt durch die COVID-19-Pandemie wurde diese Art von Therapie zügig ausgebaut. Das betraf auch Heilmittelerbringer wie die Ergotherapie, sodass die gesetzlichen Krankenkassen vom 18. März bis zum 30. Juni 2020 die Möglichkeit zur Videotherapie erlaubten [2] (ERGOPRAXIS 7-8/20, S. 37). Seit 2. November 2020 ist die Videobehandlung erneut für einen begrenzten Zeitraum möglich. Für eine Branche, die klassischerweise direkt mit Patienten arbeitet, ergeben sich daraus in kurzer Zeit massive Änderungen.

An genau diese Entwicklungen knüpfen die Segeberger Kliniken an: TIZIAN, das Konzept für die telemedizinisch gestützte Tagesklinik für Menschen mit Parkinson und Bewegungsstörungen, stand bereits vor der Pandemie in den Startlöchern. Das Ziel war es, Patienten mit Parkinson in Schleswig-Holstein flexibel, weitgehend verfügbar, gleichzeitig jedoch hoch spezialisiert zu versorgen. Auf 100.000 Personen kommen immerhin 100 bis 200 Erkrankte, in der Altersgruppe der 75- bis 79-Jährigen sind es sogar 1.800 [3]. Weil sich Beweglichkeit und Lebensqualität der Patienten im Laufe der Krankheit zunehmend verschlechtern, ist eine langfristige Betreuung notwendig. Diesen Bedarf erkannte auch die Landesregierung und förderte TIZIAN aus dem Versorgungssicherungsfonds des Landes.

Das Konzept umfasst medizinische Beratung, medikamentöse Anpassungen inklusive der tiefen Hirnstimulation und Medikamentenpumpen sowie nichtmedikamentöse Therapien wie Physio-, Ergo- und Sporttherapie, Logopädie und Neuropsychologie. Abhängig von den Einschränkungen der Patienten werden die Therapien individuell verordnet. Die Dauer der telemedizinisch gestützten Tagesklinik beträgt rund sechs Wochen – deutlich länger als die stationär durchgeführte und maximal dreiwöchige Parkinson-Komplexbehandlung.

In der Klinik werden verschiedene Module wie Mobilität, Kommunikation und Tonus eingesetzt, die mit einem straffen Programm auf die wichtigsten Symptome abzielen. Dabei wechseln sich kurze Aufenthalte in der Klinik („inhouse“) mit Phasen der telemedizinischen Betreuung („at home“) ab. Zum Einsatz kommen während der Klinikaufenthalte geräte- und robotikgestützte Therapien wie das C-Mill, ein Laufbandtraining, das mittels Augmented und Virtual Reality Herausforderungen simuliert, medizinische Trainingstherapie und Exergames ([ABB. 1], S. 38). In Zukunft sollen zur Verlaufsbeobachtung und Dokumentation auch Sensoren eingesetzt werden.

Tablets,
Apps und Co. werden in der Therapie in den nächsten Jahren eine größere Rolle spielen.

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ABB. 1 In der Klinik kommen auch Exergames (= „Exercise“ & „Videogames“) zum Einsatz. Abb.: V. Witt (Symbolbild)

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Kontinuität in der Therapie ist gewährleistet

TIZIAN bringt für alle Beteiligten Chancen, aber auch Herausforderungen mit sich. Vorteil der Inhouse-Termine ist, dass man die Patienten besser einschätzen und effektiver betreuen kann. Zudem bleibt bei allen Vorteilen der Digitalisierung die Patienten-Therapeuten-Beziehung ein essenzieller Motivations- und damit Erfolgsfaktor für die Therapie [4].

Allerdings loben die Patienten auch, dass durch dieselben Therapeuten „inhouse“ und „at home“ eine kontinuierliche Behandlung möglich ist. Sie schätzen, dass sie das häusliche Umfeld nicht lange verlassen müssen, trotzdem aber in vollem Umfang von einer Therapie bei Spezialisten profitieren. Hier können sie das Erlernte umsetzen und die bekannten Therapeuten weiter ansprechen. Während der Teletherapie können Therapeuten gezielt Feedback zu Übungen geben, zu Aktivität ermutigen und sie optimieren bzw. speziell bei Patienten mit Parkinson zu größeren Bewegungen animieren. Darüber hinaus ist eine kontrollierte Medikamentenanpassung im häuslichen Umfeld nachhaltiger als in einem stationären Kliniksetting.


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Assessments bestimmen die Tauglichkeit für TIZIAN

Automatisch ergeben sich Zugangsvoraussetzungen für die Tagesklinik, was den Patienten gegenüber offen kommuniziert wird. Wenn beispielsweise Therapeuten vor dem Bildschirm hilflos mit ansehen müssten, wie der Patient während der Teletherapie wiederholt stürzt, wäre das ein nicht akzeptables Risiko. Mittels Assessments wie der Berg-Balance-Skala und kognitiven Screenings klären Therapeuten daher vorab Ein- und Ausschlusskriterien. Geeignete Patienten können auch über das Programm hinaus profitieren. Die Therapeuten vermitteln primär Übungen, die die Patienten auch nach Abschluss der Therapiezeit zu Hause umsetzen können, etwa das synchrone „Wischen“ mit zwei Tüchern an einer Wand zur Dehnung und Aufrichtung. Auch Luftballons, Therabänder und Nordic-Walking-Stöcke kommen zum Einsatz. Übergeordnetes Ziel dieser niedrigschwelligen Anforderungen an Trainingsgeräte ist es, dass die Patienten nach tagesklinischer Behandlung motiviert sind, ein Eigentrainingsprogramm regelmäßig fortzuführen. Technisches Equipment wie ein Tablet können sich die Patienten in der Klinik ausleihen, lediglich ein WLAN-Anschluss zu Hause ist Voraussetzung.

Einige Übungen hat Ann-Kristin Hoffmann, Physiotherapeutin an der Segeberger Klinik, auch in kurzen Videosequenzen für das App-basierte Trainingsprogramm ParkProTrain dokumentiert und archiviert [5]. Dieses Programm wurde zusammen mit der Uni Schleswig-Holstein entwickelt und wird zur Zeit wissenschaftlich evaluiert. So kann die Therapeutin den Teilnehmern der Tagesklinik aus weit über 100 Übungen ein passendes Programm für die häusliche Anwendung zusammenstellen. Je nach Bedarf wird dann während der Klinikphasen „inhouse“ der Schweregrad für die nächste Phase „at home“ angepasst. Nach bisherigen Erfahrungen können die Patienten die Übungen aus ParkProTrain gut umsetzen. Einzelne Bewegungssequenzen werden per Video anschaulich vermittelt. Klassische Anleitungen auf Papier drohen mitunter in der Schublade zu verschwinden. Zudem motiviert die digitale „Kontrollfunktion“, da die Therapeuten einsehen können, welche Übungseinheiten die Patienten absolviert haben, und gegebenenfalls nachhaken, ob es Probleme bei der Umsetzung gibt. Letztendlich soll ein Eigentraining auch dazu dienen, den Patienten aktiv in seine Therapie einzubinden [6]. Apps wie ParkProTrain, die bisher nur in der Segeberger Klinik genutzt wird, motivieren Patienten dazu, Verantwortung im Behandlungsprozess zu übernehmen und ihn aktiv mitzugestalten.


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Wartezeiten können überbrückt werden

Zukünftig ändern sich durch das digitale Angebot möglicherweise auch die Therapieschwerpunkte: Während Therapeuten die aktivierenden Teilbereiche im Verlauf der Behandlung weiterhin individuell, aber eher über die Trainings-App steuern, könnten im direkten Kontakt vor allem Hands-on-Techniken oder die Entwicklung individueller Strategien zum Beispiel zur Bewegungsinitiierung zum Einsatz kommen. Hinsichtlich des hochfrequenten Therapiebedarfs von Patienten mit Parkinson und der hohen ambulanten Auslastung mit mitunter mehrwöchigen Wartezeiten auf Termine [7], [8] kann dies die Zeit überbrücken.


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Herausforderungen bei der Umsetzung

Technologische Fortschritte und eine damit verbesserte Infrastruktur wie die Verfügbarkeit von Endgeräten schafften in den vergangenen Jahren die Grundvoraussetzung für Teletherapie [9]. Auf der anderen Seite gibt es in diesem Bereich noch Hürden für die Zielgruppe, gerade für die älteren Generationen. Smartphone oder Laptop sind nicht immer vorhanden, und selbst wenn sie verfügbar sind, scheitert gegebenenfalls die Konnektivität an nicht vorhandenem WLAN. Auch das sind Erfahrungen, die Ärzte und Therapeuten an den Segeberger Kliniken machen. Gleichzeitig besteht der Eindruck, dass Patienten bereit sind, sich mit der Technik zugunsten der optimalen Behandlung auseinanderzusetzen.

Oft sind Patienten bereit, sich zugunsten der optimalen Behandlung mit der Technik auseinanderzusetzen.

Herausforderungen ergeben sich auch intern beim Aufbau der telemedizinischen Infrastruktur: Für die DSGVO-zertifizierte Kommunikationssoftware gibt es mittlerweile einen immer größer werdenden Markt, der es erschwert, das ideale Preis-Leistungs-Verhältnis abzuwägen und alle Beteiligten adäquat zu schulen. Nach der Ausstattung von Computern mit entsprechender Kamera und Software stellt sich im Weiteren die Frage zu Terminierungen der Angebote, Rückzugsorten für die Therapeuten, um die telemedizinische Therapie durchzuführen, und einem Notfallprozedere, falls dem Patienten hinter der Kamera etwas zustößt.

Steht die Infrastruktur, zeigt sich, dass nicht nur Patienten, sondern auch Mitarbeiter das flexible Angebot schätzen [10]. Durch die neuen digitalen Wege ergeben sich attraktive Möglichkeiten, qualifizierte Mitarbeiter etwa nach Elternzeit früher in den Beruf zurückzuholen, da sich Arbeit und Beruf besser miteinander vereinbaren lassen. Hinsichtlich der Berufsperspektiven stellt sich auch die Frage, ob telemedizinische Therapie Therapeuten mit muskuloskelettalen Beschwerden von Nutzen sein könnte.


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Eine Chance für alle Beteiligten

Der Anspruch als Klinik ist es, die multiprofessionelle Expertise möglichst vielen Patienten zugutekommen zu lassen. Derzeit spricht TIZIAN vor allem Patienten an, die einige Voraussetzungen an Mobilität und Kognition erfüllen. Es bleibt zu überlegen, wie man auch für immobile bzw. stark pflegebedürftige Patienten, gerade im ländlichen Raum, neue Angebote schaffen kann. Durch die Verbesserung der Technik und Innovationen verändert sich die Versorgungslandschaft kontinuierlich. Ein Beispiel dafür sind die Sensoren, mit denen die (Minder-)Beweglichkeit bei Patienten mit Parkinson dokumentiert werden kann: Während das Therapieteam der Klinik neulich noch darüber diskutierte, welche Schwierigkeiten mit Sensoren am Fußgelenk bestehen (Reibung, Artefakte etc.), sind bereits Sensoren in Entwicklung [11], die in ganze Kleidungsstücke eingebaut werden. Eine eben noch bestehende Problematik oder kaum zu bewältigend erscheinende Herausforderung wie die Therapie immobiler Patienten aus der Ferne könnte sich durch technische Fortschritte daher zukünftig stark verändern oder sogar selbst überholen.

Was bleibt, ist die persönliche Betreuung, die auch zukünftig nicht vollständig substituierbar sein wird, zumal dies weder von Patienten noch von Ärzten und Therapeuten gewünscht ist. In den nächsten Jahren kann sich jedoch die digitale Therapie als Zusatz zur ambulanten etablieren. Der Beruf wird sich aller Voraussicht nach verändern, und für die Mitgestaltung der Digitalisierung öffnen sich aktuell, nicht zuletzt vor dem Hintergrund von COVID-19, ganz neue Möglichkeiten [12] – es gilt hier gerade aus den therapeutischen Berufen selbst heraus die Weichen mit zu stellen.

Für Herrn Müller eröffnen die Parkinson-spezifische Beratung und Betreuung in jedem Fall neue Perspektiven. Er kann seine unmittelbaren Einschränkungen gezielt beüben, viel über seine Erkrankung lernen und perspektivisch einen Umgang damit finden. Die Therapeutin kann jederzeit auf seine Bedürfnisse abgestimmte Übungen auswählen und Behandlungsschwerpunkte ändern. So geht er auch gerne wieder zum Schwimmen.

Victoria Witt, Ann-Kristin Hoffmann, Jule Ecke, Anja Kirchner und Björn Hauptmann


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1 *Name von der Redaktion geändert.



Publication History

Article published online:
04 January 2021

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Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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ABB. 1 In der Klinik kommen auch Exergames (= „Exercise“ & „Videogames“) zum Einsatz. Abb.: V. Witt (Symbolbild)