Herr Prof. Wacker, wie sind Sie zum Experten für dieses spezielle Thema geworden?
Prof. Dr. Frank Wacker: Seit ich in der Angiografie arbeiten durfte, hat mich das Thema interessiert. Ich
denke, dass alle in der Interventionellen Radiologie tätigen Expertinnen und Experten
für Gefäßvarianten sind. Das zeigt ja nicht zuletzt auch die tolle App von Frau Dr.
Franke, die die Notwendigkeit gesehen hat, die Information nahe am Patienten und der
Patientin parat zu haben. Durch die immer besseren Möglichkeiten der CTA und MRA ist
das Thema jedoch auch, über die Interventionelle Radiologie und die Chirurgie hinaus,
für die Diagnostik relevant.
Prof. Dr. Frank Wacker
Was gab den Ausschlag bzw. wann hatten Sie die Idee eine Schlüsselreferenz für arterielle
Gefäßvarianten zu schreiben?
Wacker: Während meiner Weiterbildung in der Radiologie des Klinikum Steglitz der FU Berlin
habe ich das Buch von Lippert und Pabst sehr häufig genutzt. Es hat mir oft geholfen,
zu verstehen, welche anatomische Variation ich gerade angiografiert habe. Nach meiner
Berufung an die Medizinische Hochschule Hannover habe ich die beiden Anatomen, beide
MHH Alumni, dann persönlich kennen gelernt. Mit Hilfe vieler Mitarbeitender der Radiologie
und Neuroradiologie der MHH entstand dann die Neuauflage ihres Buches, angereichert
mit radiologischen Abbildungen. Ich nutze das Buch weiterhin sehr häufig, wenn es
um die i. a.-Therapie von Lebertumoren geht und wir zum Beispiel die Aa. gastricae
suchen. Natürlich haben wir mit dem C-Arm-CT inzwischen aber auch hervorragende Möglichkeiten,
in der Angiografie Gefäße und Parenchym dreidimensional in hoher Auflösung darzustellen
und so Komplikationen zu vermeiden.
Frau Dr. Franke, wie sind Sie auf die Idee gekommen, Gefäßvarianten als Nachschlage-App
zusammenzutragen? Was war Ihre Motivation?
Dr. Mareike Franke: Auch ich habe mich schon sehr früh für Gefäßvarianten interessiert. Bereits im Studium
habe ich gerne das Kleingedruckte in den Anatomiebüchern über die Normabweichungen
gelesen. Natürlich kenne ich die neu herausgebrachte hervorragende Schlüsselreferenz
von den Herren Professoren Wacker, Lippert und Pabst. Das Exemplar in unserer Abteilung
ist jedoch immer verschwunden, wenn man mal etwas nachschlagen will. Irgendwer hat
es sich immer „ausgeliehen“, da man das Buch insbesondere beim Befunden super als
Nachschlagewerk nutzen kann. Somit habe ich mir gedacht, dass es doch praktisch wäre,
ein Nachschlagewerk auf dem Handy als App ganz unkompliziert immer zur Verfügung zu
haben. Und da ich 2019 schon eine App über Abkürzungen und Akronyme in der Interventionellen
Radiologie herausgebracht habe, dachte ich mir, das mache ich jetzt!
Dr. Mareike Franke
Es gibt in der Literatur je nach Quelle ganz unterschiedliche Angaben bezüglich der
Inzidenz von Gefäßvarianten. Herr Prof. Wacker, wie sind Sie beim Verfassen des Buches
also vorgegangen?
Wacker: Die Angaben der Häufigkeiten der arteriellen Varianten sind in der Tat eine große
Herausforderung. In der Literatur existieren Ergebnisse anatomischer Dissektionen,
aber auch Erkenntnisse aus angiografischen Untersuchungen ex vivo und in vivo mit
unterschiedlichen Techniken, bei Kranken und Gesunden, aus unterschiedlichen Regionen
der Welt. Dies verursacht eine Verzerrung der Stichproben. Wir haben versucht, vorwiegend
die Zahlen aus größeren Studien zusammenzufassen, aber für einige Gefäßregionen liegen
nur Fallberichte über seltene Varianten vor.
Frau Dr. Franke, wie sind Sie bei der Erstellung der App vorgegangen?
Franke: Als erstes musste ich mir natürlich überlegen, wie ich die Gefäßvarianten darstellen
wollte. Da ich nicht nur Gefäßvarianten in die App aufnehmen wollte, sondern auch
Abbildungen von Arealen, die in den gängigen Anatomieatlanten nicht so gut beleuchtet
werden – als Beispiel zu nennen sind hier die kleinen Kollateralen zwischen dem Stromgebiet
der Arteria carotis interna und externa auf Höhe der Schädelbasis –, habe ich mir
überlegt, dass ich die Abbildungen selber zeichnen möchte, um auch solche Regionen
in möglichst einfacher Weise begreifbar zu machen. Wie auch in der Schlüsselreferenz
habe ich Häufigkeitsangaben zu den Varianten gemacht – soweit ich sie denn in der
Literatur gefunden habe – und habe mich hier an den Studien mit größeren Fallzahlen
oder an den Klassifikationen orientiert, die sich in der radiologischen Community
durchgesetzt haben. Letztendlich bin ich die Literatur durchgegangen und habe mir
– wenn möglich aus Primärquellen – die Informationen zusammengesucht und dann die
entsprechenden Zeichnungen angefertigt. Diese habe ich dann zusammen mit den entsprechenden
Erklärungen in eine Datenbank eingefügt, die der App zugrunde liegt. Neben arteriellen
Varianten sind übrigens auch Varianten von Venen, Gallengängen oder Pankreasgängen
in der App nachzuschlagen.
Frau Dr. Franke, wird die App laufend aktualisiert oder erweitert und falls ja: Was
ist für die nächsten Updates geplant?
Franke: Die App soll in regelmäßigen Abständen aktualisiert werden, denn man findet ja immer
wieder neue Gefäßvarianten, die man noch mit in die Datenbank aufnehmen kann. Zudem
funktioniert der Suchalgorithmus in meiner App aktuell so, dass man den Namen des
Gefäßes auf Latein oder Englisch eingeben kann und dann zu den entsprechenden Abbildungen
über Varianten oder die Normalanatomie kommt. Das heißt, man muss schon wissen, was
man sucht. In einem zukünftigen Update möchte ich gerne diesen Suchalgorithmus erweitern,
sodass man in der App die verschiedenen anatomischen Regionen und Gefäßtypen nach
Variationen durchstöbern kann. Selbstverständlich bin ich auch immer offen für Verbesserungsvorschläge
von Kolleginnen und Kollegen und würde mich freuen, wenn ich Rückmeldung zur App bekommen
würde – eine E-Mail-Adresse ist im Impressum der App angegeben. Darüber hinaus bin
ich auch offen für weitere Projekte zu Gefäßvarianten.
Herr Prof. Wacker, wird es eine zweite Auflage Ihres Buches geben oder was sind Ihre
nächsten Projekte auf diesem Gebiet?
Wacker: Aktuell ist das noch nicht geplant. Großartig wäre es natürlich, wenn Kolleginnen
und Kollegen in der DeGIR, angeregt durch die Nutzung der App oder durch die Lektüre
des Atlas‘, uns CTA-, MRA- oder DSA-Bilder von anatomischen Varianten zusenden. Dies
würde uns sicher motivieren, an eine erneute Auflage des Buches zu denken, denn nicht
von allen Varianten haben wir radiologische Bilder gefunden. Gerne binden wir auch
Expertinnen und Experten für bestimmte Gefäßterritorien mit entsprechendem Bildmaterial
ein. Wir freuen uns zudem immer über die Zusendung von neuen Publikationen zu arteriellen
Varianten. Ihre Frage zur Häufigkeit nochmal aufgreifend sind wir natürlich auch sehr
gerne bereit, Diskussionen über Häufigkeiten und klinische Relevanz von Varianten
zu führen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Dr. Kerstin Westphalen, DeGIR-Lenkungsgruppe Öffentlichkeitsarbeit.